Jacques
Fromental Halévy hat nicht nur „La Juive“ (1835) geschrieben. Autor von
zwei Dutzend Opern, einschließlich mehrerer „Opéra comique“, hat er u.a.
1841 „La Reine de Chypre“ mit großem Erfolg produziert und zwei Jahre
später eine historische Oper „Charles VI“. Das Libretto ist ein Versdrama
der Brüder Germain und Casimir Delavigne, damals die patriotischen Staatsdichter.
Die ungewöhnlich lange Oper (mit Ballett ca. sechs Stunden) wurde am 15.
März 1843 in einer unglaublich luxuriösen Inszenierung in Starbesetzung
uraufgeführt: mit Stoltz/Odette, Dorus-Gras/Isabeau, Barroilhet/Charles
VI, Levasseur/Raymond und Duprez/Dauphin. Letzterer fand die Rolle des
Dauphin „nicht brillant und angemessen genug“ und weigerte sich bei der
vierten Vorstellung zu singen. Die Pariser Oper verklagte ihn, der große
Tenor wurde verurteilt, legte Berufung ein, wurde aber dann vom Gericht
verdonnert, den Dauphin zu singen!
Die
Kritik war ziemlich geteilt, von „un roast-beef monstre“ („La Revue Musicale“)
bis „man kann nur Rühmliches über die Oper sagen“ („La Quotidienne“).
Jedenfalls fiel dieser anti-englische hyperpatriotische „Schinken“ zur
denkbar schlechtesten Zeit, denn es gab wieder einmal politische Spannungen
zwischen Frankreich und England, die Louis-Philippe (und sein Außenminister
Guizot) und Königin Victoria versuchten, durch gegenseitige Staatsbesuche
zu beseitigen und eine Vorläuferin der Entente cordiale (der Ausdruck
stammt von Guizot) zu schmieden. Der Höhepunkt der Oper, der Chant national
(ein richtiger Ohrwurm „Guerre aux tyrans! Jamais en France, jamais l’Anglais
ne règnera!“) wurde ein ungeheurer Schlager, aber wahrlich nicht angetan
bei den Politikern anzukommen. Obwohl die Oper in den ersten drei Monaten
bereits 25 Mal gespielt wurde, wurde es dann ruhiger und bereits1850 verschwand
„Charles VI“ vom Spielplan. Obgleich die Oper selbst im Ausland erfolgreich
war (Brüssel 1845, Hamburg 1851, Mailand 1876), blieben verschiedene Wiederbelebungsversuche
von kurzer Dauer, und die letzte bekannte Aufführung fand anscheinend
1901 in Marseille statt.
Die
Handlung spielt 1415, kurz nach der Schlacht von Azincourt, worauf ein
Großteil Frankreichs von englischen Truppen besetzt wurde. Der König Charles
VI ist schwer depressiv und verfällt ständig in geistige Umnachtung. Seine
Frau Isabeau von Bayern paktiert mit den Engländern, um den Krieg zu beenden
und den englischen König Henry V auf den französischen Thron zu setzen.
Eine junge Bäuerin, Odette, Tochter des Azincourt-Veteranen Raymond, wird
von ihren Landleuten ausgewählt, den kranken König zu betreuen (eine wirkliche
Odette de Champdivers war die Favoritin von Charles VI, hatte eine Tochter
von ihm und spielte mit ihm Karten). Odette ist allerdings in einen jungen
Ritter Charles verliebt, der sich später als der Dauphin herausstellt.
Im
2. Akt spielt Odette mit dem König Karten („la bataille“). Isabeau entreißt
dem König die Abdankungserklärung, was sie sofort dem Hofe verkündigt.
Im 3. Akt will der Dauphin den Widerstand gegen die Engländer organisieren
und seinen Vater sehen, der – am Arme Odettes - ihn aber nicht erkennt.
Der Dauphin gibt sich zu erkennen, und Odette beschließt, Vater und Sohn
auszusöhnen. Die Krönung von Henry V wird vorbereitet, doch Charles VI
nimmt seinen Rücktritt im letzten Moment zurück. Im 4. Akt versucht der
Dauphin in den Palast einzudringen um seinen Vater zu befreien. Odette
hat eine Vision, daß sie das Werke eines anderen jungen Mädchens (Jeanne
d’Arc) vorbereiten soll, um Frankreich vom englischen Joch zu befreien.
Isabeau und Count Bedford halten Charles VI vor, sein Wort gebrochen zu
haben. Er
schläft nach einem Wiegenlied Odettes ein und wird von Geistervisionen
geplagt, die Isabeau und Bedford geschickt haben.
Im
letzten Akt sind die französischen Truppen sehr deprimiert, doch Odette
hat einen Plan, daß alle sich in der Abtei von Saint Denis (die französische
Königsgruft) verstecken sollen, um die geplante Krönung Henrys zu vereiteln.
Alles läuft bestens, doch Charles VI, wird plötzlich hellsichtig, unterbricht
den Kampf und setzt in einer hochdramatischen Szene sterbend den Dauphin
als Nachfolger als Charles VII ein, nach Absingen des „Chant national“
und der Prophezeiung der kommenden Retterin des Landes! – Diese einigermaßen
ausufernde Handlung ist der Grund für die extreme Länge der Oper. Obwohl
Halévy 1847 erhebliche Kürzungen vorgenommen hatte, dauerte die erlebte
Aufführung ohne Ballett fast fünf Stunden (mit zwei kurzen Pausen)!
Musikalisch
ist die Oper durchaus vertretbar. Eine sehr ausgefeilte Orchestrierung
und weitgehende Verwendung von Solobläsern ist zu vermerken. Nach einer
sehr düsteren Einleitung ertönt ein Oboensolo, das aber rasch Märschen
und recht militärischem Klamauk weicht. Raymond stimmt den „Chant national“
an (der noch öfters vorkommen wird). Ein ausnehmend hübsches Duett zwischen
Odette und dem Dauphin wird von einer Bravourarie des Tenors abgelöst.
Die Oboe kommt noch mehrmals als Solobegleitung zum Zug, u. a. in einer
fulminanten Arie Isabeaus im 2. Akt, die nur aus Vokalisen besteht. Mit
Solobegleitung – diesmal der Trompete – ist auch die Kartenszene. Ungemein
dicht und dramatisch ist der Monolog des Königs in geistiger Abwesenheit.
Geht richtig unter die Haut! Die Rollen sind durchwegs ausgesprochen dankbar
und brillant. Zahlreiche, durchwegs mitreißende Arien, Duette, Terzette,
Ensembles – öfters mit Chor – sind sehr effektvoll, die Musik ist oft
schmissig – und man langweilt sich nie.
Pierre
JOURDAN war sich von vornherein im Klaren, daß er nicht die spektakuläre
Premiere der Oper wiederholen konnte. Er zog es vor, einschlägige Bilder
(Gemälde, Kirchenfenster, Skulpturen, Inkunabeln) der Epoche an den passenden
Stellen auf den Hintergrund zu projizieren, vor dem der Chor (der ausgezeichnete
ORFÉON PAMPELONÉS unter Alfonso HUARTE) stand und nach Bedarf von einer
Wand verdeckt wurde. Diese „Billiglösung“ kann man als sehr gelungen bezeichnen,
denn sie vermittelte eine glaubhafte Ambiente des 15. Jahrhunderts. Die
passenden Kostüme waren sehr ansehbar, vor allem das feuerrote Kleid der
Isabeau, aber auch die anderen Sänger waren stilvoll gekleidet.
Die
in Compiègne bereits heimische Sängerschar beherrschte wieder die Bühne.
Isabelle PHILIPPE als Isabeau ist eine phantastische junge Sängerin, die
den französischen Gesangsstil perfekt meistert. In der herrischen Rollen
der zwiespältigen Königin war sie auch darstellerisch ausgezeichnet. Ihre
Gegenspielerin Odette sang Anne-Sophie SCHMIDT, die der Rolle sehr dramatische
Akzente verlieh, vor allem in der großen Szene des 4. Akts, wo sie mit
einem Schwert bewaffnet die entmutigten Soldaten mitreißt. Was nicht hinderte,
daß ihr Duett mit dem Dauphin sehr lyrisch war, dem Bruno COMPARETTI die
Brillanz der Rolle verlieh und einige hohe „C“ in den Saal katapultierte
(die Rolle, die Duprez als nicht brillant genug verweigerte!).
Als
irrer König Charles VI konnte man Armand ARAPIAN hören, den man zu wenig
in Frankreich hört. Er hat vielleicht nicht mehr die Weiche eines Kavalierbaritons,
aber stellte ein sehr glaubwürdige Persönlichkeit auf die Bühne. Matthieu
LÉCROART erledigte sich mit Brio der Rolle des Raymond, Odettes Vater,
und stimmte als Erster den „Chant National“ an. Als Count Bedford war
Armando NOGUERA gut am Platze; sein angenehmer lyrischer Tenor war passend
für die nicht sehr große Rolle. In den kleineren Rollen waren Mathias
VIDAL, Eric SAHLA, Pierrick BOISSEAU, Jean-Loup PAGESY und Stéphane MALBEC-GARCIA
passend.
Das
ORCHESTRE FRANCAIS ALBÉRIC MAGNARD unter der Leitung von Miquel ORTEGA
tat sein Bestes diese physisch sehr anstrengende Partitur mit Erfolg über
die Runden zu bringen. Das zahlreiche, oft von sehr weit hergekommene
Publikum (viele Deutsche und Engländer) dankte den Künstlern herzlich
für diese interessante Entdeckung. wig.
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