Pierre
JOURDAN, der Direktor des „Théâtre Impérial“, hatte dieses völlig vergessene
und ziemlich verlotterte Theater vor achtzehn Jahren entdeckt und mit
zäher Ausdauer gerettet. Es war 1866 von Napoleon III. „bestellt“ (an
Stelle des Karmeliterklosters, das der Schauplatz von Bernanos‘ Roman
und Polulencs Oper „Dialogues des Carmélites“ ist), aber nie fertig gestellt
worden. Es ist heute der Sitz des „Théâtre français de la Musique“ mit
der Aufgabe vergessene französische Opern wieder zur Aufführung zu bringen.
Seit über zehn Jahren bringt nun Jourdan alljährlich ein oder zwei Werke
zur szenischen Aufführung oft nach jahrzehntelangem Vergessen. Er arbeitet
meistens mit jungen Sängern, denen er hier eine Chance gibt. Ich habe
vor sechs Jahren Bizets „La jolie fille de Perth“ mit Inva Mula und Charles
Workmann, damals praktisch unbekannt, gesehen. Opern von Auber, Bizet,
Chabrier, Grétry, Méhul, Monsigny, Saint-Saëns waren seit 1988 auf dem
Programm, aber auch Werke des 20. Jahrhunderts. Die Akustik des Théâtre
Impérial ist ausgezeichnet, und man sieht auf allen Plätzen sehr gut.
Da Compiègne in der Picardie ist in etwa 45 Minuten von Paris erreichbar,
zahlt es sich wirklich aus, einen Sonntag Nachmittag für eine so ungewöhnliche
Oper zu verwenden. Da Jourdan, der künstlerische Leiter, meistens Regie
führt, ist die Qualität der Aufführung gewährleistet.
Es
war vielleicht gar keine richtige Uraufführung, denn es scheint, daß die
Bizet-Oper 1885 (d. h. zehn Jahre nach dessen Tod) in Karlsruhe und Köln
(unter Felix Mottl!) schon aufgeführt worden sei – allerdings ohne Erfolg.
Die Geschichte beginnt aber viel früher, genau 1860, wenn Jacques Fromental
Halévy (Komponist zahlreicher Opern, namentlich von „La Juive“) beschloß,
eine biblische, vermutlich fünfaktige, Grand-Opéra „Noé“ zu schreiben.
Das Textbuch stammte einmal nicht von Eugène Scribe, sondern von einem
literarischem Schöngeist, namens Hubert de Saint Georges. Nur, zwei Jahre
später liegt Halévy im Sterben. Auf dem Sterbebett nimmt er seinem Schüler
und zukünftigen Schwiegersohn Georges Bizet das Versprechen ab, die Oper
fertig zu schreiben. Es wird sogar ein Vertrag mit dem Verlag Choudens
diesbezüglich gemacht.
Allerdings
hat der Schwiegervater nicht viel geschrieben an dieser Partitur, nur
ein paar Skizzen, keinerlei Instrumentierung. Bizet macht sich also ans
Werk und komponiert 1868-69 mit den kümmerlichen Resten eine dreiaktige
Oper, wird aber nie fertig damit, da er mit „L’Arlesienne“, „Djamileh“
und vor allem „Carmen“ alle Hände voll zu tun hat. Das Fiasko von „Carmen“
1875 nahm Bizets bereits angegriffene Gesundheit so her, daß er drei Monate
danach starb. Jedenfalls ist der 3. Akt von „Noé“ immer noch ein Fragment.
Jetzt kommt Bizets Witwe Geneviève, die Tochter Halévys, ins Spiel: sie
übernimmt den Vertrag mit Choudens und verpflichtet sich, die Oper fertigzustellen.
Was sie auch tut, indem sie Stücke aus „Djamileh“ (vor allem das Ballett)
und „Chanson d’amour“ einflicht. Aber gespielt wird die Oper nie (siehe
oben).
Der
arme Bizet hatte ja nie viel Glück, nicht nur mit „Carmen“ – die heute
meistgespielte Oper überhaupt. Schon seine C-Dur Symphonie – heute im
Repertoire jedes Symphonie-Orchesters – hörte er nie; sie wurde erst in
den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder entdeckt. Sein „Ivan
IV.“ wurde wegen eines Zaren-Besuchs abgesagt und nie gespielt, und erst
nach dem 2. Weltkrieg aufgeführt.
Wer
glaubt, daß es rein um eine Sintflut-Oper dreht, wird etwas enttäuscht
sein. Sicher, die Sintflut kommt vor, ganz am Schluß des 3. Akts. Ist
ja auch im 1. Buch Moses‘ (Genesis 6 bis 8) nicht sonderlich lang. Obwohl
die Handlung der beiden ersten Akte nicht in der Bibel auffindbar scheint,
geht es um die etwas verdrehte Liebe des Ham für seine zukünftige Schwägerin
Ebba (deren Verlobung mit Hams Bruder Sem im 1. Akt gefeiert wird), für
die Ham seine Frau Sarai verstößt. Die arme Sarai flüchtet in die Wüste
und wird im Traum von einem luziferischen Engel namens Ituriel verfolgt,
der sie liebt. Im 2. Akt erscheint er ihr, nach einer hochdramatischen
Szene mit dem Engelschor, wo er seine Engelsnatur aufgibt. Im 3. Akt entführt
er sie schließlich in seine Luststadt Henoch. Trotz Reichtum und Macht
will sie ihn auch dort nicht haben, und plötzlich tritt der fliehende
Sem auf, was zu einer dramatisch sehr differenzierten Szene führt. Schließlich
erscheint - nach einigen weiteren Begebenheiten - Noé und verflucht Ituriel
und die ganze lustvolle Gesellschaft. Und da erst beginnt die Sintflut,
mit Arche, Überschwemmung, Rettung und Erlösungshymne. Sogar eine weiße
Taube mit Olivenreis wird am Ende freigelassen.
Musikalisch
ist das Werk durchaus vertretbar, melodisch und dramatisch sehr gelungen
und ist so mancher Oper Massenets oder Saint-Saëns‘ überlegen. Obwohl
Bizet die einigermaßen bombastische Musik der Grand-Opéra im Stile Halévys
und Meyerbeers – in Grenzen - verwendet hat, sind große Teile recht typischer
Bizet – besonders die lyrischen, sehr flüssigen Passagen, die oft an „Carmen“
und „L’Arlesienne“ erinnern. Im Gegensatz zu „Carmen“, gibt es aber hier
keinen gesprochenen Text, auch sehr wenige Rezitative, sondern viele,
dramatisch ausgearbeitete Ariosi, die dann in Arien, Kavatinen, Stretten
usw. übergehen. Interessant sind die Ensembles, die sehr an die des mittleren
Verdi erinnern, mit dem obligaten Sopran über den Chormassen und den anderen
Solisten, wie das Finale des 1. Akts. Auch die vielen Stretten (Soli oder
Duette) sind sehr verdianisch, z. B. ein Duett Ebba/Cham mit Harfenbegleitung!
Ungewöhnlich ist das hübsche Drei-Soprane-Terzett (Saraï/Ebba/Japhet),
das sehr gelungen ist. Auch die reichliche solistische Verwendung des
Horns ist bemerkenswert.
Die
Idee Jourdans dieses apokryphe, alt-testamentarische Schauermärchen in
die heutige Zeit und zwischen Euphrat und Tigris zu versetzen, ist eine
gute Idee. Cham (Ham) wird hier ein religiöser Fanatiker, der Frau und
Familie verläßt und in die Berge flieht, wo er mit seinen Kumpanen (mit
Kalaschnikows) Terroranschläge plant. Jean-Pierre CAPEYRON verwendete
sehr geschickte Projektionen und ein paar hübsche Palmen für den orientalischen
Rahmen, sehr treffend beleuchtet von Thierry ALEXANDRE. Das sehr gelungene,
die Arche Noes zeigende, Gemälde im Hintergrund am Schluß, stammte von
Michel BOUDIN, der sich an Felszeichnungen in der algerischen Wüste (Tassili)
inspiriert hatte. Capeyron zeichnete auch für die passenden Kostüme. Besonders
bemerkenswert war das unwahrscheinliche Federkleid Ituriels, das dieser
im 2. Akt fallen läßt und in einem feuerroten Trainingsanzug à la Superman
erscheint.
Im
3. Akt wird die Sündenstadt Henoch vor Wolkenkratzern in eine Mischung
von Drogenkaschemme und Luxusbordell verwandelt (das Bacchanale der saufenden,
sniffenden und bumsenden Bewohner von Henoch war von Jean-Hugues TANTO
choreographiert worden). Ein ausgezeichnetes Video zeigte während des
letzten Zwischenspiels eine Kollision der Erde mit einem Asteroiden. Die
resultierenden Tsunamis und Überschwemmungen wurden aus amerikanischen
Katastrophenfilmen gemixt, mit sehr martialischer Musik im Orchestergraben.
Das
ORCHESTRE FRANCAIS ALBÉRIC MAGNARD ist das Kammerorchester der Picardie.
Es wurde von dem jungen Emmanuel CALEF recht gediegen geleitet. Nur zu
Beginn des 2. Akts gab es ein paar „Schwimmübungen“. Die CORI SPEZZATTI,
geleitet von Olivier OPDEBEECK, sind seit Anfang in Compiègne tätig und
waren der Partitur völlig gewachsen.
Von
den Sängern überragte Anne-Sophie SCHMIDT als Saraï die allgemein gute
Besetzung. Ich habe sie vor zwei Jahren als eindrucksvolle „Wozzeck“-Marie
in Nantes gesehen, und sie zeigt sich immer mehr als sehr profilierte
Sängerin mit prachtvollen Höhen, wunderbarem legato und ausgezeichnetem
Spiel. Eine ideale Sängerin für das dramatische Sopranfach, wie Abigaille,
Amelia oder Tosca. Die Titelrolle sang der hühnenhafte Jean-Philippe COURTIS,
eine Statur, die für die Rolle paßt. Obwohl er seit über dreißig Jahren
auf vielen Bühnen Europas zu sehen ist, hat er noch immer die Donnerstimme,
mit der er seinen Sohn Cham zusammenpfeift. Prachtvoll!
Der
Tenor Philippe DO als Ituriel ist nicht nur groß gewachsen, was für die
Luzifer-Rolle vorteilhaft ist, er besitzt auch eine prachtvolle Stimme,
ausgezeichnet geführt, mit brillanten Höhen und fabelhafter Phrasierung.
Ein Namen, den man sich merken sollte. Matthieu LÉCROART als der „böse“
Sohn Cham (Ham) in Afghanenkluft bringt seinen warmen, männlichen, gut
tragenden Bariton für die Rolle des brutalen Bruders. Mathias VIDAL als
der „gute“ Bruder Sem verwendet sehr gut seinen frischen jungen Tenor
für die etwas armselig geratene Partie.
Karen
VOUCH als seine Verlobte Ebba, die von ihrem Schwager geraubt wird, ist
eine vielversprechende junge spinto Sopranistin, die ihre angenehme Stimme
sehr klug einsetzt. Der dritte Sohn Noés, Japhet, wurde von einer weiteren
jungen Sopranistin, Céline VICTORES-BENAVENTE sehr effektvoll gesungen
und entzückend gespielt. Paul MÉDIONI in der kleinen Rolle des Eliacin,
Ebbas Vater, war rollendeckend.
Eine
sehr gute und erfrischende Aufführung. Das Publikum des ausverkauften
Hauses war begeistert und spendete lange anhaltenden, herzlichen Applaus.
wig.
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