IST MEYERBEER WIEDER IM KOMMEN?

Das Verschwinden und Wiederauftauchen musikalischer Werke ist ein unerklärbares Phänomen. Jahrzehnte lang wurde Vivaldi und die gesamte barocke Musikliteratur vernachlässigt, von Händel nur „Messias“ gespielt. Selbst Mozart war zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenig auf den Spielplänen der Opernhäuser, „Cosi fan tutte“ wurde erst in den dreißiger Jahren von Fritz Busch wieder „ausgegraben“. Heute ist die Barock-Mode allgegenwärtig, und man findet Festivals, die sich einem einzigen Komponisten oder einer gewissen Periode widmen. Von den Komponisten des 20. Jahrhunderts werden Hindemith, Krenek oder Egk heute so gut wie nicht mehr gespielt, der italienische Verismus wird auch immer weniger. Pfitzner ist nur mehr wegen seines „Palestrina“ bekannt, Orff dank seiner „Carmina burana“. Dafür kommen Janacek, Korngold, Zemlinski oder Schrecker wieder aus dem Fegefeuer.

Die Werke der großen Pariser Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts sind praktisch von der Szene verschwunden, obwohl unsere Großelterm bzw. Urgroßeltern davon verzückt geträumt hatten. Immerhin wurden in Paris im 19. Jahrhundert ca. 2500 Opern zur Uraufführung gebracht. Wer spielt heute noch „La Juive“ von Halévy – der Pfalzbau in Ludwigshafen und die Wiener Oper sind hier löblich Ausnahmen – oder „La Muette de Portici“ von Auber, die großen Opern Meyerbeers, Spontinis oder Cherubinis? Einzig Riccardo Muti hat ein paar Spontini und Cherubini Opern dirigiert – aber sonst? Nichts. Für viele Opernliebhaber sind diese Werke unerreichbare Spitzen, wie für Bergsteiger die Eiger-Nordwand oder der Mount Everest.

Ist die Musik Meyerbeers wirklich so schlecht, wie verschiedene Snobs behaupten? Der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts und Wagners stupides Judenpamphlet von 1850 (unter Pseudonym) waren natürlich nicht hilfreich – aber das sollte doch lang vorbei sein. Oder haben die großen Sänger Meyerbeers sich Wagner zugewandt und wurde deshalb „Le Grand Opéra“ vernachlässigt, wie der amerikanische Musikwissenschaftler Gustav Kobbé (1857-1918) in seinen Opernführer meint? Das stimmt sicher teilweise, denn die Brüder de Reszke, die Hauptakteure der „Nights of the seven stars“ an der New Yorker Met, haben später sehr viel Wagner gesungen, aber bei den Damen haben sich Nordica, Melba, Sembrich usw. kaum bei Wagner versucht, nur Marianne Brandt war Kundry in Bayreuth.

War es das Verschwinden einer gewissen Gesangskultur, den letzten Ausläufern des romantischen Belcanto, die in Paris im 19. Jahrhundert gepflegt wurde? Das ist wahrscheinlicher. Denn auch die Werke der leichteren Muse dieser Zeit, die komischen Opern von Adam, Boieldieu, Auber, Grétry, Méhul etc., sind vom Spielplan verschwunden. Ebenso leiden zahlreiche Opere serie Rossinis („Zelmira“, „Otello“, „Ermione“, „Donna del Lago“ usw.), aber auch Donizettis unter dem Handicap, daß diese Werke zwei oder drei erstklassige Tenöre brauchen. Und ausgezeichnete Tenöre sind halt Mangelware.

Es ist ein gutes Zeichen, daß seit einigen Jahren Meyerbeer (und Halévy) wieder sporadisch gespielt werden. Es ist interessant, daß der Name Meyerbeers wohl bekannt ist, aber man so gut wie nicht über diesen ungewöhnlichen kosmopolitischen Künstler weiß. Er erhielt in Deutschland eine solide Ausbildung bei Clementi, Zelter und dem Abt Vogler (zusammen mit Weber), begann biblische Opern zu schreiben (u.a. „Jephte“ und „Abimelek“), ging 1814 auf Anraten Salieris nach Italien und feierte seine ersten Erfolge, gekrönt mit „Il Crociato in Egitto“ (Venedig, 1824). Er war ein Bewunderer seiner großen deutschen reisenden Vorgänger Händel, Gluck und vor allem Mozart, den er als den größten Komponisten aller Zeiten vergötterte.

Er kam 1826 nach Paris, wo er 1831 mit „Robert le Diable“ über Nacht weltberühmt wurde. „Les Huguenots“ (1836) und „Le Prophète“ (1849) machten ihn zum ungekrönten König der Pariser Oper. Mehrere Jahre pendelte er zwischen Paris (wo er nie eine Wohnung besaß, sondern nur in Hotels oder bei Freunden wohnte) und seinem Posten als königlich preußischer GMD in Berlin (1842-1849). Meyerbeers Erfolge waren ungeheuerlich, heute kaum verständlich. 1864 starb er mitten in den Vorbereitungen zur Uraufführung von „L’Africaine“.

Das Phänomen der Entwicklung des „Grand Opéra“ hat zeitpolitische Hintergründe, die man nicht übersehen kann. Nach praktisch 40 Jahren politischem Chaos und mehreren Umstürzen war die Restauration mit Karl X. am Ende. Im Juli 1830 kam der Bürgerkönig Louis Philippe zur Macht, der den Aufstieg des Bürgertums und der Bonapartisten unterstützte und gleichzeitig die Kolonisierung in Afrika weitertrieb. Ungewöhnliche Vermögen wurden sehr rasch angehäuft und eine recht protzige Geld-Aristokratie wollte zeigen, was sie hatte. Paris wurde die Weltstadt schlechthin und die Académie Royale de Musique (Vorgängerin der heutigen Pariser Oper, erst 1875 erbaut) das Mecca aller Komponisten.

Eugène Scribe (1791–1861) war einer der bedeutendsten und einflußreichsten französischen Schriftsteller seiner Zeit. Er hat etwa 500 Theaterstücke, Vaudevilles und Opernlibretti in praktisch industrieller Form produziert und beschäftigte eine Armee von Mitarbeitern. Sein Einfluß war ungeheuer und sein Ruhm grenzenlos. Er schrieb Libretti für Auber, Donizetti, Halévy, Meyerbeer, Rossini, Verdi u.v.a.. Kein Zweifel, Scribe hat sehr vom System profitiert, dem Aufstieg des konservativen Geld-Bürgertums. Er hat sich davon Distanz bewahrt, indem er mit seinem ungewöhnlichen Gespür für effektvolle Libretti oft sehr „gewagte“ Themen (heute würde man „politically not correct“ sagen) auf die Opernbühne brachte. Er war der Erfinder der historischen Ideen-Oper, in der eine These – sei sie noch so kontroversiell - rücksichtslos durchgeführt wird.

Allerdings stimmen die historischen Fakten nicht immer, z. B. hatten die Hugenotten wenig oder gar nichts mit Calvin zu tun, und Vasco da Gama in „L’Africaine“ war ein gefeierter Seefahrer und nie vor der Inquisition und ebensowenig im Gefängnis.

Meyerbeer überwachte immer den Text und änderte ständig daran. Was bewirkte, daß bisweilen die Reime eher hölzern sind. Meyerbeer erfand die Oper in der Form von „Tableaux“, kompletten abgeriegelten Szenen. Dafür schrieb er sehr effektvolle, aber nicht wirklich reißerische Musik. Er meisterte die erlernten Kenntnisse der deutschen orchestralen Musiktradition und verband sie im selben Werk mit der italienischen Melodik und der französischen Eleganz. Er scheute sich auch nicht, neue oder ungewöhnliche Instrumente zu verwenden (z. B. Baßklarinette, Viola d‘amore oder Saxophone) und sehr ungewöhnliche Ensemble- und Tonkombinationen zu erfinden. Meyerbeer war auch immer sehr interessiert an den technischen Aspekten seiner Aufführungen und ließ keine Zufälligkeiten zu. Er war es auch, der die erste Oper mit elektrischer Beleuchtung zur Aufführung brachte: die Premiere von „Le Prophète“ am 16. April 1849.

Heute wären Scribe und Meyerbeer Partner in einem Multimedia-Konzern in Hollywood, und George Lucas, Steven Spielberg und die größten Filmstudios würden sich mit Angeboten überbieten. wig.