Die
Oper in Nantes hat sich im letzten Jahrzehnt einen sehr guten Namen gemacht
als Stätte der Kreation und zahlreicher Erstaufführungen. Der langjährige
Direktor, Philippe Godefroi, beendet sein Mandat mit dieser Saison. Er
hat neben dem Repertoire jedes Jahr eine Erstaufführung gebracht (Carlysle
Floyd, von Einem, Salinen, Karetnikov, Gurlitt). Da das wunderschöne Théâtre
Graslin derzeit renoviert wird, werden die Aufführungen vorübergehend
im Palais des Congrès de Nantes gegeben. Die Produktion des “Wozzeck”
war eine gute Gelegenheit wieder die schöne und sympathische Hafenstadt
an der Loire zu besuchen.
“Wozzeck”
ist nicht nur die wichtigste Oper des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein
schwer zugängliches Werk. Es war umso erfreulicher, daß das 1800-Zuschauerhaus
an dieser Sonntagnachmittag-Vorstellung praktisch voll war, mit einem
sehr großen Anteil Jugendlicher.
Die
durchwegs gelungene Aufführung litt natürlich an der Größe des Kongreßtheaters
mit einer - wie oft in modernen multifunktionellen Häusern - nicht sehr
glücklichen Akustik, denn das Gleichgewicht zwischen Bühne und Graben
war nicht immer ideal. Daß die Umbauten bisweilen die Zwischenspiele verzögerten,
da die Bühnenmaschinerie nicht sehr effizient zu sein scheint, half natürlich
auch nicht. Der finnische Dirigent Ulf SÖDERBLOM dirigierte das ORCHESTRE
NATIONAL DES PAYS DE LA LOIRE nicht nur sehr kompetent, sondern auch mit
hörbarer Liebe und Teilnahme an der Partitur. Er strich sehr die lyrischen
Stellen heraus, das immer wieder kommende Schicksalsmotiv “Wir armen Leut‘!”,
ebenso wie das “Lasset die Kleinen zu mir kommen!” die naive Seite der
Oper unterstrich.
Die
ausgezeichneten Solisten der Hauptrollen sind bestens mit den schwierigen
Partien fertig geworden. Anne-Sophie SCHMIDT ist eine ausgezeichnete,
junge Marie, mit prächtig strahlender Stimme und ungeheurem Temperament.
Die Regie gab ihr bisweilen viel auf, wie die reumütige Lesung des Evangelium
im 3. Akt in BH und Höschen. Sie müßte auch eine ausgezeichnete Lulu oder
Salome sein. Als Wozzeck war der Engländer Andrew SHORE zu hören, der
den geknechteten, grübelnden, selbstzerstörenden Psychotiker mit gut geführter
Stimme, schönem Timbre und hinreißendem Spiel darstellte.
John
HURST, auch Engländer, war ein protziger, stimmkräftiger Tambourmajor,
dessen Selbstgefälligkeit durch die bewußt grotesken Kostüme noch unterstrichen
wurde. Der unverwüstliche Andreas JAEGGI als Hauptmann war die Verkörperung
des lächerlichen, bürokratischen und tyrannischen Offiziers. Der riesige,
überschlanke William PEEL sang den Doktor, eisig, gnadenlos und präzis
in der Maske des Todes. Eine ausgezeichnete Charakterstudie! Alfredo POESINA
war ein stimmlich etwas schwacher Andres.
Delphine
FISCHER als Margret war rollendeckend, aber kaum mehr. Jean-Pierre CHEVALIER
in der hier so wichtigen Mikrorolle des Narren und Thomas ALLIOT als Maries
Sohn fanden in dieser Inszenierung eine besondere Betätigung, die sie
konsequent vollfüllten. Die beiden Handwerksburschen, Guy-Etienne GIOT
und Michel EUMONT, stammten aus dem sehr guten OPERNCHOR (Leitung: Patrick
Marie AUBERT), der die Soldaten und Wirtshausgesellschaft stellte. Alle
sangen bestens, ebenso wie der KINDERCHOR der Oper unter Elisabeth und
Gérard BACONNAIS, was bisweilen auf der riesigen Bühne eine schwere Aufgabe
war.
Das
Problem war die symbolbetonte, sehr realistische Regie, für die der Hausherr,
Philippe GODEFROI, persönlich zeichnete. Er versetzte das Werks resolut
in die Jetztzeit. Die bewußte Über-Interpretierung ist klug durchdacht,
konsequent durchgeführt und besteht aus der Überhöhung der beiden Nebenrollen,
des Narren und des Kindes Maries, die erstmalig tragende Rollen sind.
Der Narr ist als Christus dargestellt, der zum ersten Mal, halb versenkt,
bereits in der 2. Szene erscheint, in der Wozzeck und Andres Ruten schneiden
sollen – hier sind sie Elektromonteure, die große Verteilerkästen montieren.
Er trägt in der Wirtshausszene das Kreuz und singt “Es riecht ... nach
Blut!” - eine Anspielung auf ein Golgotha unserer Zeit?
Der
“Bub”, wie ihn Wozzeck nennt, ist nicht fünf Jahre alt, sondern vierzehn
und ist immer auf der Bühne, wenn Marie da ist; einschließlich in der
Sexszene mit dem Tambourmajor (er bekommt auch vom Tambourmajor einen
großen Teddybären) und ihrer Ermordung, aber auch wenn Wozzeck vom Doktor
und Hauptmann verhöhnt wird. Er wird dadurch Zeuge und Mitwisser, ja,
Komplize der Abenteuer seiner Mutter und der Qualen seines Vaters. Er
zieht die Konsequenzen aus dieser ausweglosen Situation und erhängt sich
im letzten Bild. Nicht der Bub, sondern der Narr singt “Hop, hop” und
lockt damit den Buben, der mit der Schlinge um den Hals vom Dach des verlotterten
Anhängers springt, der ihm und seiner Mutter als Obdach dient.
Diese
Instrumentalisierung der beiden Nebenrollen durch den Regisseur gibt der
Handlung natürlich einen anderen Blickwinkel, viel phantastischer und
symbolischer, aber auch viel realistischer dank der sehr intensiven Personenführung
und der grotesken Kostüme. Die Soldaten erscheinen als riesige ausgeschnittene
Kartonhampelmänner, der Tambourmajor trägt abwechselnd eine groteske Prunkuniform,
ist komplett tätowiert, wenn er Marie imponieren will oder in der Szene
mit Wozzeck und Andres (2. Akt, 5. Bild) in einem weißen Anzug. Marie
ist abwechselnd in Fetzen oder in einem weißen Primaballerina–Kostüm (in
der Kneipe) gekleidet, während sie die Lesung des Evangelium in BH und
Höschen an einen Turm gelehnt singt. Der Doktor ist als Tod verkleidet,
der Hauptmann trägt ein asymmetrisches Kostüm, halb Frack, halb Uniform.
Die riesige Mauer mit der Inschrift “KASERN” im Hintergrund, Stacheldraht,
die Klomuschel, auf der Wozzeck beim Doktor sitzt, die Leuchtröhren im
Wirtshaus und die erwähnte Kostümierung waren bewußt surrealistisch. Die
gesamte szenische Konzeption und die Kostüme stellte das Kollektiv PONCTUELLE
her (eine von Philippe Godefroid et Philippe Mombellet gegründete Gruppe
von Szenographen, Kostümbildnern, Graphikern und Beleuchtern).
Ein
großer Erfolg und viel Beifall des großteils jugendlichen Publikums. wig.
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