"DER POSTILLON VON LONGJUMEAU"- 9. Mai 2004

Adolphe Adam (1803-1856) gehört zu den Komponisten des 19. Jahrhunderts, die den Pariser Theatern Vaudevilles und komische Opern lieferten. Sohn des Pianisten Jean-Louis Adam und Schüler von Boieldieu, ist er praktisch nur mehr dank seines Balletts “Giselle” bekannt (er hat noch weitere 28 Ballette geschrieben). Weniger bekannt ist aber, daß er auch 78 (!) Opern komponiert hat. Davon ist die Ouvertüre zu “Si j’étais roi” (Wenn ich König wäre) auch heute noch auf den Programmen von Kurorchestern. Sein “Le Toréador” war diese Saison in der Opéra comique zu sehen. Vom “Postillon von Longjumeau” ist nur die berühmte Tenorarie “Mes amis, écoutez l’histoire”, die aufs hohe “D” geht, auf Bravourstück-Platten vieler Tenöre zu finden.

Die Idee der Oper in Dijon, den “Der Postillon von Longjumeau” von 1836 auszugraben, war natürlich für die Opéra Paris-Sud (Massy/Longjumeau, zwei Nachbar-Städte ca. 20 km südlich von Paris) verlockend, diese Produktion zu übernehmen und im “Théâtre Adolphe Adam” in Longjumeau zu spielen. Wo wäre es passender? Zumal diese Wiederbelebung bewies, daß dieses Werk durchaus aufführbar und die Musik hörenswert ist, wenn man sich mit passenden Sängern umgibt, die keine Stars sein müssen.

Die Ouvertüre ist zwar etwas dünn, aber die Musik ist gefällig und auf große Strecken ausgesprochen gut geschrieben. Die Szene der verlassenen Madeleine am Ende des 1. Akts mit fugiertem Chor ist ein Meisterstück, ebenso wie die genannte Postillon-Arie Chappelous mit Trompeten und Peitschengeknall. Die meisten Arien und Ensembles sind weit mehr als Vaudeville-Couplets und sehr gut gebaut: Adam ist ein großer Könner. Die Oper kann den Vergleich mit “Zar und Zimmermann”, “Lustige Weiber”, “Martha”, “Elisir d’amore” oder “Don Pasquale” durchaus aufnehmen.

Die Geschichte ist – wie oft - eine “Komödie der Irrungen”. Der junge Postillon Chappelou feiert seine Hochzeit mit Madeleine, der lokalen Wirtstochter. Während seine Freunde ihn ermuntern, sein Postillonlied zu singen, erscheint der Marquis de Corcy, “Surintendant des menus plaisirs du Roy” (eine Art königlicher Musikdirektor), dessen Karosse einen Radbruch hat. Corcy ist so von Chappelous Gesang begeistert, daß er ihn sofort für die königliche Operntruppe engagiert. Chappleou und sein Kumpan, der Schmied Bijou, der die marode Karosse repariert, werden von Corcy praktisch entführt. Während Madeleine im Nachthemd “Ah, mon mari” zetert, jammert der fugierte Chor über die Untreue der Männer. Gleichzeitig wird eine Kiste “Par avion” geliefert, aus der eine Negerin (Rosa) entsteigt.

Im 2. Akt zieht sich Madeleine in ein Epochekleid (mit atemberaubendem Dekolleté) um, liest eine Illustrierte mit Bild von Saint-Phar auf der Titelseite, denn inzwischen ist Chappelou ein berühmter Tenor der Pariser Oper geworden, eben Saint-Phar. Madeleine ist auch eine große Dame geworden und heißt jetzt Mme de Latour, denn sie hat in den Antillen eine riesige Plantage geerbt. Sie will sich an Chappelou rächen und erwartet ihn mit einem großen, musikalisch sehr gelungenen Rezitativ und Arie “Je vais donc le revoir”. Der Marquis de Corcy hat die Truppe in das Palais Latour gebracht, denn er spitzt auch auf die Dame. Die Sänger, in erster Linie Saint-Phar und Bijou, der inzwischen Chorchef der Oper unter dem Namen Alcindor geworden ist, sowie der ganze Chor, klagen über Überlastung und wollen streiken (tjen, tjen, das gab’s damals auch schon). Einige ausgezeichnete Nummern folgen, wie Saint-Phars “Assis à ton pied” oder Alcindors Arie “Marchons! Marchons!”. Saint-Phar und Madeleine singen ein entzückendes Duett “Je vous aime”.

Im 3. Akt heiraten sie gleich unter etwas chaotischen Umständen, denn es stellt sich heraus, daß Saint-Phar noch immer mit seiner Wirtstochter aus Longjumeau verheiratet und daher Bigamist ist. Während Hochzeitschor und Ensemble mit Glocken die Hochzeit feiern, dringt Corcy mit der Polizei ein und will Saint-Phar verhaften. Madeleine erklärt ihre “Rache”, und alles löst sich in einem Ensemble in eitel Wonne auf, wo das Postillon-Lied natürlich als Motiv verwendet wird.

Philippe CAMBRELING leitete die Aufführung mit viel Liebe für die flotte Musik, Schwung und Leichtigkeit. Der CHOR und das ORCHESTER DER OPER DIJON waren der Aufgabe völlig gewachsen.

Die Sänger waren durchwegs gut, besonders die charmante Isabelle POULENARD, die mit glockenreinem Sopran die Koloraturarien auf einer Perlenkette aufreiht. Daß sie auch ausgezeichnet spielt und blendend aussieht, tut der Sache wahrlich nicht Abbruch. Ihr Chappelou/Saint-Phar war der junge Tenor Bruno COMPARETTI, der sich mit seiner angenehmen Stimme mehr als leidlich aus der Affäre zog, auch wenn er die halsbrecherische Postillon-Arie transponiert hatte. Er ist darstellerisch noch etwas linkisch, besonders in der trübsinnigen Kulissen des 1. Akts.

Bijou/Alcindor war bei Jean VENDASSI gut aufgehoben, mit kräftigem, gut geführtem Bariton. Laurent ALVARO war ein eleganter, groß gewachsener Marquis de Corcy, der seinen angenehmen Baß gut verwandte. Michèle DUMONT war gut ausstaffiert und spielte die schwarze Dienerin Rosa sehr gut, ebenso wie Mathieu GRENIER in der kleinen Rolle des Bourdon rollendeckend war.

Die Aufführung wurde von Patrick ABÉJEAN nicht immer sehr geschickt inszeniert; besonders der Titelheld hätte mehr Aufmerksamkeit und Führung gebraucht. Die Bühnenbilder von Claude STEPHAN und die Kostüme von Patrice GOURON (auch Beleuchtung) waren unausgeglichen. Es war einerseits eine blendende Idee, ein altes Foto von Longjumeau mit dem Postrelais als Bühnenvorhang zu verwenden, aber dann wurde es eher mäßig: die Möbel beim Hochzeitsempfang waren miese fünfziger Jahre-Tische, die Pferdeköpfe auf farbigen Wänden erinnerten an ein DDR-Ferienheim zu Ulbrichts Zeiten. Eine gute Idee war die Karosse, die mit dem Marquis de Corcy vom Schnürboden herunter kommt, was zu dem hübschen Duett Chappelou – Corcy (mit Flöte) “Ah, mes amis” führt, bevor sich die beiden mit dem Dorfschmied Bijou nach Paris verziehen.

In den weiteren Akten war die Austattung erheblich besser, die Dekoration des Palais von Mme Latour als Opernbühne und die phantastischen, etwas disparaten Kostüme der Sänger und Choristen waren eine Augenweide (anscheinend aus dem Fundus für “Aida”, “Zauberflöte”, “Turandot” und anderen “antiken” oder exotischen Opern zusammen gestoppelt). Nur der Formica-Tisch, an dem der Marquis de Corcy im 2. Akt sitzt, paßte wie die Faust aufs Auge.

Das nicht ganz junge Sonntagnachmittag-Publikum amüsierte sich blendend und applaudierte mit großer Begeisterung. Man kann nur hoffen, daß diese Aufführung zu einer Renaissance der Werke von Boieldieu, Adam, Méhul, Hérold, Auber, Grétry usw. führen wird. wig.