Die
venezianische Oper wird im Théâtre des Champs-Élysées seit Jahren besonders
gepflegt, mit Werken von Cesti, Monteverdi, Vivaldi oder Händels "Agrippina".
Der venezianische Komponist Pietro Francesco Cavalli (geboren 1602 in
Cremona, gestorben 1676 in Venedig), Schüler Monteverdis, Autor von über
dreißig (meist verschollenen) Opern, hatte eine besondere Verbindung mit
Frankreich: auf Einladung von Kardinal Mazarin komponierte er "Ercole
amante" für die Hochzeit von Louis XIV, doch die Oper wurde nie aufgeführt,
sondern durch seinen "Serse" ersetzt, was aber ein Fiasko war.
"La
Calisto" wurde im Teatro S. Apollinare in Venedig am 28. November 1651
uraufgeführt. Während der nicht sehr erfolgreichen ersten Aufführungsserie
starb der Librettist, Giovanni Faustino, drei Wochen nach der Uraufführung.
Von R. Leppard wurde "La Calisto" erst 1970 wieder für Glyndebourne ausgegraben.
Von Monteverdis Parlar cantando direkt beeinflußt, hat Cavalli die Affetti
weiter entwickelt und das Libretto mit - bisweilen sehr kurzen - Canzonetti
und Lamenti, Arietten und Duetten bereichert. Das Libretto, inspiriert
vom 2. Buch der "Metamorphosen" des Ovid, zeigt wie oft in der venezianischen
Oper, Götter, Adel und Bürger in einer Mischung von ernsten, komischen
und offen satirischen Umständen. Man muß ziemlich gut die antike Mythologie
kennen, um dem Geschehen zu folgen, denn außer Jupiter und Juno, Merkur
und Diana, kommen zahllose Nebengöttern, Nymphen, Satyre und Furien vor.
Die
Geschichte dreht sich darum, daß die Nymphe Calisto, eine Dienerin Dianas,
von Jupiter - auf Merkurs Anraten als Diana verkleidet - verführt und
von Juno in einen Bären verwandelt wird. Aber Calisto wird von Jupiter
entführt und kommt als Stern ins Firmament, was szenisch bereits nicht
ganz einfach ist! Dazu gibt es noch eine Geschichte, in der die angeblich
keusche Diana mit dem sie platonisch liebenden Hirten Endimione ein Verhältnis
anfangen will, was aber Pan verhindert, der den Nebenbuhler zuerst einmal
an eine 10 m hohe, feuerrote Pappel binden und dann in einen Käfig einsperren
und von Satyren quälen läßt. Doch das ist noch nicht genug, denn die Nymphe
Linfea, rabiater Keuschheits-Capo bei Diana, ist total mannstoll und gibt
dies in einer amüsanten, sehr direkten Arie "D'haver un consorte, io son
risoluta, voglio essere goduto ..." kund. Schließlich kommt noch Juno,
über das Betragen ihres Gesponses recht unzufrieden, und schlägt Krach.
Bei der Komplexität der Handlung ergibt das eine ziemlich lange Aufführung
- gute viereinhalb Stunden.
Macha
MAKEIEFF hat sich diese Ausgrabung vorgenommen und zeichnete für Inszenierung,
Szenographie und Kostüme. Daß bei Makeïeff kein barockes Götterdrama herauskommen
würde, war klar. Doch hier war es bisweilen übertrieben. Die Bühnenbilder
waren zwar etwas verrückt, aber immer "ansehbar". Eine gute Idee war den
Olymp als einen großen Spielwürfel von ca. 3m Seitenlänge darzustellen.
Bei jedem Auftritt der Hauptgötter Jupiter und Juno kracht es Blitz und
Donner, einige Auftritte erfolgen über Sonnen- oder Mond-Gondeln durch
die Luft. Die Farben der Kostüme und Versatzstücke sind durchwegs knallig.
Endimione trägt natürlich ein Schaf auf dem Arm, auch ein Wolf kommt einmal
vor, und die Verwandlung Calistos in einen rosaroten Teddy-Bären ist etwas
gewagt. Die Beleuchtung von Dominique BRUGUIÈRE ist großteils grell. Die
Farsa wird hier zum Kabarett. Makeïeff verfiel jedoch nicht de Versuchung
die Satire in die Jetztzeit zu versetzen. Lionel Hoche zeichnete für die
passende Choreographie. Makeïeff hat offenbar die Sänger sehr umhegt,
denn alle spielten ausnahmslos hervorragend. Die Probenarbeit war greifbar.
Christophe
ROUSSET und sein Ensemble LES TALENS LYIQUES haben sich der musikalischen
Seite der Ausgrabung gewidmet. Mit einer Schar ausgesuchter Musiker auf
antiken Instrumenten - Theorbe, Lirone usw. - ließ er die vergessene Musik
im "Urton" erklingen.
Die
ganze Show beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem Destino (Véronique
GENS), Eternità (Marie-Claude CHAPPUIS) und Natura (Cyril AUVITY) die
Unsterblichkeit der Calisto beschließen, und die Nymphe in einen Fixstern
verwandeln wollen - was ja schließlich passiert!
Sophie
KARTHÄUSER war als Nymphe Calisto zu hören. Die junge Belgierin hat in
den letzten zwei Jahren große Fortschritte und einen erheblichen Aufstieg
verzeichnet. Da sie jung und hübsch ist und außerdem einen glockenreinen
Sopran besitzt und vorzüglich phrasiert, ist sie als Calisto natürlich
ideal. Sie macht in ihrer Innigkeit ein glaubhaftes Wesen aus dieser pseudo-mythischen
Figur. Ihr Verführer, der Göttervater Zeus war ein weiterer junger Sänger,
Giovanni Battista PARODI, der dem Giove seine hünenhafte Statur und seinen
vollen Baß lieh. Er amüsierte sich sichtlich bestens, wenn er als Diana
verkleidet im Falsett singen muß und die kleine süße Nymphe vernascht.
Prächtig! All das wurde von dem Kuppler Merkur ausgeheckt, den Mario CASSI
blendend sang und Merkur als Drahtzieher darstellte.
Die
keusche Jagd-Göttin Diana, die über die Keuschheit recht relative Ansichten
hat und einem Liebesabenteuer nicht abgeneigt ist, war bei Marie-Claude
Chappuis in besten Händen. Sie singt nicht nur hervorragend und geschmackvoll,
sondern sie spielt auch sehr gut die zwielichtige Rolle. Ihre Dienerin,
die Keuschheits-Fanatikerin Linfea, Zeugin der allgemeinen göttlichen
Lasterhaftigkeit, will schließlich selbst "an den Mann" kommen und war
mit Milena STORTI bestens besetzt. Sie besitzt einen warmen Mezzo, phrasierte
perfekt und spielte die nymphomanische Nymphe mit umwerfender Komik.
Daß
das alles der Götterchefin nicht ins Zeug paßt, ist natürlich klar, und
Véronique Gens brachte für die ziemlich hantige Giunone die nötige tragische
Stimme, die hervorragend trägt. Daß sie eine hervorragende Schauspielerin
ist, ist bekannt, ebenso wie die Tatsache, daß sie eine wirklich schöne
Frau ist. Ein Augen- und Ohren-Schmaus!
Der
einzige, der platonisch liebt in der ganzen lasterhaften Truppe, ist der
Hirt Endimione (mit Schäfchen auf dem Arm), dem der Contratenor Lawrence
ZAZZO Musikalität und Ausdruck der Rolle verlieh. Sein Gegenspieler, der
Wald-Gott Pan war mit Cyril Auvity sehr gut besetzt. Bei ihm geht es aber
schon gar nicht platonisch zu, sondern er will Diana mit allen Mitteln
kriegen, und dabei helfen ihm eine ganze Reihe Waldgeister und Satyre,
angeführt von dem sehr schön singenden Graeme BROADBENT als Sylvano und
Sabina PUÉRTOLAS als Satirino. Félix DESCHAMPS gab Amore, einen etwas
faulen Liebesgott.
Viel
Applaus für die Künstler, trotz der sehr späten Stunde. wig.
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