"MIREILLE" - 22. September 2009 | |
Erstaufführung an der Pariser Oper Der neue Direktor der Pariser Oper, Nicolas JOEL, der neunzehn Jahre lang das "Théâtre du Capitole" in Toulouse sehr erfolgreich geleitet hat, machte seinen "Einstand" in Paris. Seine erste Premiere war die erste von fünf (!) Erstaufführungen in dieser Saison. Wie er mir in einem Gespräch von zwei Jahren sagte: "Ich will mit Gounods ‚Mireille' eröffnen, denn diese großartige französische Oper ist noch nie an der Pariser Oper gespielt worden!" "Mireille" ist zweifellos ein Meisterwerk und sehr hörenswert. In der melodischen Inspiration und der Instrumentierung war Gounod am Höhepunkt seiner Kunst und hatte keine Konkurrenz zu fürchten. Seine Nachfolger, besonders Massenet, verdanken ihm fast alles. Schon im Vorspiel bemerkt man, da? hier keine kessen Ohrwürmer zu finden sein werden, sondern da? die Oper "durchkomponiert" ist. An mehreren Stellen denkt man an die deutsche Romantik, vor allem an Mendelssohn. Die rhythmischen Chöre sind sehr von der provencalischen Folklore geprägt, die Farandole ist sehr schöne Musik. Mehrfach werden Klarinette und Horn solistisch verwendet. Wie das große Hornsolo in der Arie des Ourias im Teufels-Tal. Der einzige Problem ist das tragische Ende der Oper: Mireille stirbt erschöpft in den Armen ihres Geliebten Vincent auf den Stufen der Kirche von Saintes Maries de la Mer, nachdem sie die Camargue in der prallen Sonne durchquert hat. Nicht daß dies keine logische Konsequenz wäre, sondern der von Gounods mystischer Krise (siehe Nachwort) herbeigeführte Pietismus. Konsequenz: der Schluß gleitet schlicht und einfach in schmalzigen Kitsch ab. Bedauerlich! Obwohl "Mireille" lange im Repertoire der Opéra comique war, ist die Oper nie im Palais Garnier gespielt worden. Nicolas JOEL, der ja selbst ein sehr bekannter Regisseur ist, wählte eine einfache, vom Licht der Provence erfüllte Inszenierung und holte sich seine Gefährten, mit denen er zwei Jahrzehnte lang sehr erfolgreich in Toulouse gearbeitet hatte: Ezio FRIGERIO für das Bühnenbild und Franca SQUARCIAPINO für die Kostüme. Das Ergebnis ist einfach und ungemein wirkungsvoll. Die Oper beginnt vor zwei von Getreide bewachsenen Hügeln, die fast immer die Bühne beherrschen (in der Provence und besonders in der Camargue muß man aber größere Getreidefelder suchen, man findet eher Olivenbäume). Der 3. Akt, der in der Nacht spielt, im Val d'enfer und am nächtlichen Rhône-Ufer, steht in scharfem Kontrast mit der lichtgesättigten Provence, (Beleuchtung Vinicio CHELI). Die einfachen, sehr typischen Kostüme von Franca Sqarciapino waren sehr passend, in Stoffen, die man auch heute noch auf den provencalischen Märkten findet. Die Bühne ist schlicht schön! Die Farandole (mit Trommel-Begleitung!) und anderen Tänze waren nicht akrobatisch, sondern einfach dem Stück entsprechend, dank der effizienten Choreographie von Patrick SÉGOT. Eine anspruchsvolle Volks-Oper! Musikalisch war die Aufführung vorbildlich. Marc MINKOWSKI stand am Pult und leitete das ORCHESTRE DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS. Nach mehreren Offenbach-Produktionen und Wagners "Feen" im Châtelet, hatte Minkowski Gelegenheit sich musikalisch mit dem 19. Jahrhundert auseinander zu setzen. Minkowski wußte den dramatischen Aufbau der Oper und die vielen Details der höchst melodischen Partitur heraus zu arbeiten. Außerdem kümmerte er sich sehr genau um die Sänger auf der Bühne. Der hier sehr beschäftigte CHOR DER OPÉRA NATIONAL DE PARIS war vom sehr erfahrenen Patrick Marie AUBERT perfekt einstudiert, den Joel auch aus Toulouse mitgebracht hatte. Die Choristen genossen sichtlich die Aufgabe und spielten hervorragend mit. Von den ausgezeichneten Sängern ist in erster Linie Inva MULA in der Titelrolle zu nennen. Die sehr lange und anstrengende Rolle, die ständig zwischen dramatischem und lyrischem Sopran schwankt, könnte für diese Sängerin komponiert worden sein. Schon ihre große Arie im 2. Akt "Mon coeur ..." war von großer Innigkeit, trotz der langen Bögen der sehr anspruchsvollen Musik. Sie war absolut hinreißend in der vorletzten Szene ("En marche!") wenn sie den "Crau", den wüstenhaften Süden der Camargue durchwandert, wo sie in der prallen Sonne halluziniert. Selbst der überspannte Schluß "Sainte ivresse! Quelle extase!" war großartig. Auch ihr geliebter Vincent war ausgezeichnet, der Sohn des armes Korbflechters, dem Charles CASTRONOVO nicht nur seinen schönen Tenor lieh, der auch hervorragend spielte und nicht nur in den Liebesduetten mit Mireille. Der Streit im Val d'enfer mit Ourrias, dem Züchter der berühmten schwarzen Rinder der Camargue, der auch Mireille hofiert, dem Franck FERRARI seinen großartigen Bariton und seine gute Statur lieh, war furchterregend. Beide Sänger sangen und spielten mit packender Intensität die heikle Szene, die leicht in Übertreibung ausarten könnte. Hier sieht man die Pranke des Regisseurs. Sehr beeindruckend war auch Alain VERNHES als Mireilles Vater Ramon, ein Pater familias vom alten Schlage, ein Haustyrann, der keinen Widerspruch duldet und dessen Baß nach wie vor beeindruckt. Nicolas CAVALLIER als Ambroise, Vincents Vater, gab dem armen Korbflechter Format und Stolz des Armen, wenn er Ramon "Garde ton trésor, viel avare!" entgegen schleudert. Ungemein eindrucksvoll war auch Sylvie BRUNET als Kräuterhexe Taven, der natürlich alle Nachbarn sehr böse Intentionen andichten. Ihr prachtvoller, voll strömender Mezzo war ideal für die Rolle, die sie in eine wirkliche Persönlichkeit verwandelte, was ihr mehrmals Szenenapplaus einbrachte. Die hochintelligente Sängerin ist eine der interessantesten Entdeckungen der letzten Jahre. Selbst die kleineren Rollen waren bestens besetzt. Anne-Catherine GILLET gab Vincents Schwester Vincenette jugendliche Fröhlichkeit. Ebenso waren Amel BRAHIM-DJELLOUL als Freundin Clémence und Sébastien DROY als Andrelou, mehr als zufrieden stellend. Auch Ugo RABEC als der Fährmann, der in einer makabren Szene Ourias über den Rhône fahren soll, aber in Wirklichkeit der Tod ist, sang eindrucksvoll "Songe à Vincent frappé par toi!", daß es dem Besucher schauerte. Ein sehr schöner Abend, trotz kleiner Beschränkungen. Bei der Premiere (erste Direkt-Übertragung im französischen Fernsehen seit Jahrzehnten!) hatten einige Mortier-Nostalgiker die Idee zu buhen, was aber dem Erfolg der Aufführung keinen Abbruch tat. wig. Nachwort zu Gounods "Mireille"
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