"Billy
Budd" ist eine moralische Fabel über das Böse in der Menschheit im Allgemeinen
und im Militär (hier der Kriegsmarine) im Besonderen, nach der gleichnamigen
Novelle von Herman Melville. Die beiden Autoren Edward M. Forster und
Eric Crozier haben einen Text von besonderer Dichte und packenden Kontrasten
geschaffen, mit zwei Extrem-Figuren. Auf der einen Seite der bösartige
John Claggart, der alles und alle haßt, ein Teufel schlechthin, was er
in seinem Monolog am Ende des 1. Akts klar ausspricht. Ihm gegenüber die
"christische" Lichtfigur des Billy Budd, ein "reiner Tor", Findelkind
und Stotterer, dem in seiner Naivität jegliche Schlechtigkeit fehlt. Zwischen
diesen beiden Extremen tummelt sich die Menschheit in ihrer alltäglichen
Banalität, hier die Seeleute des H.M.S. "Indomitable" unter dem Kommando
des Kapitäns Edward Fairfax Vere, der einzige der fähig ist zu denken
und zu handeln. Aber wie seine Offiziere versteckt er sich hinter den
Vorschriften und bringt nicht die Courage auf, Billy Budd zu retten: "We
have no choice!".
Denn
der Konflikt in dieser Falle ist von lapidarer Einfachheit. Der homosexuelle
Claggart ist von dem neuen Rekruten Billy Budd angezogen - er nennt ihn
"Beauty". Da er ihn nicht physisch besitzen kann, will er ihn mit allen
Mitteln zerstören oder zumindest beherrschen, selbst durch Bestechung
von Seeleuten. Er klagt schließlich Billy Budd der Meuterei an, doch Billy
hat einen Stotter-Anfall und bringt kein Wort heraus und kann sich nicht
verteidigen - oder besser doch, denn er gibt Claggart einen gut gezielten
Faustschlag, der diesen tötet. Das Kriegsgericht der Offiziere verurteilt
Billy Budd zum Tod durch den Strang. Vere unterschreibt das Urteil, genau
wissend, was Claggart im Sinne hatte. Billy Budd wird vor der kompletten
Mannschaft - und mit ihrer Teilnahme - gehenkt, und man fühlt, daß die
brauende Revolte früher oder später ausbrechen wird. Beängstigend!
Benjamin
Britten war selbst offen homosexuell und absoluter Pazifist (er emigrierte
während des Krieges nach USA um nicht zum Militär zu gehen). Er hat hier
eines der packendsten Werke der Opern-Literatur geschrieben. Seine nicht
einstufbare Musik kann in den zahlreichen Chor-Szenen einzig mit der elisabethanischen
Musik in Verbindung gebracht werden. Aber für die Solisten gibt es auch
arienhafte Monologe, wie das "Credo" Claggarts, das ganz offenbar von
dem Jagos inspiriert ist. Die sonst atonale Musik - nicht im Sinne der
Dodekaphonie, sondern im Verhältnis mit der Musik bis Mahler - besonders
das Fehlen jeglicher Kantilene, ist deshalb sehr schwer zu singen. Die
Oper ist auch dank der ungewöhnlichen Handlung auf die "schwimmende Festung"
des "Indomitable" beschränkt und deshalb für die Darsteller und Regisseur
eine außergewöhnliche Herausforderung. Klaustrophobisch dürfen die Sänger
nicht sein...
Diese
nun 3. Wiederaufnahme der Produktion von 1996 von Francesca ZAMBELLO hat
nichts von der Großartigkeit und Brutalität der Premiere verloren. Es
ist eine der besten Aufführungen der Bastille-Oper überhaupt. Die amerikanische
Regisseurin weiß die ungewöhnlichen Möglichkeiten der Maschinerie der
Bastille-Oper auszunützen - wie niemand anderer. Die eigentlich einfache
Szenographie von Alison CHITTY ist völlig praktikabel, mit aufklappbarem
Deck und grellen Scheinwerfern, und erlaubt Szenenwechsel in Sekundenschnelle.
Der 10 m große Hauptmast mit zwei Querbalken dominiert alles wie ein Fanal
in der Form eines Kreuzes. Alison Chitty hat auch die Kostüme entworfen,
zwischen genau historischen Uniformen für die Offiziere und Maate bis
zur minimalen Bekleidung für die Seeleute. Der englische Lichtregisseur
Alan BURRETT zeichnete für die phänomenale Beleuchtung des Schiffes und
seiner Besatzung.
Jeffrey
TATE hatte diesmal die musikalische Leitung inne. Er leitete das ORCHESTRE
DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS mit fast religiöser Überzeugung, um die schwierige
Musik seines Landsmannes dem französischen Publikum zu vermitteln. Der
von Patrick Marie AUBERT einstudierte CHOR und KINDERCHOR DER OPÉRA NATIONAL
DE PARIS agierte und sang phantastisch. Ergreifend der praktisch wortlose
Chor am Ende der Oper.
Die
rein männliche Oper hat essentiell drei Rollen, alle anderen sind Comprimarii.
Im Vorspiel erscheint der gealterte Kapitän Edward Fairfax Vere, der sein
Gewissen befragt, Jahre nach den Geschehnissen. Kim BEGLEY gab hier eine
erschütternde Charakterstudie. Für diese Rolle bringt Begley die ideale
Stimme, diesen hellen, doch kraftvollen Tenor mit hervorragender Diktion.
Abgesehen davon, daß der englische Sänger hervorragend spielt und die
ganze Tragik der verspäteten Reue umwerfend ausdrückt, ebenso wie seine
Resignation nach dem Unterschreiben des Todesurteils.
Für
ein Hausdebüt hatte der Amerikaner Lucas MEACHEM nicht die leichteste
Rolle gewählt, denn Billy Budd ist wohl eine der darstellerisch und stimmlich
schwierigsten überhaupt. Seine große Statur und sein intensives Spiel,
gepaart mit einem kraftvollen, gut geführten Bariton, wusste er wunderbar
anzuwenden um dieses naive Naturkind darzustellen. Sein Gegenspieler,
der böse John Claggart, wurde durch Gidon SAKS unglaublich packend gestaltet.
Sein voller schwarzer Baß ist ideal für diese Rolle. Sein Haßmonolog am
Ende des 1. Akts war eine Meisterleistung an gesanglicher Darstellung.
Die
Offiziere Mr. Redburn, Mr. Flint und Leutnant Ratcliffe wurden von Michael
DRUIETT, Paul GAY und Scott WILDE sehr passend als sture, gefühllose Militärs
dargestellt. Dem zwangsrekrutierten Kaufmann aus Bristol, genannt Red
Whiskers, gab Andreas JÄGGI eine treffende persönliche Note. Sehr gut
auch der Novice (Neuling) von François PIOLINO, der zuerst ausgepeitscht
und dann von Claggart zum Spionieren an Billy Budd angehalten wird. Der
erste Spion, Squeak, der von Billy ertappt wird und eine Messerstecherei
beginnt, wurde sehr gut von John EASTERLIN gezeichnet. Die anderen Matrosen
des Schiffs waren alle ausgezeichnet: Donald (Igor GNIDII), Dansker (Yuri
KISSIN), Bosun (Franck LEGUÉRINEL, Maintop (Paul CRÉMAZY), der vom oberen
Querbalken in ca. 8 m Höhe singt, sowie der Freund des Neulings (Vladimir
KAPSHUK). Zahlreiche kleinere Rollen wurden von Mitgliedern des Chors
bzw. des Pariser Opernstudios mehr als zufriedenstellend gespielt.
Tobender
und langer Applaus des nicht ganz vollen Hauses. wig.
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