Um
Dallapiccolas 50-Minuten Oper "Il Prigioniero" in einer Ambiente der Verfolgung
und des Terrors zu vervollständigen, wurde Arnold Schönbergs äußerst selten
gespielte Vertonung von Byrons "Ode to Napoleon Bonaparte" [Op. 41] -
mitten im Krieg in Kalifornien 1942 komponiert - als Einleitung gegeben.
Der kurze Text von Lord Byron ist eine Verspottung des Korsen und wahrlich
keine "Ode" im üblichen, rühmlichen Sinn. Es wäre vermutlich kurzsichtig,
in der Vertonung dieses zweiseitigen Gedichts im Schönberg'schen Sprechgesang
eine Verbindung zwischen Napoleon und Hitler zu sehen. Es ist - wie Dallapicolas
Kurz-Oper - eine Verdammung jeglicher Gewalt, ein Aufschrei gegen Verfolgung,
Willkür und Krieg.
Es
besteht die Gefahr, einen provokativen Text auf bestimmte Begebenheiten
beziehen zu wollen, doch der Regisseur LUIS PASQUAL ist nicht in blinde
Provokation gefallen, sondern hat das Gedicht eher noch persifliert, indem
er den Sprecher als "blauen Engel" mit Zylinder auf einer Estrade spielen
läßt, etwa im Berlin der zwanziger Jahre (in der Szenographie von Paco
AZORIN und Kostümen von Isidre PRUNÉS). Der Sprecher Dale DUESING zog
sich während seines Vortrags aus, dann einen gestreiften Sträflingsanzug
an und beschmierte sich das Gesicht blutrot. Was die allgemein gültige
Aussage bestätigt, aber nicht in politische Polemik verfallen läßt.
Schönbergs
völlig serielle Musik schließt an sein 4. Streichquartett (1936) an und
ist eine Fortführung der harten Zwölftontechnik. Hier begleiten ein Streichquartett
und ein Pianist den Sprecher und bedarf wie das äußerst schwierige 4.
Quartett oder das Bläserquintett eines Dirigenten. Lothar ZAGROSEK leitete
diese Aufführung mit passender Intensität. Frédéric LAROQUE, Vanessa JEAN
(Violine), Laurent VERNEY (Viola), Martine BAILLY (Cello) und Christine
LAGNIEL (Klavier) waren die Ausführenden dieser außergewöhnlich schwierigen
Partitur.
Dallapiccola:
"Il Prigioniero"
Dallapiccola ist zwar ebenso ein rigoroser Zwölftöner, doch sind in dieser
ungewöhnlich dichten Partitur Ansätze von Themen und kurzer Leitmotive
erkennbar, besonders der mehrmals auftauchende "Fratello!"-Ruf des Großinquisitors.
Die Verwendung "klassischer" Formen (Ballade, Ricercar) erleichtert den
Zugang zu dem passabel schwierigen Werk. Die kurze Oper beginnt mit einem
großen Choral der Blechbläser, unterstützt von Glocken und einem Halleluja-Chor
hinter der dunklen Szene, der die bedrückende Stimmung des Werks einleitet.
Die schwierige Partitur ist kurz nach dem 2. Weltkrieg entstanden und
beruht auf einem der düstersten Texte der französischen Literatur des
Dichters Villiers de l'Isle Adam (1838-1889).
Obwohl
die Oper während der spanischen Inquisition spielt, ist die Zeitlosigkeit
des Textes offenbar, eine Synthese aller Unmenschlichkeit. Die Handlung
spielt in einem Gefängnis und ist eine "Folter durch Hoffnung", die Summe
von Inquisition, Auschwitz, Lubianka und Guantanamo. Regisseur Luis PASQUAL
und sein Bühnenbildner Paco AZORIN haben deshalb das schreckliche Geschehen
in einen riesigen faßförmigen, offenen Turm-Käfig verlegt, der aus etwa
10 Meter hohen Rippen besteht und um den vier Wendel-Stiegen angelegt
sind. (Zufällig fand im Louvre eine große Ausstellung "Babylon" statt,
die im letzten Saal Ansichten aus dem 17. und 18. Jahrhundert des Turms
von Babel zeigen. Eine der Radierungen erinnert sehr an den Turm der Produktion
im Palais Garnier). Am Schluß wird dieser Turm-Käfig gedreht und legt
den Blick frei für die Exekutionsszene.
Die
sehr realistische Regie zeigt am Anfang eine Folterszene, in der im Turm-Gefängnis
ein Gefangener, mit dem Kopf nach unten, an einem Seil hängt und von zwei
Schergen geprügelt wird. Überall kriechen Gefangene herum. Die Endlosigkeit
der Lage ohne Hoffnung wird durch Laufteppiche angedeutet, auf denen zu
Beginn die Mutter ihre große Ballade deklamiert. Auf einem anderen Laufteppich
arbeitet sich dann der Gefangene langsam vorwärts, ohne je die Hoffnung
auf Freiheit zu verlieren, die er aber nie gewinnt. Auf einem der Stiegenabsätze
erscheint der Carciere/Großinquisitor und ruft "Fratello!", der Chor singt
hinter der Szene "Dormi e spera". Am Schluß wird der Gefangene auf einem
Exekutions-Tisch gebunden, der Großinquisitor wirft den Mantel ab, dreht
sich um: er erscheint in Arzt-Bluse mit Injektionsspritze, der die Hinrichtung
vollstreckt, während der Chor auf der Galerie im Saal "Signore Dio! Deo
gratias!" singt. Die aufs einfachste reduzierten Kostüme von Isidre PRUNÉS
und die äußerst effiziente Beleuchtung von Albert FAURA vervollständigten
diese sehr kohärente Inszenierung.
Zu
Beginn der Oper war Rosalind PLOWRIGHT als Mutter allein auf der Bühne,
die ihren Sohn sucht, stimmlich zutiefst ergreifend und darstellerisch
erschütternd. Evgeny NIKITIN mit eindrucksvollem Baß versuchte als der
Gefangene, nicht die Hoffnung zu verlieren und glaubte blindlings dem
Großinquisitor. In der Doppelrolle Carciere/Grande Inquisitore bot Chris
MERRITT eine Studie von subtiler Perversität, zwischen den vogelartigen
"Fratello!" Rufen und brutaler, zynischer Macht. Als die Schergen waren
Johan WEIGEL und Bartlomiej MLALUDA rollendeckend.
Lothar
Zagrosek dirigierte die ungemein schwierige und anspruchsvolle Partitur
mit vollem Einsatz und ließ vergessen, daß er vor zwanzig Jahren nach
einem memorablen Pfeif-Skandal praktisch von demselben Pult verjagt wurde.
Das ORCHESTER DER OPÉRA NATIONAL DE PARIS folgte mit Eifer und hörbarem
Einsatz. Der CHOR DER OPÉRA NATIONAL DE PARIS (Leitung: Alessandro di
STEFANO), am Ende in der obersten Galerie postiert, sang ergreifend die
tröstlichen Worte.
Ein
entsetzlicher Abend, der zum Denken anregt, für den das Publikum nach
kurzer, beklommener Schweigepause mit enthusiastischem Beifall dankte.
wig.
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