Charpentiers
"Louise" wird im deutschsprachigen Landen leider nur selten gespielt,
und das ist schade. Die Oper wird selten gespielt, obwohl bei der Wiener
Erstaufführung Mahler persönlich dirigierte, der die Oper sehr schätzte,
ebenso wie Richard Strauss. Die 1900 in der Opéra comique uraufgeführte
Oper, untertitelt "Roman musical", ist ein interessantes Zeitdokument
und in seiner Art ein Unikum des sogenannten "Naturalismus", der natürlich
bisweilen etwas sentimental wird. Welcher Unterschied mit der zwei Jahre
später im selben Theater uraufgeführten "Pelleas et Mélisande"! "Louise"
ist wirklich eine Volks-Oper im besten Sinne des Wortes und eine Liebeserklärung
an Paris. Bei der Premiere saßen die Näherinnen von Montmartre im "Paradis",
dem 4. Rang des Theaters.
Oft
mit dem italienischen Verismus fälschlich verglichen - denn es fehlt das
veristische Pathos - hat der Komponist, der auch das Libretto schrieb,
von 1890 bis zu seinem Tod 1954 am Orte seiner "Louise" gelebt, am Montmartre
in Paris. Das war eine Zeit, als die Gegend nicht von zahlungskräftigen
Snobs bewohnt war, sondern von den "kleinen Leuten", den Krämern, Handwerkern
und Arbeitern der wachsenden Großstadt. Die im 2. und 3. Akt im Hintergrund
von den Handwerkern und Straßenverkäufern gesungenen "Cris de Paris",
hat Charpentier täglich am Morgen vor seinem Fenster gehört.
Charpentier
wurde 1860 in Lothringen geboren und während des preußischen Krieges 1870
nach Nordfrankreich umquartiert. Er erlernte die Grundlagen der Musik
in Tourcoing und wurde dann Schüler Massenets am Conservatoire in Paris.
Nachdem er den "Prix de Rome" gewonnen hatte, verbrachte er zwischen 1888
und 1890 drei Jahre in Rom und saugte die musikalische Atmosphäre Italiens
ein. Früh politisch links tätig, gründete er u. a. das "Conservatoire
Mimi Pinson" für mittellose junge Mädchen. Er war auch Gründer und langjähriger
Vorsitzender der Musiker-Gewerkschaft.
Natürlich
ist der Einfluß Massenets und der französischen Musik des ausgehenden
19. Jahrhunderts sehr stark. Aber auch seine italienischen Jahre sind
nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Während des Sommers 1888 besuchte
er Bayreuth und hörte fünf Mal (!) "Parsifal" und drei Mal (!) "Meistersinger".
Wagners Einfluß, vor allem in der Verwendung der Bläser, ist unverkennbar.
"Louise"
wurde ein Welterfolg, der bis New York und Buenos Aires gelangte. Bis
zu Charpentiers Tod 1954 wurde "Louise" über tausendmal an der Opéra comique
gespielt und war bis in die sechziger Jahre noch im Repertoire. Dafür
war die Folgeoper "Julien" ein völliger Umfaller. Vor einigen Jahren war
ein ausgezeichnetes Gastspiel des Capitole in Toulouse mit "Louise" im
Châtelet zu sehen. Doch sonst ist die einstige Erfolgsoper von den Bühnen
Frankreichs verschwunden. Diese Erstaufführung an der Pariser National-Oper
ist daher ein Ereignis, denn diese Wiederentdeckung des französischen
Repertoires des 19. Jahrhunderts kommt nicht zu früh.
In
keiner Oper wird eine Stadt so verherrlicht wie in "Louise", die mit Louises
Ausruf "Paris! Paris!" endet. In diesem Sinne hat das Regie-Team von André
ENGEL (mit Dominique MULLER, Dramaturgie) für eine realistische Bühnengestaltung
und Personenführung optiert. Nicky RIETYs Bühnenbilder sehen aus wie Ausschneidebögen
aus den fünfziger Jahre.
Die
1. Szene spielt auf den Stiegen eines äußeren freien Stiegenhaus zwischen
zwei Zinshäusern. Die Wohnung von Louises Eltern im 1. und 4. Akt ist
die typische Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung der Zeit, wo ein großes, fourniertes
Radio auf einem Tischchen an der Wand als "gutes Stück" trohnt. Der 2.
Akt spielt in einer Metrostation "Montmartre" (die es nicht gibt), mit
den typischen weißen und blauen Kacheln, die nächste Szene vor dem Eingang
mit der charakteristischen Schrift des beginnenden 20. Jahrhunderts "METROPOLITAIN".
Der 3. Akt spielt auf den Dächern von Montmartre und ist sehr ähnlich
dem Bühnenbild Rietys für die Verfolgungs-Szene in "Cardillac" vor einem
Jahr. Die 2. Szene ist ein typisches Pariser Kabarett-Theater, wo Louise
zur Königin der Bohème von Montmartre gekrönt wird. Die Kostüme von Chantal
LA COSTE MESSELIÈRE waren der Zeit entsprechend und sehr kleidsam, vor
allem Louises feuerrotes Kleid. Ausgezeichnet beleuchtet von André DIOT
und gut choreographiert von Frédéric CHAUVEAUX (Kabarett-Szene), war die
Aufführung ein Augenschmaus.
Musikalisch
wurde die Aufführung sehr passend und liebevoll von Sylvain CAMBRELING
betreut, der ein hörbar gutes Verhältnis zu Charpentiers Musik hat. Es
begann bereits im Vorspiel zum 1. Akt, wo der Schwung der aufsteigenden
synkopierten Figur aufhorchen ließ. Die Differenzierung der Instrumente
gelang bestens und das ORCHESTRE DE L'OPÉRA NATIONAL DE PARIS zeigte sich
sichtlich angetan, diese Oper endlich in der Bastille zu spielen. Alessandro
DI STEFANO hatte die CHÖRE bestens einstudiert, die sich vielfach teilten,
und die zahllosen kleinen Rollen der Marktschreier übernommen hatten.
Die
Solisten ließen sich auch nicht lumpen. In der Titelrolle brillierte Mireille
DELUNSCH wie selten. Ihre nicht sehr große, schöne lyrische, ausgeglichene
Stimme ist hier ideal und ihre große Arie des 3. Akts "Depuis que je me
suis donné" wurde ein Triumph für die attraktive Elsässerin. Ihr Julien
war mit Paul GROVES bestens besetzt. Er bringt für die Rolle des Liebhabers
nicht nur den Schmelz seines wunderbar geführten Tenors, sondern er spielt
auch sehr überzeugend den stürmischen Freigeist; außerdem hat er eine
sehr gute Diktion.
Als
Louises Mutter war Jane HENSCHEL stimmlich ausgezeichnet und spielte bestens
die strenge, einzig auf die Unschuld ihrer Tochter bedachte Mama und die
von Gram gequälte Mutter umwerfend tragisch. José VAN DAM brachte für
Louises Vater die Einsamkeit und Tragik des kleinen Mannes sehr deutlich
zum Ausdruck. Stimmlich und darstellerisch nach wie vor überragend, gab
er der Figur erschütternde Tragik. Großartig! Unter den gut zwei Dutzend
Nebenrollen stach Luca LOMBARDO als Noctambule und Pape des Fous hervor,
nicht nur stimmlich, sondern er spielte auch ausgezeichnet. Die vielen
anderen Sänger, viele aus dem Chor, waren alle passend und müssen sich
mit einem Pauschallob begnügen. - Eine sehr schöne Aufführung für ein
hörenswertes Werk. wig.
P.S.:
Charpentiers etwas milde Ansicht des Klassenkampfes spiegelt sich in einem
Gespräch im 2. Akt wieder. Philosoph: "Das Traum des Arbeiters ist, Bürger
zu werden, der Wunsch des Bürgers ist, Grand Seigneur zu werden, und der
Traum des Grands Seigneurs ist, Künstler zu werden". Der Maler: "Und der
Traum der Künstler?" Philosoph: "Götter zu sein!"
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