BERGS "WOZZECK" BEIM OKTOBERFEST

"Wozzeck" gehört zu den Opern, die man "braucht" - ich zu mindestens. Seit ich als Neunzehnjähriger das große Glück hatte, 1951 die Wiederaufführung nach dem Krieg von "Wozzeck" in Salzburg zu erleben. Es war einer der Schocks meines Lebens, und seither habe ich dieses Musikdrama viele Male in verschiedensten Aufführungen und Ländern gesehen, in guten und schlechten Inszenierungen.

Da ich die Neuinszenierung an der Bastille Oper in der letzten Saison versäumt hatte, konnte ich das diesmal nachholen. Jedoch der Schweizer Bürgerschreck Christoph MARTHALER hat wieder zu geschlagen. Daß er zu meinen Lieblingsregisseuren gehörte, wäre gelogen, aber für "Wozzeck" könnte er vielleicht etwas schaffen - dachte ich. Nach "Traviata" im Zürcher Hauptbahnhof, ist nun "Wozzeck" im Bierzelt "auf der Wiesen" gelandet. Marthalers Dramaturg Malte UBENAUF muß noch dazu im Programmbuch in einem kurzen Artikel "Eltern in Tarnkleidung" einige Feststellungen über die heutige Gesellschaft machen: über die Manie der kleinen Leute ihre Armut durch den Kauf von "Status-Symbolen" zu verdecken, die Vernachlässigung der Kinder, usw. Diese zwar richtigen Beobachtungen sind eher trivial und könnten in einem Dokument der "LINKEN" erschienen sein. Für das Verständnis des wichtigsten Opernwerks des 20. Jahrhunderts bringt das aber gar nichts - schon zeitlich. Irrelevantes Geschwafel.

Daneben findet man nämlich auch einen anderen kurzen Artikel "Pro Domo" von Alban Berg, in dem er beschreibt, wie er seine Musik mit der theatralischen Aktion Büchners in Übereinstimmung gebracht hat und fährt fort mit "Natürlich wollte ich in keiner Weise dem absoluten Vorrecht der Musik Abbruch tun, die ihr eigenes autonomes Leben besitzt und die von keinerlei Nicht-Musikalischem beschränkt werden darf." Das haben anscheinend weder Ubenauf, noch Marthaler gelesen. Und man fragt sich, ob sie Büchners Drama auch nur oberflächlich gelesen haben. Die Manie der Regisseure des sog. Regie-Theaters das Publikum "belehren" zu wollen, wird einigermaßen unerträglich.

Der Vorhang geht in einem riesigen Bierzelt auf, das die ganze - wahrlich nicht kleine - Bühne der Bastille Oper ausfüllt, und das für den ganzen Abend. Teilweise durchsichtige Seitenwände lassen einen Kinderspielplatz mit Trampolinen, Schaukeln usw. erkennen. Ein gutes Dutzend Tische mit je vier bis sechs Stühlen verschiedenster Herkunft - bei Ikea im Ausverkauf erstanden oder in einer Hausruine gefunden - sind die ganze Einrichtung des Zelts, wo sich alles abspielt: dem Hauptmann wird die Glatze rasiert, an einem anderen Tisch hat der Doktor seine Ordination, an einem weiteren bewundert Marie den Tambourmajor und fällt ihm in die Arme, schneidet Andres mit Wozzeck Stecken, wird Wozzeck vom Tambourmajor gezüchtigt, usw… Lampions beleuchten spärlich (Olaf WINTER) diese "Atmosphäre". An der linken Seitenwand vorne befindet sich ein sehr wichtiges Utensil: ein fast 2-m großes Bild eines Clown-Kopfes in schreienden Farben (bei Euro-Disney ausgeliehen?), mit einem riesigem Maul, das sich als der Zugang zum Teich entpuppt. Durch dieses Großmaul wird die Leiche Maries entsorgt, und durch dieses Maul verschwindet Wozzeck bei der Suche nach dem Messer. Für das ganze Gerümpel hat - wie üblich - Marthalers Muse Anna VIEBROCK gezeichnet.

In dieser falschen "Einheit des Ortes" breitet Christoph Marthaler sein "Konzept" von "Wozzeck" aus, von seinem Adlatus Joachim RATHKE unterstützt. Weiters gibt es noch einen "Mitarbeiter für Bewegungen" Thomas STACHE, wobei man sich fragt, was er wohl bewegt hat.

Zum ersten, Wozzeck hustet nicht mehr, sondern pißt, wie es bei Büchner steht. Wozzeck ist aber nicht nur Soldat, verdient ein paar Groschen beim Hauptmann und beim Doktor, sondern er hat noch weitere, viel zeitraubendere Jobs, denn er ist auch Kellner, Putzer und Faktotum im Bierzelt. Auch wenn er den Hauptmann rasiert oder beim Doktor ist, entsorgt er noch schnell ein paar Bierflaschen, klaubt Abfall auf, oder er kniet am Boden und schrubbt. Daß der arme Wozzeck ein Nerverl ist, ist ja nicht ganz verwunderlich, auch ohne einen dritten oder vierten Job. Diese totale Zerstückelung der Hauptfigur ist in völligem Gegensatz zur künstlichen "Einheit des Ortes" und natürlich zu Bergs dramatischen und dem musikalischen Aufbau der Oper.

Die ganze zusätzliche Hetzerei lenkt natürlich von Handlung und Musik ab. Wozzeck ist bereits in Büchners Drama genügend "verhetzt", wie der Hauptmann schon in der 1. Szene feststellt. Es kommt zu ganz grotesken Situationen. Da Wozzeck ständig herum jagt, und alle möglichen unverständliche Gesten und Tätigkeiten ausführt, ist der Erst-Zuschauer völlig verloren. Auch daß in der letzten Szene ein gutes Dutzend Kinder "Ringel, Ringel, Rosenkranz ..." unisono gehackt singen, als ob sie ein eingetrichtertes Gedicht aufsagten, ruiniert die bewußt gewollte kindliche Naivität dieser Szene.

Die musikalische Seite konnte natürlich nur besser sein, war aber wahrlich nicht ideal. Das lag vor allem am Dirigenten Hartmut HAENCHEN, der das PARISER OPERN-ORCHESTER ständig zu laut spielen ließ, so daß bisweilen die (hervorragenden) Sänger zugedeckt wurden. Es war auch das erste Mal, daß ich die halluzinierende "Invention über eine Note" von pppp bis ffff zwischen dem Mord und der Kneipenszene auf wenige Sekunden beschränkt gehört habe. Dafür sang der CHOR DER PARISER OPER (Chorleitung Alessandra di STEFANO) forsch die Jäger-Lieder und der Summ-Chor am Teich war perfekt, obwohl die Choristen an Biertischen vor einer Maß im Hintergrund saßen, und es keinen Teich gab...

Als Wozzeck ?war Vincent LE TEXIER, einer der aufstrebenden Baritone Frankreichs, erstmals in Paris zu erleben. Er hat die Rolle schon mehrmals an anderen Theatern gesungen. Stimmlich überragend, mit ausgezeichneter deutscher Diktion, war er aber vermutlich durch die Regie etwas gestört, denn die halluzinierende und grübelnde Seite der Rolle kamen etwas zu kurz. Als Marie war Waltraud MEIER hervorragend. Nur in Jeans und eine weiße Bluse gekleidet, sang sie mit voller Leidenschaft die aufregende Rolle. Sie vernachlässigte auch nicht die lyrische Seite, denn bei ihrer Bibellesung lief es mir kalt über den Rücken. Als dritter Akteur des Dramas, war Stefan MARGITA als brutaler Tambourmajor nur rollendeckend, dank einer völlig lächerlichen Ausstaffierung, die eher für einen Landstreicher passend war. Es ist wohl mehr als unwahrscheinlich, daß sich der Kronprinz an ein solches Individuum wenden könnte.

Die weiteren Rollen waren sehr gut, bisweilen überbesetzt, z. B. Ursula HESSE VON DEN STEINEN als Margret, die anderswo bereits die Marie gesungen hat. Ebenso Kurt RYDL als Doktor war beängstigend. Natürlich machten sie - im Rahmen des Möglichen - gelungene Charakterstudien aus den stimmlich nicht zu anstrengenden Partien. Dies gilt auch für den ausgezeichneten Hauptmann ?von Andreas CONRAD, der nach getaner Glatzen-Rasur den ganzen 1. Akt vor einem Glas Bier an seinem Tisch sitzen mußte.

Auch der Katalane Xavier MORENO als Andres sang sein Lied mit ausgezeichneter deutscher Diktion. Als die beiden Handwerksburschen waren Scott WILDE und Igor GNIDII passend betrunken, ohne zu übertreiben. Der Narr? von François PIOLINO sang geisterhaft "Ich riech, ich riech …. Blut!", saß aber sonst mehrmals am Klavier; ob er auch spielte, konnte man nicht erkennen.

Eine sehr befremdende, enttäuschende Aufführung, doch Bergs Musik hat trotzdem überlebt. Das Publikum feierte die Sänger, vor allem Waltraud Meier, enthusiastisch. wig.