Shakespeare
und Schiller haben Verdi sein ganzes Leben lang begleitet und viele Meisterwerke
ergeben. Das Libretto für "Don Carlos" von Joseph Méry und Camille du
Locle ist eines der besten und packendsten. Die vieraktige italienische
Version "Don Carlo" ist sehr beliebt in Paris und üblich und bereits mehrmals
in den letzten Jahrzehnten inszeniert worden. Nur einmal gab es vor 15
Jahren im Châtelet die fünfaktige französische Fassung. Graham VICKs Inszenierung,
auch bereits zwölf Jahre alt, ist nun zum fünften Mal wieder aufgenommen
worden und nach wie vor sehr sehenswert. "Don Carlo" auf der riesigen
Szene der Bastille-Oper in minimaler Ausstattung von Tobias HOHEISEL zu
zeigen, entspricht dem Sinn und der Musik des Werks.
Schon
die 1. Szene im Kloster San Juste, ganz in schwarz-weiß gehalten, mit
einem riesigen Kreuz kleiner Kerzen am Boden und großen Kreuz-Projektionen
auf den Wänden, gibt bedrückend die Atmosphäre Spaniens der Inquisition
wieder. Im letzten Bild ist dieses Kreuz etwas versenkt und unbeleuchtet,
in dessen Mitte Don Carlo symbolisch ermordet wird. Beim Autodafé strömt
das Volk vor der Projektion eines riesigen Büßer-Kleids auf die Bühne,
das von einem großen Tor einer barocken Kathedrale abgelöst wird, aus
dem König Philipp II. alleine heraus schreitet, mit dem ganzen Prunk des
spanischen Hofs, mit Krone, Szepter und Reichsapfel. Diese Einsamkeit
des Monarchen ist sehr packend in Philipps großer Szene
im
3. Akt unterstrichen, in welcher der König alleine am großen Schreibtisch
sitzt und nur durch eine durchsichtige Wand vom streitsüchtigen Grossinquisitor
getrennt ist. Auch die passenden, klassischen Kostüme, ebenfalls von Tobias
Hoheisel, unterstreichen diese Stimmung des Werks. Für die ausgezeichnete
Beleuchtung zeichnete Matthew RICHARDSON.
Vor
über vierzig Jahren habe ich einmal eine solch eindrucksvolle Produktion
von "Don Carlo" erlebt, und zwar die von Jean Vilar 1969 in Verona, seine
einzige Operninszenierung und die letzte überhaupt. Die völlig leere Bühne
beherrschte ein etwa 15 m hohes, rot bemaltes Kreuz und die Ausgänge der
Bühne in den Gradinate waren mit großen Gittern versperrt. Nur ein großer
Globus und ein Tisch waren die Versatzstücke auf der riesigen Bühne der
Arena, und ein junger, unbekannter Tenor debütierte in Italien, ein gewisser
Placido Domingo.
Die
Sänger waren an der Grenze der Perfektion. Als Don Carlo war Stefano SECCO
stimmlich ungewöhnlich glaubhaft, denn sein strahlender spinto-Tenor ist
absolut perfekt für die Rolle. Er spielt den von seinem Vater unverstandenen,
gequälten, unglücklichen, sensiblen Kronprinzen mit Bravour und Eifer
und nicht als Psychopathen. Schade, daß er nicht ein wenig größer ist,
denn sein Freund Rodrigo di Posa? war Ludovic TÉZIER, Marchese bis in
die Fingerspitzen, eine in allen Belangen dominierende Figur. Seine Stimme
ist am Höhepunkt, das Duett des 1. Akts "Dio che nell'alma infondere"
war großartig und absolut perfekt. Welche phantastische Stimme!
Als
Königin Elisabeth von Valois war Sondra RADVANOVSKY absolute Sonderklasse.
Sie sieht bestens aus, spielt die Rolle hervorragend und sang göttlich.
Ihre beiden Auftritte mit Don Carlo waren Höhepunkte der Leidenschaft
und Verzweiflung, besonders in ihrer letzten Arie in San Juste "Tu che
vanità conoscesti del mondo" konnte sie ihre perfekte Gesangskunst zeigen
und ging unter die Haut. Hinreißend! Die neue Tebaldi! Prinzessin Eboli
wurde von Luciana D'INTINO mit viel Temperament dargestellt. "O don fatale"
war zerknirscht und erschütternd, während sie das Schleierlied sehr subtil
sang.
Elisabeths
Gatte Filippo II war ebenso ausgezeichnet. Giacomo PRESTIA hat die Statur
und die Stimme für die königliche Rolle. Bereits die große Arie "Ella
giammai m'amò!" in seinem leeren Zimmer erschütterte und die folgende
Konfrontation mit dem Großinquisitor war sehr eindrucksvoll, zumal Victor
von HALEM in dieser schrecklichen Rolle die ganze Erfahrung seiner langen
Karriere einsetzte. Die Stimme ist nach wie vor ausdrucksvoll und trägt
prächtigst.
Spätestens
in dieser Szene war die Schwäche des Dirigats offenbar. Das ORCHESTER
DER PARISER OPÉRA war hörbar in großer Form, aber der Aufführung fehlte
der Atem, die Seele, die Steigerung. Carlo RIZZI schlug brav Takt und
gab bisweilen Einsätze an Sänger oder Instrumentalsolisten. Besonders
in der Szene zwischen dem Großinquisitor und dem König ist die Spannung
derartig greifbar, wenn sich die beiden Streiter in jeder Antwort um einen
Ton höher konfrontieren. Es ist die Rolle eines Dirigenten, dies heraus
zu holen. Davon war diesmal keine Rede, und an vielen Stellen - bereits
im Autodafé-Akt - hatte man das Gefühl, daß das Orchester dem Dirigenten
den Rhythmus angab und nicht umgekehrt! Der Wermutstropfen in dieser Prachtaufführung!
Zumal der PARISER OPERNCHOR unter der Leitung von Patrick Marie AUBERT
mächtig eingriff.
Unter
den Comprimarii ragte vor allem der Frate von Balint SZABO hervor, der
mit großer Stimme die Oper begann und beendete. Nahuel di PIERRO, Alexandre
DUHAMEL, Michal PARTYKA, Vladimir KAPSHUK, Ugo RABEC und Damien PASS stürzten
sich als flämische Abgeordnete zu Philipps Füßen, um Gerechtigkeit zu
erbitten. Elisa CENNI als Tebaldo war passend besetzt, ebenso wie Olivia
DORAY als Stimme vom Himmel und Jason BRIDGES als Conte di Lerma.
Am
Schluß wurden die Sänger stürmisch vom Publikum gefeiert, beim Erscheinen
des Dirigenten waren einige Buhs zu hören. wig.
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