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Jahre nach der Uraufführung kommt Boublils und Schönbergs Musical "Les
Misérables" endlich auch wieder in die Stadt, in der es größtenteils spielt…
Dabei ist es auch noch der bisher einzige Ort, der das Wort "international"
im Namen der "25th anniversary national tour" rechtfertigt.
Laurence
CONNOR und James POWELL liefern eine neue Inszenierung, die sich stark
von der mittlerweile zum Standard gewordenen West End/Broadway-Inszenierung
unterscheidet. Nur leider nicht immer zum Besseren.
So
fehlen zuerst die sonst immer eingebildeten Schriftzüge, die dem Zuschauer
Ort und Zeit der aktuellen Handlung verraten. Somit ist der Anfang auch
nicht auf das Jahr 1815 festgelegt, was wiederum den nächsten großen Fehler
möglich macht: Die Gefängnis-Szene spielt auf einer Galeere. Meine lieben
Herren Regisseure, für Galeeren in Frankreich seit ihr genau 67 Jahre
zu spät - und das weiß sogar die englische Wikipedia, also könnte es jeder
nachschauen. Und wenn schon Galeeren, könnte man sich dann nicht wenigstens
bemühen, diese einigermaßen korrekt darzustellen?
Weiterhin
gibt es eine Reihe von Kleinigkeiten, die man nicht hätte ändern müssen:
Es gibt zum Beispiel einen Grund, warum Cosette und Marius beide immer
nur schwarz tragen. Andere Dinge hätte man ruhig ändern können, so zum
Beispiel das Fehlen des Charakters Bahorel oder die Tatsache, dass Gefängniswärter,
Polizisten und Soldaten alle in Nationalgarde-Uniformen auftauchen. Leider
verstrich diese Gelegenheit ungenutzt.
Schön
dagegen ist der Auftritt des Jungen Petit-Gervais, wenn auch nur als stumme
Rolle, dem Valjean im Buch eine Münze klaut. Noch schöner wäre es gewesen,
wenn er an der richtigen Stelle aufgetreten wäre... Weiterhin werden die
meisten Handlungsorte durch ein ausführlicheres Bühnenbild und die Projektion
von Bildern (angeblich alle aus Victor Hugos Hand) genauer dargestellt
- leider einige falsch. So findet ein Teil der Handlung im Hafen der Stadt
Montreuil-sur-Mer statt… Die trotz ihres Namens nicht am Meer liegt.
Gut
gefallen hat mir dagegen die Darstellung der Kloake, die hinten an der
Wand entlang ziehenden Projektionen, die einem viel eher das Gefühl gaben,
daß sich der Ort tatsächlich ändert. Auch Javerts Selbstmord wirkt "echter",
wenn hinter dem Sänger das Bild der Stadt nach oben fährt. Dann tauchen
in der Anfangsszene auch mal Ketten auf, was die sonst eher sinnlosen
Zeilen wie "when they chained me and left me for dead…" mit etwas Inhalt
füllt. Javert bringt auch ein paar Handschellen mit, als er Valjean verhaften
will, die er dann auch noch passend zur Zeile "you'll wear a different
chain" ein bißchen klirren läßt. Weniger passend ist Valjeans Verwendung
derselben als Mordinstrument.
Eine
größtenteils freudige Überraschung waren die Neuorchestrierungen von Christopher
Jahnke, Stephen Metcalfe und Stephen Brooker. Ein Lied, Javerts Selbstmord,
verbessern sie allerdings nicht - viel zu nervös klingt das Ende. Davon
abgesehen sind die Neuorchestrierungen einfallsreich genug, um Abwechslung
zu bieten, gleichzeitig weichen sie aber nicht so stark vom Original ab,
daß die Lieder zu anders klingen.
Eine
freudige Überraschung des Abends war John OWEN-JONES in der Rolle des
Valjean. Alles, was ich bisher von ihm kannte, war so katastrophal, daß
er für mich ein Grund gewesen wäre, mich von der Tour fernzuhalten. Umso
größer die Freude über einen Sänger, der den großen Tonumfang der Rolle
in beide Richtungen mühelos meistert (keine Selbstverständlichkeit), und
dem es gelingt, die beiden so unterschiedlichen Aspekte der Rolle, den
verbitterten Ex-Sträfling und den Philanthropen, so gut darzustellen.
Einen
würdigen Gegenspieler hatte er in Earl CARPENTER. Er porträtierte Javert
größtenteils als steifen und emotionslosen Polizeiinspektor doch es gelang
ihm an den richtigen Stellen gerade die richtige Menge an Aufregung, Triumph
oder Wut in sein Spiel zu mischen. Und der Selbstmord war mit einer Kraft
gesungen, wie ich sie schon lange nicht mehr gehört habe. Weiterhin freut
es mich, mal wieder einen Javert zu hören, der tatsächlich die Tiefen
seiner Baritonrolle meistert (leider auch keine Selbstverständlichkeit).
Weniger
begeistert war ich von Madalena ALBERTO als Fantine. Ihr Gesang aber auch
ihr Spiel war wenig überzeugend. Das Schlimmste aber war ihr lautes Atemholen.
Es ist zwar nicht unpassend, hin und wieder zu schluchzen, aber während
ihrer beiden langen Soli holte sie so laut Luft, daß es irgendwann zu
stören anfing und mir schließlich die Möglichkeit nahm, mich auf den Gesang
zu konzentrieren, da ich nur noch auf das nächste "hhh" wartete.
Ashley
ARTUS und Lynne WILMOT als das Ehepaar Thénardier erfüllten ihre Rolle
als Comic Relief ausgezeichnet, und ohne ihre Figuren zu sehr zu überzeichnen.
Eine gute Mischung aus Frechheit, Vulgarität und aufgesetzter Hochnäsigkeit
führt dazu, daß ihre Witze trotz des fortgeschrittenen Alters jener Scherze
doch für Gelächter sorgen. Musikalisch liefern beide eine gute Leistung
ab, wobei Thénardier seine Frau noch leicht in den Schatten stellt.
Owain
WILLIAMS liefert einen überzeugenden Enjolras, der erfreulicherweise der
Rolle etwas mehr mitgeben konnte als den idealistischen, furchtlosen (man
hänge hier beliebig viele weitere Adjektive an, die normalerweise mit
Helden assoziiert werden) Rebellenführer. So zum Beispiel seine auffällige
Bestürzung, als er feststellen muß, daß das Volk seine Revolution nicht
unterstützen wird.
Weniger
erfreulich war Luke KEMPNERs Marius. Ihm stand nämlich keine andere Darstellungsart
zur Verfügung, als die des liebesblinden Trottels, und so wenig Sympathie
ich für den Charakter Marius auch habe, so finde ich doch, daß zu seiner
Darstellung etwas mehr gehört. Sängerisch war Kempner nicht schlecht,
aber auch nicht herausragend.
Etwas
schwer fällt mir der Kommentar zur Éponine von Rosalind JAMES. Ihr Gesang
war einfach eher unauffällig, zumindest ist mir absolut nichts im Gedächtnis
geblieben. An ihrer Darstellung freut mich, daß sie über ihrer ganzen
Verliebtheit nicht das vergaß, das Straßenkind heraushängen zu lassen,
sich dementsprechend zu benehmen und damit auch zu akzeptieren, hin und
wieder schlicht und einfach unsympathisch zu sein.
Die
mit Abstand größte Katastrophe des Abends war Katie HALLs Cosette. Nicht
nur daß die hohe Koloratur in "In my life" völlig neben den Tönen landete,
sie spielt außerdem einfach schlecht. Ihre Darstellung der Cosette ist
sogar für diese sehr flache Rolle zu flach, und dann gelingt es ihr noch
nicht mal das überzeugend zu tun. Stellenweise wirkte sie fast gelangweilt.
Amelia
WHITE als die kleine Cosette war gesanglich ähnlich unerfreulich wie ihr
erwachsenes Gegenstück. Und dabei zeigte sie im Gegensatz zu Hall noch
ein schauspielerisches Talent. Robert MADGE spielt den Straßenjungen Gavroche
recht überzeugend aber und auch am Gesang kann ich nichts aussetzen. Schade
ist es nur um seine Todesszene, der jegliche Glaubwürdigkeit fehlt. Und
das wiederum nimmt der Rolle einen Teil ihrer Tragik.
Unter
den größeren Nebenrollen möchte ich noch auf einen auffällig guten Bischof
von Digne in Gestalt von David LAWRENCE hinweisen. Seiner Stimme ist sofort
der Opernsänger anzuhören. Weiterhin erfreulich war der Grantaire von
Adam LINSTEAD. Nicht nur, daß er die Rolle gut spielt, seine Stimme klingt
auch nach einem Trinker, sehr rauh, aber ohne daß darunter die Musik leiden
muß. Auch sonst sind die Nebenrollen exzellent besetzt, nur fällt mir
die genaue Identifizierung beispielsweise der Studenten aufgrund der Abweichungen
von festgefahrenen Standards in Kostümierung etc. wesentlich schwerer
als sonst.
Ein
Lob noch an das stark dezimierte ORCHESTER (keine zwölf Leute) unter unbekanntem
Dirigenten. Obwohl, bei genauerer Überlegung ist es möglich, daß das Lob
eher dem Unbekanntem am Mischpult gebührt… Alles in allem hat der Abend
meine Erwartungen, die allerdings auch extrem niedrig angesetzt waren,
bei weitem übertroffen. NG
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