Franco
Alfano (1875-1954) ist nur als "Vollender" von Puccinis "Turandot" bekannt.
Alfano war jedoch ein sehr vielseitiger, schwer einstufbarer Komponist
- wie viele italienische Komponisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man
denke nur an Wolf-Ferrari, Zandonai oder Busoni. Natürlich vom Verismo
beeinflußt hat er Zeit seines Lebens versucht, sich davon zu lösen. Doch
der Neapolitaner hat nicht nur in seiner Heimatstadt bei Serrao studiert
(Lehrer u. a. von Cilea, Longo und Giordano), sondern auch in Leipzig,
Berlin, Moskau und Paris gelernt, also eine recht eklektische Ausbildung.
Eine kurze Einführung zu Alfanos Werk ist deshalb nützlich und ist am
Ende dieser Rezension zu finden.
"Cyrano
de Bergerac" ist eine vereinfachte Version von Rostands Theaterstück.
Der Librettist Henri CAIN hat eine dramatische Straffung des ursprünglichen
Textes mit Streichung zahlreicher Nebenfiguren bewerkstelligt und die
Alexandrinische Reime beibehalten. Dies ergab ein sehr literarisches und
ungewöhnlich singbares Libretto. Es gibt zwei Fassungen der Oper: die
originale französische und eine italienische Übersetzung. Beide Fassungen
wurden von dem korsischen Tenor José Luccioni 1936 uraufgeführt, die italienische
im Jänner in Rom unter Tullio Serafin und die französische im Mai in der
Opéra comique in Paris.
Musikalisch
ist "Cyrano" von vielen Einflüssen geprägt, in erster Linie von französischen,
allerdings weniger von Debussy und Ravel - obwohl es viele Anklänge gibt
- sondern eher von Massenet, Dukas und Lalo. Wie diese hat sich Alfano
direkt auf die Verse, hier Rostands, gestützt. Der italienische Einfluß
ist oft bei Respighi zu finden: die Musik ist sehr schillernd, bisweilen
etwas bombastisch, besonders die sehr eindrucksvolle Belagerung von Arras
im 3. Akt. Flöten-Läufe, Streicher glissandi und ähnliche Effekte lassen
bereits die amerikanischen Postveristen, Gian-Carlo Menotti und Carlisle
Floyd ahnen. Alfano kann auch nicht über seinen veristischen Schatten
springen: die Ouvertüre der Oper beginnt sehr in der Art von Mascagni.
Wegen der vielen Einflüsse ist diese Kompositionsart allerdings etwas
zerrissen, es gibt kaum individuelle Arien. Die formale Auflösung bewirkt,
daß man nur wenige musikalische Anhaltspunkte hat. Eine ausgiebige und
sehr virtuose Verwendung des Chors als dramatisch tragendes Element auf
weiten Strecken gibt der Oper dafür zusätzliche Struktur.
Im
Interview im Programmbuch sagt Placido DOMINGO, daß es sein Traum war
"Cyrano" in Paris zu singen (er hat seit Jahrzehnten nicht mehr in Paris
gesungen). Da Domingo sich nicht damit abfinden kann, sein erhebliches
Repertoire "abzuziehen", wühlt er ständig in Bibliotheken und Archiven
von Verlegern. So ist ihm bei einem Besuch bei Ricordi vor neun Jahren
die Partitur der total vergessene Oper Alfanos mit der von Wolf-Ferraris
"Sly", in die Hände gekommen. Er beschloß, "Sly" mit Carreras aufzuführen.
Gleichzeitig hatte sich auch René Koering, der Direktor des Festival von
Montpellier und großer Wiederentdecker vergessener Opern, für "Cyrano"
interessiert. Er überzeugte Roberto Alagna die vergessene Oper bei seinem
Festival 2003 aufzuführen, was auch einen DVD Live-Mitschnitt ergab. Interessanterweise
wurde "Cyrano" 2003 auch in Kiel gespielt. (existiert ebenfalls auf CD).
Domingos
Traum ist nun in Erfüllung gegangen in einer spanischen Produktion der
Oper von Navarra mit einer internationalen Besetzung. Regisseur Petrika
IONESCO, der auch immer seine Bühnenbilder und Lichtregie und seine stilvollen
und oft spektakulären Inszenierungen macht, wurde dafür gewonnen. Das
Spektakel war auch diesmal der Fall. Im 1. Akt eröffnet sich der Vorhang
auf der Hinterbühne des Theaters im Hôtel de Bourgogne, wo geprobt wird:
Engel besteigen Pappwolken und die Kerzen eines großen Lusters werden
angezündet, bevor Wolken und Luster hochgezogen werden. Dank einer ersten
Fechterei zwischen Cyrano, Valvert und Montfleury werden die Seile gekappt,
und die Engel stürzen ab! Im 2. Akt befinden wir uns in der Bäckerei und
Küche von Ragueneaus Kneipe, dominiert von einem riesigen Backofen wird
und einer vierstöckigen Stellage rechts, wo Bäckerei und Marzipan auftürmt
wird. Meister Ragueneau steht auf einem fünf Meter hohen Gestell und dirigiert
die Operationen von zwei Dutzend Köchen. Cyrano kommt vom Attentat der
Tour de Nèfle, wo er einige Angreifer abgestochen hatte und die restliche
Truppe verjagt hatte. Roxane erscheint und erbittet für ihren Geliebten
Christian, der in Cyranos "Régiment des Gascons" eingegliedert wurde,
daß ihr Cousin diesen von dessen wilden Kumpanen beschützt. Cyrano verspricht
ihr dies und beginnt damit die Verknüpfung des Dramas. Das 2. Bild ist
der erste ruhige Höhepunkt der Oper, denn es ist die berühmte Balkonszene,
wo Cyrano für den dämlichen Christian seine Verse und Tiraden singt.
Der
3. Akt zeigt die Szene der Belagerung von Arras, in der Christian entdeckt,
daß Cyrano täglich für ihn zwei Briefe an Roxane schreibt und diese durch
die Linien der spanischen Belagerer bringt. Mit dem Beginn einer Meuterei
der Gascons und der großen Arie von Le Guiche, der diese unnötig in den
Tod jagt, sterben sie unter den spanischen Flinten. Der 4. Akt spielt
im Kloster, wo Roxane nach Christians Tod Zuflucht gefunden hat: ein weiter
Garten mit einem einzigen großen Baum in der Mitte, ein sehr beruhigender
Rahmen. Ihr bei Arras verwundeter Vetter Cyrano besucht sie, und sie bittet
ihn, den letzten Brief ihres toten Geliebten vorzulesen. Cyrano legt so
viel Gefühl in die Lesung, daß Roxane erkennt, daß er diese Briefe geschrieben
hat und nicht Christian. Vor dieser jahrelangen unerfüllten Liebe ist
sie in einer emotionellen Arie zutiefst gerührt, und Cyrano stirbt in
den Armen der verzweifelten Roxane.
Petrika
Ionesco zeigt seine Meisterschaft der Personenführung, die dieser "Comédie
héroïque" voll gerecht wird, in diesen vielfältigen Rahmen. Absolut hinreißend!
Die wunderbaren, äußerst stilvollen Kostüme von Lili KENDAKA trugen weiters
zu dem sensationellen Erfolg der Produktion bei.
Die
musikalische Leitung hatte Patrick FOURNILLIER inne, ein Spezialist der
französischen Oper, der das SYMPHONISCHE ORCHESTER VON NAVARRA (von Sarasate
1892 gegründet, ist es das älteste Orchester Spaniens) sehr straff durch
die nie gespielte Partitur führte und Kitsch und Schmalz vermied. Man
mußte bei seinem Dirigat mehrmals an Georges Prêtre denken, sehr präzise,
genau und doch animiert, sehr um das Gleichgewicht zwischen Bühne und
Graben bemüht, und der die Sänger ständig umsorgt. Fabelhaft! Der CHOERU
DU CHÂTELE stellte die sehr eindrucksvollen Chormassen, von Stephen BETTERIDGE
fabelhaft einstudiert.
Was
kann man über Placido Domingo sagen? Einfach atemberaubend! Natürlich
ist er stimmlich nicht der strahlende spinto-Tenor von vor dreißig Jahren.
Die Stimme ist jedoch von der unglaublicher Tragkraft, die dramatische
Höhe äußerst eindrucksvoll und seine Phrasierung von perfekter Präzision,
mit einer Diktion, an der viele französische Sänger etwas lernen könnten.
Domingos gesangliche Intelligenz ist derart, daß die Verse wie auf dem
Sprechtheater abrollen. Seine Darstellung des gascognischen Helden wechselt
von Angeberei über romantische Liebe bis zur Resignation. Absolut umwerfend!
Als
Roxane, die Cousine und Angebetete von Cyrano, war Nathalie MANFRINO zu
hören, die die Rolle bereits in Montpellier gesungen hatte. Die junge
Französin besitzt einen sehr ausdrucksvollen, kraftvollen Sopran, den
sie sehr gut einsetzt (mit oft schwierigen Koloraturen) und spielt auch
ausgezeichnet, intelligent und innig. Eine sehr viel versprechende Sängerin,
die trotz guter Kritiken noch wenig in namhaften Häusern zu hören war.
Den etwas dämlichen, schönen Baron Christian sang Saimir PIRGU hervorragend,
mit strahlenden Höhen. Die Rolle ist stimmlich äußerst anspruchsvoll und
darstellerisch schwierig, keine Nebenfigur. Er sollte allerdings seine
französische Aussprache verbessern, denn man verstand nichts, bedauerlich
bei einem so literarischen Text.
Den
Bäckermeister Ragueneau sang und spielte Laurent ALVARO mit Genuß, Bravour
und kraftvollem Bariton. Marc LABONNETTE lieh dem hochnäsigen, hartherzigen
De Guiche seinen prächtigen Baß-Bariton, vor allem im dramatischen 3.
Akt. Als Roxanes Vertraute und Schwester Marthe im Schlußakt war Doris
LAMPRECHT überzeugend. Die wenigen Nebenrollen (alle in prächtigen Kostümen)
wurden von Franco POPONI als Carbon und Viscomte de Valvert, Christian
HELMER als Le Bret und Frédéric GONÇALVES als Lignière und ein Mousquetaire
rollendeckend gespielt. Die Sprechrolle des Montfleury zu Beginn der Oper
gestaltete Gérard BOUCARON ebenfalls sehr gut.
Ein
unvergeßlicher Abend, die man nicht vergißt. Wie der vor vierzig Jahren,
als ich Domingo zum ersten Mal in der Arena in Verona als Don Carlo sah.
Ein Triumph auf der ganzen Linie, das Haus tobte wie selten in Paris!
wig
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