Die
lange erwartete Wiederaufnahme von Halévys "La Juive" war natürlich der
Höhepunkt und die Sensation dieser Saison an der Pariser Oper. Zwar stand
in der Hauszeitung der Pariser Oper "Ligne 8" (die beiden Opernhäuser
liegen an der Linie 8 der Pariser Metro), daß "La Juive" wegen "des aufkommenden
Faschismus 1934 vom Spielplan der Opéra verschwand" und seither nicht
mehr gegeben wurde. Man scheint allerdings eine spezielle Geschichtsauffaussung
zu haben: denn ab 1936 regierte in Frankreich der linke "Front populaire"
unter Léon Blum. Der Faschismus wurde vor über sechzig Jahren begraben.
Trotzdem wurde Halévys Meisterwerk auch in der Nachkriegszeit in Paris
nicht gespielt - aber in Deutschland und Österreich. Eines der wichtigsten
Werke der französischen Opernliteratur seit siebzig Jahren deswegen nicht
gespielt zu haben, ist eine faule Ausrede. Es gibt wohl einen ganz anderen
Grund: "La Juive" ist nicht "politically correct". Was unterschwellig
in "Ligne 8" in einem guten Artikel "Shylocks Kinder" angedeutet wurde.
Die
Entstehung der Oper ist nicht erfaßbar, ohne die damalige politische Situation
Frankreichs zu verstehen. Nach Napoleons Exil wurde Frankreich in den
folgenden dreißig Jahre von Louis XVIII., Charles X. und Louis Philippe,
drei schwachen, ziemlich unfähigen Königen, regiert (die sog. Restauration).
Die Konfrontation zwischen Royalisten und Republikanern verschärfte sich
während dieser Periode. Die Kirche, das Symbol der Repression, stand auf
der royalistischen Seite. Die von der Revolution gleichgestellten Juden
standen natürlich auf der Seite der Republikaner, ebenso aber auch viele
Freigeister, Künstler und Schriftsteller, so Eugène Scribe, der Autor
des Librettos. Neben vielen komischen Opern, hatte Scribe mehrere höchst
polemische, pseudo-historische Libretti verfaßt, wie die der Opern von
Meyerbeer, die ebenso nur sehr wenig in Frankreich gespielt werden. Mit
den historischen Tatsachen nahm Scribe es zwar nicht sehr genau und seine
Libretti sind bisweilen haarsträubender Humbug, aber vor allem nicht "politically
correct".
Eine
gewisse Ähnlichkeit mit "Il Trovatore" drängt sich auf. In beiden Werken
glauben die Titelhelden, ihre Eltern zu kennen. Beide sterben den Feuertod
in Anwesenheit des Vaters bzw. Bruders, ohne von den Manipulatoren der
Handlung von ihrer wirklichen Herkunft zu wissen. Denn die Drahtzieher
der beiden Opern sind Eléazar, bzw. Azucena. Beide agieren aus blindem
Haß und Rache, überlegt oder im Affekt, sicher die beiden unsympathischsten
Figuren der Opernliteratur (gefolgt von Lady Macbeth, Scarpia und Varianten).
Beide sind Ausgestoßene, Vertreter einer von der damaligen Gesellschaft
verachteten und unterdrückten Minderheit, ein Jude bzw. eine Zigeunerin.
Daß "La Juive" noch eine zusätzliche Dreieckssituation enthält und politisch-konfessionelle
Fragen eingeflochten werden, ändert nichts an der Problematik des Werks.
"La
Juive" und "Il Trovatore" sind brutale Darstellungen, wohin Ausgrenzung,
Intoleranz und Fanatismus führen können. In unserer Zeit der Justizierung
von Kultur und Presse, wo ständig selbst ernannte Richter einen "noblen
Grund" verteidigen, würden vermutlich "La Juive" und "Il Trovatore" kaum
ihre Uraufführung erleben - man denke an den lächerlichen "Idomeneo"-Skandal
in Berlin. Vielleicht war die Zeit der französischen Restauration oder
des metternich'schen Biedermeiers großzügiger und verständnisvoller als
unsere...
Musikalisch
ist Halévys Oper nicht nur künstlerisch sehr anspruchsvoll, sondern musikalisch
höchst interessant. Richard Wagner schätzte "La Juive" sehr. Meisterhaft
orchestriert, hat Halévy eine besonderes Talent für sehr effektvolle Ensembles.
Beim Liebesduett des 2. Akts kann man nicht umhin, an das in "Tristan
und Isolde" zu denken. An mehreren Stellen wirkt die etwas großzügige
Begleitung der Harfe eher ermüdend, doch das ist eine Mode der Zeit (man
denke an "Lucia di Lammermoor"!).
Für
diese sehr löbliche - und überreife - Wiederaufnahme eines der wichtigsten
Werke der "Grand Opéra" war die Pariser Operndirektion nicht pingelich.
Man hat die wohl weltbeste Besetzung auf die Bühne gestellt. Daniel OREN
hat perfekt den musikalischen und dramatischen Geist des Werkes erfaßt
und das Gleichgewicht zwischen bombastischen Einzügen und ergreifenden,
lyrischen Szenen blendend ausgearbeitet. Hörbar war die intensive Probenarbeit
für dieses unbekannte, lange Werk (fast vier Stunden Musik, bei gestrichenem
Ballett!). Die Präzision aller Pulte des ORCHESTRE DE L'OPÉRA NATIONAL
DE PARIS war ein Genuß. Peter BURIAN und Alessandro DI STEFANO hatten
den sehr viel eingreifenden CHOR hervorragend einstudiert.
Daß
Neil SHICOFF heute der unbestrittene Interpret des Eléazars ist, ist eine
Tatsache. Wenngleich sein Stimme eine gewisse Trockenheit zeigt, ist er
der schwierigen Zwischenfach-Rolle völlig gewachsen. Das a capella Gebet
im 2. Akt "Dieu de nos pères" und natürlich seine große Zauder-Arie ("Rachel,
quand du Seigneur") im 4. Akt, waren erschütternd (die Einleitung mit
zwei Oboen. ist ein Meisterwerk). Shicoff lebt diese Rolle, und das Publikum
erlebt sie mit ihm mit.
Die
beiden weiblichen Rollen kann man nicht besser besetzen. Anna Caterina
ANTONACCI ist Rachel, die vermeintliche Jüdin, die bis zum Schluß zwischen
ihrem Glauben und der Liebe zu Léopold schwankt. Eine ganz große Tragödin!
Annick MASSIS als Prinzessin Eudoxia singt nicht nur prächtig, sondern
besticht durch ihre ungewöhnliche Bühnenpräsenz. Stimmlich überragend,
sind die beiden Frauen ein Erlebnis, wie man es nur ganz selten erlebt
(besonders das Duett im 4. Akt mit den hüpfenden Thema). Fabelhaft! Ich
habe so etwas nur einmal, vor genau fünfzig Jahren an der Scala in "Anna
Bolena" zwischen Callas und Simionato erlebt!
Als
Kardinal Brogni war Robert LLOYD nicht ganz befriedigend. Trotz seines
eindrucksvollen Auftretens, fehlt seinem Baß die profunde Tiefe. Am 18.
3. war dafür Ferruccio FURLANETTO völlig überzeugend in der Rolle des
vom Schicksal geprüften Kardinals. Er besitzt vor allem den "basso profondo",
den diese Rolle bedarf. Er zeigte dies überaus eindrucksvoll in seiner
großen Arie "Si la rigueur" zu Beginn der Oper.
Der
wenig charaktervolle kaiserliche Feldherr Léopold ist eine stimmlich sehr
anspruchsvolle, aber dramatisch undankbare Rolle. Immerhin schleicht er
sich als Samuel in das Haus Eléazars ein, um Rachel, die vermeintliche
Jüdin, zu verführen, zeigt aber keine Skrupeln, sich von ihr freisprechen
zu lassen und sie zu opfern, um Eudoxia zu heiraten. John OSBORN spielte
diese dubiose Figur sehr gut und sang seine Liebesduette ausgezeichnet.
Am 18. 3. war Collin LEE zu hören, der ebenfalls vorzüglich sang und spielte.
Beide besitzen sehr helle Stimmen, eher in der Kategorie "tenore di grazia",
Typ Tonio, Fenton oder Nemorino. In den kleineren Rollen der Zeloten Ruggiero
und Albert waren André HEYBOER und Vincent PAVESI passend fanatisch.
Die
Inszenierung stammte von Pierre AUDI, Operndirektor in Amsterdam, der
diese auch in seinem Haus zeigen wird. George TSYPIN hatte ein kathedralenförmiges
Gerüst aus Stahlträgern gebaut, das bedarfsweise hin und her geschoben,
bisweilen auch hoch gezogen wurde. Die Kathedrale verschwand am Schluß
und wurde durch einen eigentümlichen Wabenboden ersetzt, bestückt mit
großen glänzenden Pyrit-Kristallen, von unten rot beleuchtet - der Scheiterhaufen
(Licht: Jean KALMAN). Die Kostüme von Dagmar NIEFIND erinnerten an 1920.
Besonders die kaiserliche Garde schien in graue, statt braune Paradeuniformen
der SA gekleidet zu sein. Einzig Eudoxia trug ein elegantes Lamé-Abendkleid,
der Rest war zwischen alltäglich und banal. Die Personenführung Audis
beschränkte sich aufs Wesentlichste, bei diesen Vollblut-Schauspieler-Sängern
allerdings nicht überraschend. Der Chor war meistens statisch, obwohl
er sehr viel auf der Bühne ist und in die Handlung eingreift.
Trotz
kleiner Beschränkungen, ein prachtvoller Abend, der entsprechend gefeiert
wurde. Ein Ruhmesblatt für die Pariser Oper, die sich so für ihre Vernachlässigungen
entschuldigen konnte. Wenn "La Juive" wieder aufgenommen wird, unbedingt
nach Paris fahren! Ist die Reise wert! wig.
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