Erstaufführung
an der Pariser Oper
Und
nun Nummer 3! Das ist nämlich die dritte Erstaufführung in drei Monaten
der neuen Direktion an der Pariser Oper. Direktor Nicolas JOEL beginnt
seine erste Saison mit Vollgas! Obwohl "Andrea Chenier" vor Jahrzehnten
auf Französisch an der Opéra comique gespielt worden ist, hat es Giordanos
Meister-Oper nie in die Pariser Oper geschafft. Wohl ein Beweis von Vernachlässigung
des Repertoires!
Denn
Umberto Giordano (1867-1948) ist sehr zu Unrecht vernachlässigt worden.
Und nicht nur in Frankreich und besonders Paris. Denn von seinen vierzehn
Opern werden nur mehr "Andrea Chenier" und bisweilen noch "Fedora" und
äußerst selten "Siberia" aufgeführt. "Andrea Chenier" ist ein Meisterwerk
und in seiner außergewöhnlichen Dramatik und aufgelösten Tonalität für
seine Zeit ungewöhnlich "modern" - vier Jahre vor "Tosca" - aber enthält
viel weniger Ohrwürmer.
Die
Rolle des Chenier gehört zu den dramatischsten des italienischen Repertoires,
mit der der junge Tenor Giuseppe Borgatti bei der Scala-Uraufführung am
28. März 1896 über Nacht berühmt wurde (ebenso wie Enrico Caruso als Loris
Ipanov in "Fedora" zwei Jahre später). Gustav Mahler schätzte die Oper
sehr und leitete bereits ein Jahr nach der Mailänder Uraufführung in Hamburg
die deutschsprachige Premiere. Luigi Illica hat ein sehr geschicktes Libretto
für dieses "Dramma istorico" gedrechselt, das die tragische Handlung spannungsvoll
zur Geltung bringt. Und Giordano hat den Sängern ausgesprochen "dankbare
Rollen" geschrieben, sogar den Comprimarii.
Die
Vorstellung war in allen Belangen mustergültig. Obwohl die Inszenierung
von Giancarlo DEL MONACO von der Pariser Kritik verrissen wurde, waren
die Bühnenbilder von Carlo CENTOLAVIGNA und die Kostüme von Maria FILIPPI
äußerst passend. Wenn der Vorhang aufgeht, zünden Lakaien auf Leitern
die Kerzen eines riesigen Rokoko-Kronleuchters an, der dann hochgezogen
wird. Die Gäste der Comtesse de Coigny, einheitlich in schwarze Roben
und Gehröcke mit ausgefallenen Perücken gekleidet, charakterisieren die
triste Gesellschaft des Fin de règne sehr treffend, was auch für die kleine
Bühne auf der Bühne gilt, auf der lächerliche Hirtenspiele (Mini-Choreographie
von Laurence FANON) vor einem gelangweilten Publikum des Ancien Régime
aufgeführt werden.
Im
2. Akt störten einige Anachronismen: die Terrasse des Feuillants ist ein
Teil der Tuillerien-Gärten und kein klobiges Gebäude, auf der Roucher
Chenier den Paß gibt und sich dann das Tribunal einfindet. Aber dadurch
konnte Chenier darunter seine Geliebte Maddalena di Coigny? treffen und
Gérard konnte beide belauschen. Der Altar für Marat um den Obelisken,
den Napoleon erst zehn Jahre später in Ägypten gestohlen hat und vor dem
die Carmagnole getanzt wird, war nicht sonderlich befriedigend und zu
weit im Hintergrund, so daß man ihn von den Seitensitzen überhaupt nicht
sah. Der 3. Akt begann auf praktisch leerer Bühne, hinten von einer riesigen
Trikolore abgegrenzt, bevor dann der Zuschauerraum eines Theaters hereinrollt,
in dessen Logen sich die Revolutionäre tummeln, während das Revolutionstribunal
im Vordergrund beginnt. Den Schlußakt dominiert ein riesiges Gitter, vor
dem sich Chenier und Maddalena wieder finden. Die Beleuchtung von Wolfgang
von ZOUBEK war durchwegs passend.
Der
musikalische Teil der Aufführung war einfach großartig. Ein Spezialist
des italienischen Repertoires, Daniel OREN, stand am Pult und zeigte sich
von seiner besten Seite. Er wußte die Sänger nicht nur gut zu begleiten,
ja zu großartigen Leistungen anzustacheln, sondern vermied auch, sie zuzudecken.
Er arbeitete die ungewöhnliche Dramatik der schillernden Musik brillant
heraus. Das ORCHESTRE DE L'OPÉRA DE PARIS war von dem Maestro sichtlich
angetan, denn das Orchester feierte ihn mit einer "standing ovation" am
Ende des Abends. Hervorragend! Der CHOR DER OPÉRA NATIONAL DE PARIS unter
der Leitung von Patrick Marie AUBERT (aus Toulouse importiert) war ebenfalls
in seinem Element und spielte mit großem Einsatz.
Marcelo
ALVAREZ war als Andrea Chénier ein träumerischer romantischer Dichter.
Der kräftige spinto-Tenor des Argentiniers trägt hervorragend und sang
die schwierige Rolle mit fast heldischen Tönen. Er gestaltet auch die
lyrischen Stellen mit Maddalena mir großem Einsatz. Manchmal schluchzt
er ein wenig zu viel. Sein "Avviso" im 1. Akt war von ausgesuchter Finesse,
sein "Si, fu soldato" im 3. Akt war heroisch und stolz. Der Tenor erhielt
mehrmals Szenenapplaus. Micaela CAROSI war seine Geliebte Maddalena di
Coigny und vermittelte die große Steigerung von der sorglosen Aristokratin
zur gereiften Frau mit prachtvoll strahlender Stimme, die keinerlei Schwierigkeiten
scheut. Mit ausgezeichneter Diktion sang sie die spektakulären Höhen,
sowie "La mamma morta" mit lyrischer Innigkeit.
Carlo
Gérard, der Spielgenosse ihrer Kindheit, der sich in sie verliebt, war
wie in Toulouse vor zwei Jahren Sergei MURZAEV, dessen Stimme sich sehr
erfreulich entwickelt hat. Das rauhe, etwas vulgäre Pressen der Stimme
ist völlig verschwunden und hat sich zu einem ungewöhnlich melodiösen
und breiten Bariton entwickelt. Seine kraftvolle Stimme ist für die Rolle
des revoltierenden Lakaien ideal, zumal er auch ausgezeichnet spielt.
Er wird ein großer Nabucco und Macbeth werden. Eine sehr erfreuliche Entwicklung!
Auch Stefania TOCZYSKA als Comtesse di Coigny war bereits in Toulouse
zu hören und dominierte die nicht sehr große Rolle mit ihrer ausgeprägten
Bühnenpersönlichkeit. In der kurzen, aber wichtigen Rolle der Bersi war
Francesca FRANCI ganz richtig am Platze.
Die
meisten anderen Sänger hatten wir mit wenigen Ausnahmen bereits im Vorjahr
in Toulouse gesehen. Vor allem Maria José MONTIEL als Madelon, die in
ihrem rührenden Lied, in dem sie ihren Enkel der Nation opfert, auch mit
verdientem Applaus belohnt wurde. André HEYBOER als Roucher, ebenso wie
Igor GNIDII als Fléville waren rollendeckend. Die anderen Nebenrollen
hatten auch in Toulouse schon gesungen und waren alle passend: Antoine
GARCIN als Fouquier-Tinville, David BIZIC als Sanculotto Mathieu,
Carlo BOSI als Incredibile, Bruno LAZZARETTI als Abate, Ugo RABEC als
Schmidt und Guillaume ANTOINE als Dumas.
Tobender
Beifall für alle Künstler des nach italienischer und veristischer Musik
lechzenden Pariser Publikums, das die Bastille-Oper bis auf den letzten
Platz gefüllt hatte. wig.
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