Jahrhundertelang
galt der "prete rosso" als barocker Vielschreiber, als einer, der - so
Igor Strawinski - ein Violinkonzert zweihundertmal geschrieben habe, was
hinreichend die mangelnde Wertschätzung des Komponisten Antonio Vivaldi
beschrieb, dem man einzig seine "Vier Jahreszeiten" als wertbeständig,
und damit letztlich eine Art genialen Ausrutschers, zuzubilligen bereit
war.
Inzwischen
hat sich das gründlich geändert, nicht nur der Instrumental-, sondern
auch der Vokalkomponist Vivaldi ist zu Ehren gekommen; zuerst über seine
Opern, von denen er mehrere Dutzend verfasste, danach aber auch mit einem
relativ kleinen erhaltenen Oeuvre an geistlicher Musik, die er vermutlich
im allgemeinen für das Ospedale della Pietà schrieb, an dem er als Geigenlehrer
angestellt war.
Philippe
JAROUSSKY hatte sich bei seinen reinen Vivaldi-Abend für eine Mischung
von allem entschieden; der erste Tei enthielt geistliche Musik, der zweite
Oper - und als "Intermezzi" wurden zwei Instrumentalkonzerte geboten.
Jaroussky
begann mit einer Motette "Longe mala, umbrae, terrores" (Hinfort Sünden,
Schatten, Schrecken), die in der Abfolge Aria - Recitativo - Aria - Alleluja
konventionell bleibt, dem Sänger aber trotzdem reichlich Gelegenheit bietet,
den Gegensatz zwischen hartem Erdenleben und himmlischer Späre vokal darstellen
zu können.
Das
mehrteilige "Nisi dominum" ist formal entschieden interessanter und auch
in der rein musikalischen Erfindung reichhaltiger. Beiden gemeinsam wurde
die unendliche Gesangskunst, mit der Jaroussky sie vortrug (was natürlich
auch für die nach der Pause gesungenen Arien aus "Orlando finto pazzo",
Catone in Unica"; und "Giustino" sowie aus "Juditha triumphans" - einem
Werk, das Vivaldi unter dem merkwürdigen Titel "Sacrum Militare Oratorium"
herausbrachte - galt).
Unsaubere
Töne oder auch nur leichte rhythmische Schlampereien scheint es für den
französischen Counter (mit seinem hellen Timbre von der Lage her irgendwo
zwischen Mezzo und Sopran angesiedelt) schlicht nicht zu geben, die Intonation
bleibt auch in den halsbrecherischeren Koloraturen lupenrein - und sie
bleibt es ebenso in den für meine Ohren noch faszinierenderen langsamen
Stücken, bei denen er nicht nur eine stupende Atemtechnik demonstriert
sondern mir einem Organ, daß nach herkömmlichen Opernmaßstäben ja kaum
über ein Mezzoforte hinausgeht, eine dynamische Vielfalt bis hin zum vierfachen
Piano erzeugt, wie man sie in dieser - zudem jederzeit musikalisch begründbaren
- Form nur alle heiligen Zeiten zu hören bekommt. Man muß freilich genau
zuhören, diese Musik ist nicht für unsere laute Zeit gemacht; aber die
Zuhörer im räumlich bestens geeigneten Meldorfer Dom spielten mit, man
hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Begleitet
wurde er vom selbst gegründeten ENSEMBLE ARTASERSE, einer Zusammenstellung
hochkarätiger Spezialisten (vom dem an diesem Abend nur die Streicher
und Basso-Continuo-Spieler gebraucht wurden), die allesamt ihr Können
auch in anderen französischen Barockformationen unter Beweis stellen.
Daß dieses dem Sänger nicht nachstand, wurde naturgemäß in den reinen
Instrumentalwerken am deutlichsten. Vor der Pause stand ein Konzert für
Viola d'Amore und Laute (Solisten Alessandro TAMPIERI und Claire ANTONINI)
auf dem Programm, beides keine Instrumente mit großem Ton, man mußte also
einmal mehr die Ohren spitzen, aber die "Arbeit" lohnte sich.
Im
zweiten Teil erklang ein Violinkonzert, zu dessen Anforderungen sich am
besten der Frankfurter Johann Friedrich Armand von Uffenbach, (1687-1769)
zitieren läßt, der - als eine Art Frühform des "Festival-Hoppers" - ausgedehnte
Musikreisen durch Europa unternahm und über seine Eindrücke Tagebuch führte.
Der Kommentar zu Vivaldis eigenem Spiel, den er 1715 verfaßte, spiegelt
am Ende auch ein Gutteil Ratlosigkeit ob der damals - im Wortsinn - unerhörten
spieltechnischen Neuerungen wider:
"...
gegen das ende spielte der Vivaldi ein accompagnement solo, admirabel,
woran er zu letzt eine phantasie anhing die mich recht erschrecket, denn
dergleichen ohnmöglich so jemahls ist gespielt worden noch kann gespiehlet
werden, denn er kahm mit den Fingern nur einen strohhalm breit an den
steg daß der bogen keinen platz hatte, und das auf allen 4 saiten mit
Fugen und einer geschwindigkeit die unglaublich ist, er suprenierte damit
jedermann, allein daß ich sagen soll daß es mich charmirt das kann ich
nicht thun weil es nicht so angenehm zu hören, als es künstlich gemacht
war."
Heutzutage
sind derartige Anforderungen nicht mehr ungewöhnlich, aber es bleibt teuflisch
schwer. Und die Virtuosität, mit der Alessandro Tampieri zu Werke ging,
führte nach dem ersten Satz zu ehrlich spontanen Applaus beim sonst so
disziplinierten Publikum.
Ganz
am Schluß wurde dann doch noch der Komponist gewechselt. Jaroussky sang
eine für Farinelli komponierte Arie von Nicola Porpora, ein ganz ruhiges,
verträumtes Stück, adäquater Ausklang eines traumhaften Abends. HK
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