"THE RAKE'S PROGRESS" - 22. März 2008

Moderne Komponisten interessieren sich immer mehr für "Mythen". Lange Zeit waren nur die großen antiken Mythen als Oper-Libretti erlaubt, wie "Orpheus", "Daphne", "Medea" oder die Atriden und ihre Sippschaft. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es auch Vertonungen moderner Mythen, wie "Don Juan", "Romeo und Julia" oder "Faust". Nach mehreren Jahren Abwesenheit von französischen Spielplänen, ist dies die zweite Produktion von "The Rake's Progress" in dieser Saison in Paris, denn im Herbst gab es bereits eine im Théâtre des Champs Elysées. Weiters wird "Rake's Progress" eben auch von Angers-Nantes-Opéra in Angers, Nantes und Rennes gespielt.

Wenn ich Strawinskys "The Rake's Progress" sehe, frage ich mich immer, ob ich dem alten Zauberer wieder in die Falle gegangen bin, und wundere mich, daß Strawinsky sich und aller Welt beweisen mußte, daß er in allen möglichen Stilen und Formen komponieren konnte - nicht immer mit gleichem Erfolg. Nach seiner "russischen Periode" der großen Ballett-Trilogie für Diaghilev und kleineren Werke nach dem Weltkrieg, hatte Strawinsky sich 1920 dem Neo-Klassizismus verschrieben, eine Periode von über dreißig Jahren, bis er sich der Dodekaphonie zu wandte. Obwohl Strawinsky ein ungewöhnliches Gefühl für den Rhythmus und die Prosodie der Sprachen besaß, hat er seine "italienisch-mozartische Oper", mit ihren Arien, Cabaletten und Ensembles überraschenderweise auf Englisch geschrieben. Händel hatte vor zweihundert Jahren in London seine koloraturreichen Opern auf Italienisch geschrieben, während er Englisch für seine feierlichen choralen Oratorien gewählt hatte.

Der Besuch einer Ausstellung des Bilder-Zyklus "The Rake's Progress" des englischen Genre-Malers William Hogarth in Chicago hatte Strawinsky zu dieser Oper angeregt. Obwohl die Bilder keine teuflischen Anspielungen enthalten, ist das Libretto des englischen Dichters Wystan H. Auden und seines Freundes Chester Kallmann eine moderne Variante von "Faust" geworden und in dieser Sicht sehr provokativ. Auden hat ja den Teufel Nick Shadow und den faustischen Pakt völlig erfunden und das Libretto erheblich radikalisiert, im Vergleich mit dem ausnehmend zahmen Bilder-Zyklus (im Programmbuch abgedruckt). Denn Auden betrachtet die Heirat mit einer ungeliebten, verachteten Frau, Baba the Turk, als den Höhepunkt der "Befreiung" Toms! Auch die Denunziation des unnötigen Luxus in der Szene der Versteigerung ist wenig glaubhaft, stieg doch Strawinsky in Paris meist im Ritz ab und speiste dort oder chez Maxim's...

Wystan Hugh Auden (1907-1973), einer der bedeutendsten und vielseitigsten englischen Dichter des 20. Jahrhunderts war aber auch sehr umstritten, denn seit seinem Studium in Oxford war er als extremer linker Intellektueller bekannt. Daß er aus der anglikanischen Kirche austrat und seine Homosexualität offen zur Schau stellte (er zog deshalb in den zwanziger Jahren in das viel tolerantere Berlin um!), waren seinem Ruf nicht immer förderlich. Nach dem 2. Weltkrieg interessierte er sich immer mehr für religiöse und philosophische Themen, trat wieder in die Kirche ein und pendelte zwischen seinen Lehrstühlen in New York und Oxford und seinem Landhaus in Kirchstetten (Niederösterreich), wo er sechsundsechzigjährig starb. Neben seinem umfassenden poetischen Werk hat er u. a. auch andere Opernlibretti (für Britten und Henze) und Kriegsberichte (Spanien 1937, Pazifik 1944) geschrieben.

Die Radikalität des Librettos hat natürlich dem Regisseur der Produktion, Olivier PY, sehr gefallen. Py liebt Provokation und ist in vieler Hinsicht Auden ähnlich. Er hat mehrere Theaterstücke geschrieben, ist gläubiger Christ (Philosophie- und Theologie-Studium) und homosexuell. Er war u. a. Verfasser des Librettos für "La Vase de Parfum" von Suzanne Giraud, die Geschichte der Maria von Magdala, der angeblichen Geliebten Jesu. Py ist als unermüdlicher Arbeiter bekannt und hat viele Inszenierungen als Direktor des Theaters in Orléans (u. a. Claudels "Der seidene Schuh" und eigene Stücke) gemacht, sowie an der Genfer Oper ("Damnation de Faust", "Tannhäuser", "Tristan"). Mit knappen vierzig Jahren ist Py nun Direktor des renommierten "Odéon-Théâtre des Nations" (einst von Jean-Louis Barrault, Giorgio Strehler oder Luis Pasqual geleitet!) geworden und ohne Zweifel einer der aufstrebenden Stars des französischen Theaters. Seine Inszenierungen sind oft symbolisch, immer sehr durchdacht und meistens provokativ.

Das schwarz-weiße Bühnenbild von Pierre-André WEITZ, der auch für die ebenso schwarzen oder weißen Kostüme zeichnete, besteht aus einem schwarzen, zweistöckigen, dreiteiligen Gerüst. Beide Seitenteile können vom Mittelteil gelöst und nach Bedarf herum geschoben werden. In der Mitte thront im 1. Stock ein riesiges weißes Bett. Bei Nick Shadows Auftritt, wenn er die Nachricht von Tom Rakewells Erbschaft bringt, öffnet Nick seinen großen schwarzen Koffer und kleidet Tom zuerst weiß ein. Im Koffer hat er auch gleich den verstorbenen Onkel als schwarzes Skelett mitgebracht, das er auf das Bett wirft! In der Bordellszene ist Sodom und Gomorrah vom Erdgeschoß bis zum 2. Stock, auch mit dem Skelett und tierköpfigen Tänzern! Für Provokation ist also gesorgt! Das Irrenhaus scheint ein Spital für terminale Syphilitiker zu sein.

Musikalisch war die Aufführung hervorragend. Edward GARDNER, vor zwei Jahren nicht sehr überzeugend in "Elisir d'amore", seit einem Jahr Direktor der English National Opera, zeigte sich erheblich mehr mit Strawinsky vertraut als mit Donizetti. Er wußte die sperrige, etwas trockene Partitur zu beleben; und das ORCHETRE D L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS war hörbar angetan davon, ebenso wie der CHŒUR DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS (Leitung Winfried MACZEWSKI), besonders in der Versteigerung-Szene des 3. Akts.

Die Aufführung gab dem jungen Engländer Toby SPENCE als Tom Rakewell die Gelegenheit; sich in der Rolle eines großen Charaktertenors zu zeigen. Seine perfekte stimmliche Technik erlaubt ihm vom lyrischen Tenor seines gewohnten Repertoires von Händel, Mozart und Rossini in diese schwierige Rolle umzusteigen, die er auch mit raffinierter Eleganz spielte. Laurent NAOURI war sein Gegenspieler Nick Shadow, der in perfektem Englisch (er studierte in der Guildhall School) und sehr forschem Auftreten dem bösen Geist Toms seinen prachtvollen Baß-Bariton lieh.

Die arme Anne Trulove wurde von Laura CLAYCOMB sehr innig gesungen und mit Kinderwagen und Baby auch sehr rührend gespielt. René SCHIRRER gab dem Vater Trulove die nötige resignierte Würde und stimmlichen Ausdruck. In einem sehr provokanten Kostüm war Hillary SUMMERS eine sehr passende Mother Goose. In der unsympathischen, wenig dankbaren Rolle von Baba the Turk, zeigte Jane HENSCHEL ihr überragendes Schauspieltalent, in Smoking und grauem Backenbart. Als Versteigerer Sellem lizitierte Ales BRISCEIN mit gutem hohem Tenor den hysterischen Kaufwahn um Babas luxuriösem Klimbim. Als Schließer des Irrenhauses war Ugo RABEC rollendeckend.

Der Schlußbeifall war höflich, aber nicht sehr überzeugend. wig.