Der
Maggio Musicale Fiorentino hat im Dezember 2004 ein interessantes Projekt
gestartet. Abwechselnd wurden die französische fünfaktige und die italienische
vieraktige Version gespielt. Leider war es uns nur möglich, ohne extra
Urlaub nehmen zu müssen, die vieraktige Version zu genießen. Hier wurde
allerdings aus mir nicht vollkommen klaren Gründen die Arie von Carlo
„Io l’ho perduta“ nicht gespielt, dafür aber die Totenklage an Posas Leiche
in der langen Version. Bisher habe ich auch noch keine Begründung dafür
im italienischsprachigen Programmheft finden können. Positiv ist zu vermerken,
daß es keine der üblichen, ziemlich brutalen Striche im Schlußduett gab
und auch sonst, abgesehen von dem genannten, die vieraktige Version vollständig
war.
Gespielt
wurde die alte, legendäre Luchino VISCONTI-Produktion in der Regie von
Alberto FASSINI, hier aufbereitet von Josrph Franconi LEE. Das ist alles
sehr ästhetisch, die Bühnenbilder und Kostüme vermögen zu beeindrucken,
aber man hat doch das Gefühl, daß die Sänger sich selbst überlassen bleiben.
Personen- oder Chorregie scheint sich darauf zu beschränken, daß alle
gefahrlos auf- und abgehen und dazwischen hübsch nebeneinander aufgereiht
werden. Immerhin wird man nicht durch überflüssige Aktionen oder ärgerliche
Regieeinfälle von der Musik abgelenkt. Die aufwendigen Kulissen machen
allerdings sehr lange Umbaupausen nötig, von denen zwei bei offenem Vorhang
stattfanden aus Protest gegen geplante Kürzungen bei den Bühnenarbeitern.
Musikalisch
war dies allerdings eine der besten „Carlos“-Vorstellungen, die ich bisher
erleben durfte. Zubin METHA dirigierte einen Verdi mit viel Engagement,
teilweise ungewöhnlichen, aber immer sängerfreundlichen, Tempi und trotz
des langen Abends nicht nachlassender Spannung. Abgesehen von zwei unschönen
Patzern im Blech folgte ihm das ORCHESTRA DEL MAGGIO MUSICALE FIORENTINO
bedingungslos und fehlerfrei. Der CHOR (Leitung: José Luis BASSO) war
auf sehr gutem Niveau, im Autodafé wäre vielleicht jedoch noch etwas mehr
Fülle denkbar gewesen.
Es
dürfte unter den Sängern seiner Generation schwerlich einen souveräneren
Philipp geben als René PAPE. Was der edel timbrierte Baß allein aus der
Schlußphrase von „Ella giammai m’amò“ machte, nachdem die Arie vorher
schon klug phrasiert war, ließ Kehlen zuschnüren und Tränen laufen. Pape
spielt die Rolle mit einer schönen Nuance: man hatte die ganze Vorstellung
über das Gefühl, im König brodelt etwas unter seiner Kälte, was hinaus
will, aber nicht weiß wie. Ein großes Porträt.
Ein
weiterer Höhepunkt war das Duett mit Posa (Lucio GALLO). Die beiden Sänger
schenkten sich hier nichts. Der Bariton mit einer Stimme, die mittlerweile
größer klingt, als man es bei dieser Rolle gewohnt ist, verließ sich jedoch
nicht auf das Volumen, sondern streute etliche Piani ein. Die Verletztheit
in „Sospetti tu di me?“, als er feststellt, daß Carlos im mißtraut, war
herzzerreißend. Leider gab es bei „Per me giunto“ einige heisere Töne,
die sich jedoch im Sterben dann vollständig verflüchtigt hatten.
Marcus
HADDOCK in der Titelrolle hätte man seine Arie gegönnt. Vielleicht nicht
mit der größten und schönsten Stimme der Welt gesegnet, imponiert er jedoch
sehr durch sein Engagement, sein sauberes Singen und jederzeit ungefährdete
Spitzentöne. Hinzu kommt, daß er seine gute Bühnenerscheinung im Spiel
nicht übertrieben einsetzt. Nach einem Jahr von wenig überzeugenden Tenorleistungen
war er ein echter Lichtblick.
Dolora
ZAJICK als Eboli schlug sich wacker im Schleierlied, das nicht optimal
für sie liegt, und steigerte sich dann bis zum fulminanten „O don fatale“
zur unanfechtbaren Siegerin bei den Damen. Die große Stimme, die sie bei
früheren Begegnungen nicht immer absolut kontrollieren konnte, war hier
auch zu imposanten leisen Tönen durchaus fähig.
Adrianne
PIECZONKA als Elisabetta ist ein merkwürdiger Fall. Ich habe diese Sängerin
sich in anderen Rollen geradezu die Seele aus dem Leib spielen und singen
erlebt, doch hier schien sie sich einfach nur auf ihre zugegeben schönen
Töne zu verlassen und sang ohne Nachdruck mit einer gewissen Beliebigkeit,
was „Tu che le vanità“ sehr lang werden ließ.
Die
mit Abstand schwächste Leistung des Abends kam von Ayk MARTIROSSIAN als
Großinquisitor. Die Stimme war brüchig, wirkte unkontrolliert und verließ
zu häufig die Gesangslinie. Auch die Persönlichkeit fehlte dem Sänger,
um Sieger im Duell mit dem König zu bleiben, wie es das Libretto vorschreibt.
Der volltönende Mönch von Enrico TURCO wäre hier vielleicht für Philipp
ein gleichberechtigterer Gegner gewesen.
In
den kleinen Rollen ergänzten munter Gemma BERTAGNOLLI (Tebaldo), solide
Enrico COSSUTTA (Lerma), unauffällig Carlo BOSI (Herold) und ein wenig
sehr piepsig (Alessandra MARIANELLI) (Stimme vom Himmel).
Ein
tolles Dirigat, in den fünf Hauptrollen kein wirklicher Ausfall, lediglich
der Großinquisitor schwach (in meinem letzten „Carlos“ waren die fünf
Hauptrollen schwach, dafür der Großinquisitor hochklassig, da ziehe ich
die hiesige Verteilung doch vor), ohne störende Regie: ein wirkliches
vorzeitiges Weihnachtsgeschenk für im italienischen Fach an großen Häusern
nicht gerade verwöhnte Norddeutsche. MK
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