Hindemiths
"Mathis" gehört zu den Opern, die ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen
habe. Man sollte dieses Meisterwerk der Oper des 20. Jahrhunderts viel
öfter erleben können, schon um die Substanz dieses Werks besser kennen
lernen zu können. Nach wie vor scheint Hindemith ein "Verfemter" oder
- wie Goebbels ihn nannte - ein "musikalischer Bolschewik" zu sein. Vor
60 Jahren hieß es: "Hindemith, her damit, weg damit!", Das scheint ihm
noch immer nach zu hängen. Dabei konnte man gerade in Deutschland nach
dem Krieg den Komponisten öfters erleben, als Dirigenten, Klavier-Begleiter
oder Bratschisten.
Nach
der sicher besten Initiative der Ära Mortier, "Cardillac" zur Erstaufführung
zu bringen, hat nun auch "Mathis" den Weg in die Bastille-Oper gefunden.
Nicolas Joél, der Direktor der Pariser Oper, hatte das Werk seit Jahren
im Sinn und hat nun endlich einen seiner Wunschträume realisiert. Ja,
endlich, denn die Oper wurde zwar bereits 1951 in Straßburg gespielt,
aber in Frankreich seither nicht mehr. Die gesehene Vorstellung war die
vorletzte der Erstaufführung folgenden Serie an der Pariser Oper. Hoffentlich
nicht für ein Jahrzehnt!
"Mathis
der Maler" ist das Kern-Stück dreier Opern, die Hindemiths Überlegungen,
Ängste und Sorgen über die gesellschaftliche Rolle des Künstlers und Intellektuellen
in der Polis Platons darlegt. In "Cardillac" (UA 1926) ist es ein Goldschmied,
der sich von seinen Werken nicht trennen kann und seine Kunden ermordet.
In seiner letzten Oper "Die Harmonie der Welt" (UA 1957, München) ist
der Astronom Kepler die zentrale Figur, der sich an der kirchlichen und
kaiserlichen Autorität reibt.
Die
Person des Mathis ist der Künstler schlechthin, der gegen seinen Willen
in den Bauern-Krieg und den damit verbundenen Horror verwickelt wird.
Obwohl er sich den aufrührerischen Bauern anschließt, zieht er sich vor
dem allgemeinen Ausschreitungen zurück und malt den "Isenheimer Altar"
- das wohl größte und bedeutendste Meisterwerk der deutschen Renaissance
(im Musée d'Unterlinden in Colmar zu sehen). Es ist Mathis' Gönner und
Beschützer, der Mainzer Kardinal Albrecht von Brandenburg, der als Paulus
im letzten Bild Mathis erscheint und ihn ermahnt "Du bist zum Bilden übermenschlich
begabt. [...] Geh hin und bilde!" Es ist wichtig zu bemerken, daß Hindemith
selbst das Textbuch verfaßt hat, in einer der schwierigsten Zeiten seines
Lebens, als er nicht Liebkind im "Dritten Reich" war. All diese Ängste
und Befürchtungen sind in "Mathis" vereint, die Hindemith in einer schwierigen,
bilderreichen Sprache wiedergibt. Musikalisch ist Hindemith nach den Werken
seiner "wilden Jahre" von 1920 mehr tonal geworden, was er in den zahlreichen
Ensembles ausdrückt und oft sehr den Text unterstreicht, aber auch chorale
Züge zeigt. Ein äußerst schwieriges, prachtvolles Werk.
Zum
Glück hatte Hindemith in Wilhelm Furtwängler einen einflußreichen Freund,
der vor der Unmöglichkeit einer szenischen Aufführung, der Hindemith bewog
eine "Mathis-Symphonie" zu schreiben, die er 1934 mit den Berliner Philharmonikern
uraufführte. Furtwängler verteidigte auch öffentlich den Komponisten gegen
die Anfeindungen in einem ungewöhnlich scharfen Artikel in der Presse.
Was nicht hinderte, daß die szenische Uraufführung erst 1938, aber "in
einem neutralem Land" in Zürich stattfand.
Es
ist nicht uninteressant, daß die Renaissance einige der bedeutendsten
Opern des 20. Jahrhunderts inspiriert hat. Man muß vor allem an Pfitzners
"Palestrina", Kreneks "Karl V." und Strauss' "Friedenstag" denken, aber
auch an K. A. Hartmanns "Simplicius Simplicissimus", der auch im deutschen
Bauernkrieg spielt. Nicht zu vergessen die beiden Opern "Francesca da
Rimini" von Zandonai (die demnächst in der Bastille geplant ist) und Rachmaninoff
oder Brittens "Rape of Lucretia".
"Mathis
der Maler" ist wahrlich kein leichtes Werk und gehört mit Wagners "Parsifal"
und Pfitzners "Palestrina" zu den religiösen oder philosophischen Opern.
Wie diese beiden enigmatischen Werke zweier anderer mühsamer Zeitgenossen,
ist "Mathis" überaus anspruchsvoll. Allein die Länge der Oper (fast vier
Stunden Musik) und die drei sehr schweren Hauptrollen, sowie mehrere nicht
weniger schwierige Nebenrollen, machen die Aufführung ein Wagnis. Nicht
zu vergessen ist die szenische und schwierige orchestrale Seite des Werks.
Man ist versucht, diese drei Werke als Vorläufer des "Saint François"
von Messiaen zu sehen. Ein weiterer Vergleich drängt sich mit "Meistersinger"
auf, denn selten ist der deutsche Hintergrund eines Werks so unterstrichen
worden. Der Mainzer Kardinal Albrecht läßt sich sogar zu einem Traumbild
hinreißen, mit Mainz als dem "deutschen Rom" im Zentrum!
Nicolas
Joël hat für "Mathis" eine Team aufgeboten, das der schwierigen Aufgabe
gewachsen war. Daß der Regisseur Olivier PY für diese Inszenierung gewonnen
wurde, war sicher ein Vorteil (nur wenige Regisseure haben auch Theologie
studiert!). Der workaholic Py hat sich mit dem Werk und Hindemiths Leben
offenbar intensiv auseinander gesetzt und auch die persönlichen Probleme
des Komponisten eingeflochten. Die Bühnenbilder (und Kostüme), teils gigantisch,
teils intim, von Pierre-André WEITZ waren großteils passend, sehr eindrucksvoll
und weitgehend die ganze gigantische Maschinerie der Bastille-Oper. Sehr
eindrucksvoll war das 4. Bild, daß den Bauernkrieg und die Plünderung
des Schlosses von Königshofen beschreibt: Ruinen der Schloßwände werden
über die Bühne gerollt, was die vorbeiziehenden Heere sehr gut imitiert.
Die zwei kleinen Panzer bei der Bücherverbrennung und die Anwesenheit
von zwei SS-Männern mit Stahlhelm waren allerdings nicht nötig. Die wirklich
dabei waren, waren sicher in schwarzer Uniform, aber trugen eine schwarze
Kappe mit dem Totenkopf drauf. Nicht ganz klar war auch, weshalb die aus
der Versenkung oder aus dem Hintergrund kommenden, optisch sehr eindrucksvollen
großen Estraden oft so gebaut waren, daß die Sänger darunter gebückt durchkriechen
mußten. Dem Dramaturgen Joseph HANIMANN hätte da etwas Besseres einfallen
können. Dafür war die Beleuchtung von Bertrand KILLY durchwegs hervorragend,
wenngleich bisweilen etwas dunkel, aber der Situation entsprechend.
Die
musikalische Seite war in jeder Beziehung vorbildlich. Christoph ESCHENBACH,
mehrere Jahre lang Chefdirigent des Orchestre de Paris, stand zum ersten
Mal im Graben der Pariser Oper. Er hat offenbar eine intensive Beziehung
zu Hindemith und zu "Mathis". Er wußte auch das ORCHESTRE DE L'OPÉRA NATIONAL
DE PARIS de Paris für diese schwierige, bisweilen karge, Musik zu begeistern
und ungewöhnliche Klangeffekte heraus zu holen. Der CHOR DER OPÉRA NATIONAL
DE PARIS war von Patrick Marie AUBERT fabelhaft einstudiert worden. Vor
allem die Konfrontierung der Katholiken und Lutheraner im 2. Bild, jede
Gruppe in einer mehrstöckigen Turm-Konstruktion, mit den humanistischen
Studenten dazwischen, war von beängstigender Dichte.
Als
Mathis wurde Matthias GOERNE gewonnen, der mit seiner langen Erfahrung
als Lieder-Sänger sicher die ideale Verkörperung ist. Seine vorzüglich
Aussprache und seine ungewöhnlich ausdrucksvolle Stimme gaben der Tragik
der Rolle eine metaphysische Verklärung. Grossartig! Etwas enttäuschend
war dafür der Mainzer Kardinal, Albrecht von Brandenburg, den Scott MACALLISTER
zwar sehr gut sang und überzeugend gestaltete, doch man verstand ihn leider
sehr schlecht. Schade! Die dritte Hauptrolle ist Ursula Riedinger, die
von Melanie DIENER stimmlich hervorragend und sehr innig gesungen und
dargestellt wurde. Ihr Glaube an Luthers Thesen stellte sie kraftvoll
in der Szene mit Kardinal Albrecht dar. Aber auch die Trauer um die sterbende
Regina im letzten Bild wußte sie erschütternd zu vermitteln.
Die
Comprimari waren durchwegs bestens besetzt, denn bereits Regina, die Tochter
Schwalbs, der Mathis sich annimmt, beeindruckte: Martina WELSCHENBACH
sang nicht nur ausgezeichnet, sondern spielte auch die jugendliche, tragische,
aber so wichtige Rolle sehr überzeugend. Ein weiterer Sänger ließ aufhorchen,
der Schwede Michael WEINIUS, der Schwalb, den Führer der aufständischen
Bauern, mit strahlendem Heldentenor und perfekter Diktion darstellte.
Wolfgang ABLINGER-SPERRHACKE stellte den politischen Berater des Kardinals
und intellektuellen Drahtzieher Capito mit großer Intelligenz auf die
Bühne. In der Szene mit dem Kardinal waren die Stimmen der beiden Sänger
so ähnlich, daß man oft nicht wußte, welcher sang.
Gregory
REINHART war ebenfalls sehr passend als Ursulas Vater, der Mainzer Bürger
Riedinger, ebenso wie Éric HUCHET als Sylvester von Schaumburg. Als Gräfin
von Helfenstein, die von den aufrührerischen Bauern vergewaltigt wird,
war Nadine WEISSMANN treffend, nobel, aber nicht hysterisch. Thorsten
GRÜMBEL (Lorenz von Pommersfelden) und Antoine GARCIN (Truchsess von Waldburg)
komplettierten die Besetzung rollendeckend.
Das
ausverkaufte Haus feierte diese Neuigkeit an der Bastille Oper mit triumphalem,
selten erlebtem Applaus. Ein ganz großes Ereignis! wig.
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