Was
für Heldenbaritone Wotan ist, ist für einen Verdi-Bariton Verdis Falstaff,
ein "Muß". Diese Rollen sind für Spitzensänger sozusagen der Lackmus-Test.
Wenn man kein Schwergewicht ist, muß man sich für den Falstaff ausstopfen,
und eine Schwitzkur über sich ergehen lassen. Diesmal hat sich Anthony
MICHAELS-MOORE der Kur unterworfen, der vor neun Jahren im Châtelet noch
Ford sang. Der elegante Schotte ist als Vaterfigur in Verdi-Rollen mit
seinem vollen Kavaliers-Bariton auf allen großen Bühnen der Welt bekannt.
Sein Falstaff wurde deshalb mit großem Interesse erwartet. Er hat die
"Schwitzprobe" großartig bestanden.
Es
war zu erwarten, daß er keinen röhrenden, polternden Angeber darstellen
würde, sondern einen herunter gekommener Gentleman, was er bereits in
der 1. Szene mit "L'onore" zeigte. Auch seine Werbung um Alice und Meg
ist immer von britischem Understatement geprägt. Er zeigte sich aber im
letzten Bild als der Drahtzieher der ganzen Handlung, wenn er Bardolfo
entlarvt. Unverständlicher weise wurde die fulminante Schlußfuge "Tutto
e burla" von allen Mitwirkenden sitzend gesungen, festgeschraubt auf ihren
Sitzen und Plüschbänken. Eher ein Familien-Bild des 18. oder 19. Jahrhunderts,
als der Schluß einer der lebendigsten Opern des Repertoires.
Ebenso
unerwartet war die Alice Ford von Anna Caterina ANTONACCI. Diese großartige,
für dramatische, ja blutrünstige, Rollen bekannte Tragödin, hat mit Verdis
letzter Oper eine schöne, leichte Abwechslung gewählt und sie brillant
auf die Bühne gestellt. Es war klar, daß sie stimmlich nicht enttäuschen
würde. Doch die kluge Leichtigkeit in ihrem Spiel zeigte das ungewöhnliche
Talent dieser Künstlerin. Ihre "Nebenbuhlerin" Meg Page hatte es natürlich
schwer, obwohl Caitlin HULCUP die Rolle bestens sang und spielte.
Im
süßen Liebespaar, das Vater Ford einen Streich spielt, sang der junge
Sizilianer Paolo FANALE den Fenton, der einen sehr gepflegten tenore di
grazia besitzt, was er gut in den verschiedenen kurzen Kuß-Szenen mit
der hübschen Nannetta von Chen REISS, mit schönem, gut geführten Sopran,
zeigte. Beide spielten treffend in der Intrige mit.
Marie-Nicole
LEMIEUX als Mrs. Quickley bot ein Gustostück. Sie ließ unwillkürlich an
die unvergeßliche Giulietta Simionato denken, denn in Geriebenheit in
Spiel und stimmlichem Ausdruck ("Reverenza!") konnte die junge Kanadierin
es mit dem großen Vorbild aufnehmen. Ein zweiter Kanadier, Jean-François
LAPOINTE, als Mr. Ford war ganz ausgezeichnet. Er machte einen eindrucksvollen
Auftritt bei Falstaff, und seine folgende, hoch gesetzte, Rachearie war
von überzeugender Intensität.
Die
beiden Saufbrüder Falstaffs, Pistola und Bardolfo, waren mit Federico
SACCHI und Patrizio SAUDELLI gut besetzt. Diese zwielichtigen Rollen können
leicht ins Outrieren ausarten, was beide hier vermieden. Ein große Überraschung
war der Dr. Cajus von Raul GIMENEZ, den manche Leser noch als den romantischen
italienischen Liebhaber-Tenor der achtziger und neunziger Jahre in Erinnerung
haben. Mit seiner langen Erfahrung stellte er einen wirklichen Gentleman
und keine klägliche Figur dar, zumal er nach wie vor Höhen ins Theater
schmettern kann wie wenige. Eine phantastische Charakterstudie!
Auch
Dirigenten - vor allem Italiener - müssen sich ebenfalls an "Falstaff"
messen. Daniele GATTI, seit Herbst 2009 Chef-Dirigent des ORCHESTRE NATIONAL
DE FRANCE, das erste Rundfunkorchester Frankreichs, dirigierte und hatte
sein neues Orchester gleich in den Graben gesteckt. Er war sichtlich in
seinem Element, denn die Feinheiten der Partitur ziselierte er mit großer
Liebe und Detail heraus, ebenso wie die schwellenden accelerandi in den
großen Ensembles, wo er das phänomenale Blech des Orchester National schmettern
ließ. Der CHOR DES THÈÂTRE DES CHAMPS-ÉLYSÉES in Frack oder Overall beteiligte
sich eifrigst und stimmgerecht an der allgemeinen Verwirrung.
Über
die Inszenierung von Mario MARTONE kann man allerdings geteilter Meinung
sein. Nicht die Übertragung der Handlung in die Zeit der Komposition ist
das Problem. Aber Falstaff als Querkopf zu sehen, der die die "bürgerliche
Gesellschaft" schockieren und zerstören will, ist völliger Humbug. "Falstaff"
hat aber schon gar nichts mit Klassenkampf zu tun. Dazu erzählt Mario
Martone im Programm von einem zeitgenössischen Falstaff-Theaterprojekt
in Neapel, das ihm als Studienrahmen diente. Man sieht dies auch im Einheits-Bühnenbild
von Sergio TRAMONTI, das im Hintergrund von einer eisernen Stiegen-Konstruktion
beherrscht wird und auf der Vorderbühne mit verschiedenen, passenden Versatzstücken
möbliert wird. Diese Industrieruine dient hauptsächlich für die Rendezvous
von Nanetta und Fenton, zum Garderobe-Wechsel von Falstaff und den Intriganten
als Beobachterposten. Diese Konstruktion ist selbst im Schlußakt sichtbar,
wo sie mit drei verdorrten Bäumchen geziert wird, bis eine riesige rote
Eiche dahinter projiziert wird. Doch hier stört der blecherne Kram enorm,
denn das Träumerische und Feenhafte fehlt völlig. Schade!
Die
Kostüme von Ursula PATZAK waren dafür sehr hübsch und passend, Bardolfo
war in einer abgerüsteten Militärkluft. Pasquale MARI sorgte für die passende
Beleuchtung, bis auf die läppische Strahle in der Mitte der Bühne im Schlußbild,
die Falstaff übergroß auf den Hintergrund projizierte; die hätte auch
anderswo verstaut werden können.
Das
schicke Premierenpublikum applaudierte frenetisch und feierte die Künstler
herzlichst - trotz der Industrieruine. wig.
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