Vor
einigen Jahrzehnten habe ich"Thaïs" mit Leontyine Price und Michel Roux
in Chicago gesehen und erinnerte mich an eine ziemlich schmalzige Oper,
mit sehr unglaubwürdigem Inhalt. Nach langen Jahren das Werk von Charpentiers
Lehrer wieder zu hören, war interessant, denn man hat Abstand und Erfahrung
gewonnen. Sicher, Massenet hat sämtliche musikalische Bekanntschaften
seiner Zeit geplündert, von der Grand Opéra über Offenbach und Wagner
bis Puccini, allerdings mit einigem Talent. Denn der Komponist aus Saint
Etienne war ein großer Könner, ein Meister der Melodik und der Orchestrierung,
in keiner Weise von Modernität oder Avantgardismus gequält.
Viele
Stellen sind schrecklich sentimental, purer Kitsch, besonders das Violin-Zwischenspiel
"Méditation" des 2. Akts, ein Schmachtfetzen, der immer wieder kommt,
der André Rieu alle Ehre machen würde. Das Libretto von Louis Gallet nach
dem Roman von Anatole France trieft von Orientalismus des ausgehenden
19. Jahrhunderts, mit einer größeren Dosis Mystizismus und der beginnenden
Psychiatrie, die Charcot damals in seinen bahnbrechenden Studien über
Hysterie bekannt gemacht hatte und von seinem Schüler Siegmund Freud weitergeführt
wurden. Die hysterischen Anfälle der Thaïs im 1. und 3. Akt könnten klinische
Protokolle sein und aus Freuds Schriften stammen, ebenso wie Thaïs' Bekehrung
eine Studie über Manipulation ist.
"Thaïs"
steht und fällt mit den zwei Hauptrollen. Renée FLEMING hat diese Paraderolle
wieder ausgegraben und reist damit quer durch Europa. Ihre prachtvolle,
schillernde Stimme mit den kraftvollen Ausbrüchen, dem gehauchten Legato
und den subtilen Höhen ist ideal für die Rolle der teuren ägyptischen
Luxus-Nutte, die sich zum strengen Christentum der Zenobiten in der thebaidischen
Wüste bekehrt. Bisweilen wirkte die Amerikanerin etwas manieriert, wie
beim Festgelage in der 2. Szene, wozu das Tulpen-Kleid von Christian Dior
beitrug (ich fand es scheußlich, andere waren enthusiastisch). Leider
ist ihre französische Diktion nicht sonderlich gut. Ihre Musikalität und
souveräne Beherrschung der Nuancen in der Bekehrungsszene und der Wanderung
durch die Wüste sind jedoch bestechend.
Ihr
Partner als Athanaël war GERALD FINLEY. Er setzt seinen warmen Kavaliers-Bariton
mit Ausdruck und Intelligenz ein. Die ungewöhnlich ausgeglichene Stimme
wirkt nie routiniert oder langweilig. Die ausnehmend hohe Bariton-Rolle
ist eine richtige Kraftpartie, zumal der Sänger praktisch ständig auf
der Bühne steht. Finley Verstand es, dem Athanaël, der eine besonders
fanatische und sture Form des frühen Christentums verkörpert, aber von
der fleischlichen Lust gepeinigt wird, eine sehr glaubhafte und ausdrucksvolle
Darstellung zu geben.
Der
Sybarit Nicias, Athanaëls Jugendfreund, der sich in Schulden gestürzt
hat, um eine Woche lang die Reize der Thaïs zu genießen, wurde von Fabrice
DALIS gesungen, der für den erkrankten Barry Banks eingesprungen war und
deshalb als einziger mit Noten sang. Sein sehr hoher und schmiegsamer
Tenor war für die Rolle des reichen Lebemanns sehr passend. Allerdings
trägt die Stimme nicht sehr. Den Abt der Zenobiten sang Nicolas COURJAL
mit warmem Baß und wiederholte mehrmals die Parole: "Ne mêlons nous jamais
aux gens du siècle" (Mischen wir uns nicht unter die Leute unserer Zeit!).
Unter
den Nicias umgebenden Mädchen, fielen Marie DEVELLEREAU (Crobyle) und
Nora SOUROUZIAN (Myrtale) mit hübschen Stimmen auf, sowie die Charmeuse
von Rebecca BOTTONE, die nur Vokalisen singt. Caitlin HULCUP als Äbtin
Albine und Laurent ALVARO als rauher Diener des Nicias vervollständigten
die Besetzung. Die Sänger des Kammerchors ACCENTUS unter der Leitung von
Laurence EQUILBEY sangen solistisch die Brüder der Mönchs-Gemeinde, die
Damen die Schwestern des Klosters der Albine.
Das
ORCHESTRE DE PARIS in großer Formation unter der Leitung seines Chefs
Christoph ESCHENBACH, mehr bei der Romantik und der großen symphonischen
Literatur zu Hause, schwelgte in Massenets sentimentaler Musik. Der Konzertmeister
Philippe AÏCHE spielte die "Méditation" erträglich schmalzig. - Triumphaler
Applaus für Fleming und Finley. wig.
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