Moderne
Komponisten interessieren sich immer mehr für "Mythen". Lange Zeit waren
nur die großen antiken Mythen als Oper-Libretti erlaubt, wie "Orpheus",
"Daphne", "Medea" oder die Atriden und ihre Sippschaft. Seit dem 18. Jahrhundert
gibt es auch Vertonungen moderner Mythen, wie "Don Juan", "Romeo und Julia"
oder "Faust". Nach mehreren Jahren Abwesenheit von französischen Spielplänen,
ist dies die zweite Produktion von "The Rake's Progress" in dieser Saison
in Paris, denn im Herbst gab es bereits eine im Théâtre des Champs Elysées.
Weiters wird "Rake's Progress" eben auch von Angers-Nantes-Opéra in Angers,
Nantes und Rennes gespielt.
Wenn
ich Strawinskys "The Rake's Progress" sehe, frage ich mich immer, ob ich
dem alten Zauberer wieder in die Falle gegangen bin, und wundere mich,
daß Strawinsky sich und aller Welt beweisen mußte, daß er in allen möglichen
Stilen und Formen komponieren konnte - nicht immer mit gleichem Erfolg.
Nach seiner "russischen Periode" der großen Ballett-Trilogie für Diaghilev
und kleineren Werke nach dem Weltkrieg, hatte Strawinsky sich 1920 dem
Neo-Klassizismus verschrieben, eine Periode von über dreißig Jahren, bis
er sich der Dodekaphonie zu wandte. Obwohl Strawinsky ein ungewöhnliches
Gefühl für den Rhythmus und die Prosodie der Sprachen besaß, hat er seine
"italienisch-mozartische Oper", mit ihren Arien, Cabaletten und Ensembles
überraschenderweise auf Englisch geschrieben. Händel hatte vor zweihundert
Jahren in London seine koloraturreichen Opern auf Italienisch geschrieben,
während er Englisch für seine feierlichen choralen Oratorien gewählt hatte.
Der
Besuch einer Ausstellung des Bilder-Zyklus "The Rake's Progress" des englischen
Genre-Malers William Hogarth in Chicago hatte Strawinsky zu dieser Oper
angeregt. Obwohl die Bilder keine teuflischen Anspielungen enthalten,
ist das Libretto des englischen Dichters Wystan H. Auden und seines Freundes
Chester Kallmann eine moderne Variante von "Faust" geworden und in dieser
Sicht sehr provokativ. Auden hat ja den Teufel Nick Shadow und den faustischen
Pakt völlig erfunden und das Libretto erheblich radikalisiert, im Vergleich
mit dem ausnehmend zahmen Bilder-Zyklus (im Programmbuch abgedruckt).
Denn Auden betrachtet die Heirat mit einer ungeliebten, verachteten Frau,
Baba the Turk, als den Höhepunkt der "Befreiung" Toms! Auch die Denunziation
des unnötigen Luxus in der Szene der Versteigerung ist wenig glaubhaft,
stieg doch Strawinsky in Paris meist im Ritz ab und speiste dort oder
chez Maxim's...
Wystan
Hugh Auden (1907-1973), einer der bedeutendsten und vielseitigsten englischen
Dichter des 20. Jahrhunderts war aber auch sehr umstritten, denn seit
seinem Studium in Oxford war er als extremer linker Intellektueller bekannt.
Daß er aus der anglikanischen Kirche austrat und seine Homosexualität
offen zur Schau stellte (er zog deshalb in den zwanziger Jahren in das
viel tolerantere Berlin um!), waren seinem Ruf nicht immer förderlich.
Nach dem 2. Weltkrieg interessierte er sich immer mehr für religiöse und
philosophische Themen, trat wieder in die Kirche ein und pendelte zwischen
seinen Lehrstühlen in New York und Oxford und seinem Landhaus in Kirchstetten
(Niederösterreich), wo er sechsundsechzigjährig starb. Neben seinem umfassenden
poetischen Werk hat er u. a. auch andere Opernlibretti (für Britten und
Henze) und Kriegsberichte (Spanien 1937, Pazifik 1944) geschrieben.
Die
Radikalität des Librettos hat natürlich dem Regisseur der Produktion,
Olivier PY, sehr gefallen. Py liebt Provokation und ist in vieler Hinsicht
Auden ähnlich. Er hat mehrere Theaterstücke geschrieben, ist gläubiger
Christ (Philosophie- und Theologie-Studium) und homosexuell. Er war u.
a. Verfasser des Librettos für "La Vase de Parfum" von Suzanne Giraud,
die Geschichte der Maria von Magdala, der angeblichen Geliebten Jesu.
Py ist als unermüdlicher Arbeiter bekannt und hat viele Inszenierungen
als Direktor des Theaters in Orléans (u. a. Claudels "Der seidene Schuh"
und eigene Stücke) gemacht, sowie an der Genfer Oper ("Damnation de Faust",
"Tannhäuser", "Tristan"). Mit knappen vierzig Jahren ist Py nun Direktor
des renommierten "Odéon-Théâtre des Nations" (einst von Jean-Louis Barrault,
Giorgio Strehler oder Luis Pasqual geleitet!) geworden und ohne Zweifel
einer der aufstrebenden Stars des französischen Theaters. Seine Inszenierungen
sind oft symbolisch, immer sehr durchdacht und meistens provokativ.
Das
schwarz-weiße Bühnenbild von Pierre-André WEITZ, der auch für die ebenso
schwarzen oder weißen Kostüme zeichnete, besteht aus einem schwarzen,
zweistöckigen, dreiteiligen Gerüst. Beide Seitenteile können vom Mittelteil
gelöst und nach Bedarf herum geschoben werden. In der Mitte thront im
1. Stock ein riesiges weißes Bett. Bei Nick Shadows Auftritt, wenn er
die Nachricht von Tom Rakewells Erbschaft bringt, öffnet Nick seinen großen
schwarzen Koffer und kleidet Tom zuerst weiß ein. Im Koffer hat er auch
gleich den verstorbenen Onkel als schwarzes Skelett mitgebracht, das er
auf das Bett wirft! In der Bordellszene ist Sodom und Gomorrah vom Erdgeschoß
bis zum 2. Stock, auch mit dem Skelett und tierköpfigen Tänzern! Für Provokation
ist also gesorgt! Das Irrenhaus scheint ein Spital für terminale Syphilitiker
zu sein.
Musikalisch
war die Aufführung hervorragend. Edward GARDNER, vor zwei Jahren nicht
sehr überzeugend in "Elisir d'amore", seit einem Jahr Direktor der English
National Opera, zeigte sich erheblich mehr mit Strawinsky vertraut als
mit Donizetti. Er wußte die sperrige, etwas trockene Partitur zu beleben;
und das ORCHETRE D L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS war hörbar angetan davon,
ebenso wie der CHŒUR DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS (Leitung Winfried MACZEWSKI),
besonders in der Versteigerung-Szene des 3. Akts.
Die
Aufführung gab dem jungen Engländer Toby SPENCE als Tom Rakewell die Gelegenheit;
sich in der Rolle eines großen Charaktertenors zu zeigen. Seine perfekte
stimmliche Technik erlaubt ihm vom lyrischen Tenor seines gewohnten Repertoires
von Händel, Mozart und Rossini in diese schwierige Rolle umzusteigen,
die er auch mit raffinierter Eleganz spielte. Laurent NAOURI war sein
Gegenspieler Nick Shadow, der in perfektem Englisch (er studierte in der
Guildhall School) und sehr forschem Auftreten dem bösen Geist Toms seinen
prachtvollen Baß-Bariton lieh.
Die
arme Anne Trulove wurde von Laura CLAYCOMB sehr innig gesungen und mit
Kinderwagen und Baby auch sehr rührend gespielt. René SCHIRRER gab dem
Vater Trulove die nötige resignierte Würde und stimmlichen Ausdruck. In
einem sehr provokanten Kostüm war Hillary SUMMERS eine sehr passende Mother
Goose. In der unsympathischen, wenig dankbaren Rolle von Baba the Turk,
zeigte Jane HENSCHEL ihr überragendes Schauspieltalent, in Smoking und
grauem Backenbart. Als Versteigerer Sellem lizitierte Ales BRISCEIN mit
gutem hohem Tenor den hysterischen Kaufwahn um Babas luxuriösem Klimbim.
Als Schließer des Irrenhauses war Ugo RABEC rollendeckend.
Der
Schlußbeifall war höflich, aber nicht sehr überzeugend. wig.
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