In
der italienischen Opernliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts war "Geheimnistuerei"
sehr beliebt. "Tancredi" gehört dazu, wie "Semiramide" oder "Zelmira"
vom selben Rossini. Denn in allen "Geheimnistuerei-Opern" kennt meist
nur eine Person das Geheimnis, das erst in den letzten fünf Minuten von
einem "Deus ex machina" gelüftet wird. Pietro Metastasio hatte dieses
Genre geschaffen und zur Perfektion geführt. Die Libretti der beiden ersten
Melodramme hat allerdings Gaetano Rossi auf dem Gewissen, und beide haben
Tragödien von Voltaire als Vorlage. Nicht unbedingt das Beste, was der
der große Philosoph geschrieben hat. In den etwa drei Dutzend Bänden der
Gesamtausgabe in der noblen "Collection de la Pléiade" sind diese Stücke
wohlweislich nicht eingeschlossen.
Hätte
Amenaïde nämlich gesagt, daß der abgefangene Brief nicht an den Sarazenen-Fürsten
Solamir gerichtet war, sondern an Tancredi, wäre die Oper nach einer halben
Stunde aus … und Rossini hätte seine zwei Dutzend Kavatinen, Cabaletten,
Ensembles und Bravour-Arien nicht geschrieben. Doch grad hier waren diese
für den zwanzigjährigen Rossini entscheidend, denn er wurde 1812 an der
Fenice mit "Tancredi" über Nacht berühmt.
"Tancredi"
ist in vieler Hinsicht ein Unikum. Bereits die sehr militärische Ouvertüre
wird fast ständig von dem einzigen Schlagzeug, einer großen Trommel mit
Becken drauf, verwendet - so ein Instrument mit dem Bajazzo in Leocavallos
Oper auf die Bühne kommt, das eher in einer Banda municipale in Terni,
Rovigo oder Benevent findet. Diese Banda-Trommel wird viel eingesetzt.
Sie begleitet auch regelmäßig den Männer-Chor, in dem mehrmals Tenöre
und Bässe sich gegenseitig antworten und in die Arien eingreifen. Viele
der Arien und Ensembles werden von Violine, Holzbläsern oder Trompete
solistisch begleitet. "Tancredi" ist deshalb musikalisch äußerst abwechslungsreich.
Einer der Höhepunkte ist das Gottesgericht, bei dem Tancredi den bösen
Orbazzano erschlägt und zum König ausgerufen wird - hat sich da Wagner
für "Lohengrin" etwas abgeguckt?
"LA
GRANDE ÉCURIE ET LA CHAMBRE DU ROY" ist eines der französischen barocken
Kammerorchester, die seit vielen Jahren die französische Barock- und Klassik-Szene
bevölkern. Die "Grande Écurie" ist von dem Dirigenten (und Oboisten) Jean-Claude
MALGOIRE 1966 gegründet worden und hat sich in der ramponierten Textilstadt
Tourcoing in Nordfrankreich, östlich von Lille, eingenistet. Er gründete
auch 1981 das "Atelier Lyrique de Tourcoing", aus dem ein professioneller
Kammerchor, das "ENSEMBLE VOCAL", hervorgegangen ist und wo Malgoire viele
junge Sänger dem Publikum vorgestellt hat. Viele der heute bekannten Sänger
sind bei ihm erstmals aufgetreten und danken ihm dies, in dem sie immer
wieder bei ihm singen. Viele Jahre hat sich Malgoire vornehmlich mit Barockmusik,
mit Bach-Passionen, Händel-Opern und einer Mozart - Da Ponte - Trilogie
einen Namen gemacht. Wie viele seiner Barock-Kollegen, ist Malgoire in
die Klassik, Romantik und weiter vorgestoßen.
In
einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Théâtre des Champs Elysées bringt
das Ensemble alljährlich eine szenische Produktion aus Tourcoing konzertant
nach Paris. Nach Rossinis "Ciro in Babilonia" (auch 1812 komponiert) vor
zwei Jahren, ist dies nun die zweite opera seria von Rossini, die Malgoire
in Paris spielt. Man sieht, daß die Oper bereits szenisch gespielt und
heftigst geprobt worden ist, denn die Sänger in Straßenkleidung singen
auswendig und spielen hinter dem Rücken des Dirigenten, d.h. vor dem Orchester
an der Rampe. Was sehr ungewöhnlich ist, aber für die hohe Qualität der
Sänger und viel Probenarbeit spricht.
Die
hier gespielte Fenice-Version von 1812 endet tragisch, denn Tancredi,
der in der Schlacht mit Solamir schwer verwundet wurde, stirbt in den
Armen von Amenaïde. In der Ferrara-Version von 1813 endet die Oper mit
einem happy end, das zu einem fröhlichen Sextett Anlaß gibt. Als Zugabe
gab das Ensemble das glückliche Finale "Felicità!", natürlich vom Publikum
begeistert empfangen.
Auch
diesmal waren hervorragende Sänger zu hören. Die Titelrolle hatte Nora
GUBISCH inne, die man kaum mehr als Nachwuchssängerin bezeichnen kann
und sich einen Namen im modernen Repertoire gemacht hat. Ihr Umstieg ins
romantische Koloratur-Fach erweckte große Erwartungen. Ihr prachtvoller
Mezzosopran ist dunkler geworden, so daß man fast von einem Alt sprechen
kann. Sie besitzt eine dieser wunderbaren seltenen Bronze-Stimmen, die
die Intensität der Rolle männlicher macht. Was in keiner Weise ihre phänomenalen
Höhen oder die Agilität der Stimme in Frage stellt. Phantastisch! Elena
de la MERCED sang Tancredis Geliebte Amenaïde. Die junge Katalanin besitzt
eine ungewöhnlich kraftvolle Stimme, die man in die Kategorie soprano
drammatico di agilità einreihen kann. Bereits ihre von Koloraturen gespickte
Auftrittsszene "Come dolce all'alma mia" war ein Triumph. Und es gibt
hier noch viele solcher Arien. Eine künftige Anna Bolena, Maria Stuarda
oder Medea!
Ihren
Vater Argirio, den Herrscher von Syracusa, gab Filippo ADAMI mit geschmeidigem,
aber noch nicht ganz vollends geformtem Tenor eine sehr glaubhafte Darstellung.
Auch diese Rolle hat zahlreiche Koloraturarien, die heute nur wenige Tenöre
besser singen könnten, außer vermutlich Juan Diego Florez. Orbazzano,
der auf den Thron von Syracusa will und auch Amenaïde hofiert, war der
hünenhafte junge Baß Christian HELMER, von dem man auch noch hören wird.
Er hat zwar eine recht unangenehme Rolle, denn er ist es, der Amenaïde
des Hochverrats bezichtigt.
Als
Amenaïdes Freundin Isaura, die auch in das Geheimnis eingeweiht ist und
schließlich alles dem Vater verrät, war Gemma COMA-ALABERT mit schönem
Mezzo mehr als zufrieden stellend. In der kleinen Rolle des Roggiero,
dem Freund Tancredis, war die blutjunge Sopranistin Valérie YENG-SENG
sehr passend. Trotz ihres Namens stammten ihre Vorfahren vermutlich vom
Südrand des Mittelmeers und nicht aus China. Besonderen Dank verdienten
auch der Studienleiter und Cembalist der Aufführung Benoît HARTON, sowie
der Soloviolinist Philippe COUVERT.
Eitle
Freude und Wonne und viel Applaus für die Sänger, Alt-Meister Malgoire
und das ganze Ensemble. wig.
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