"IPHIGENIE EN TAURIDE" - 28. Juni 2006

Mit der Direktion Mortier konnte man ja erwarten, daß sie ein spezielles Geschick mit den Regisseuren haben wird! Gut, man war von Salzburg her gewarnt! Nach einigen katastrophalen Inszenierung, kürzlich von "Simon Boccanegra", aber nur wenigen vereinzelten Lichtblicken, hat die Pariser Oper mit der Produktion den "Iphigénie en Tauride" ein neues Ruhmesblatt szenischen Klaumauks der ziemlich langen Liste zugefügt.

Diesmal wurden die Verantwortlichen für diese Katastrophe aus Polen eingeladen: Krzysztof WARLIKOWSKI zeichnete für die "Regie" und die ehemalige Psychiaterin Margorzata SZCZESNIAK für das Spiegel-Bühnenbild und die "Kostüme", letztere derzeit in jedem größeren Kaufhaus Europas im Sommer-Ausverkauf billigst zu haben. Sechs weitere Mitarbeiter sind auf dem Programm genannt. Diese Aufführung ist so ziemlich die ärgste, prätentiöse Produktion, die mir in Jahrzehnten Opernbesuchs untergekommen ist. Der Rahmen für Glucks dritte große Reformoper, die wie der Titel sagt, in Tauris - der heutigen Halbinsel Krim - spielt, ist ein Altersheim für Frauen. Die Wände dieser Institution bestehen komischerweise aus 10-Meter hohen, bisweilen durchsichtigen Spiegelwänden, hinten, vorn, rechts, links, aber ohne Decke. (Ich möchte nicht die Rechnung für die mehreren hundert Quadratmeter Spiegel sehen!)

Neben acht gestreiften Matrazenbetten, zieren rechts vier Waschbecken, links vier Duschen die Bühne. Acht Ventilatoren hängen vom Schnürboden und drehen sich fast dauernd. Das Mobiliar des Dianatempels in Tauris besteht sinnigerweise aus einem Tisch, einigen Stühlen, einem Fernseher und einer besonders schäbigen roten Stehlampe. Ausnahmsweise gibt es keine Leitern und keine Koffer - sind anscheinend nicht mehr in Mode. In diesem Rahmen wandern acht alte Weiblein in Schlafrock und Filzpantoffeln über die Bühne. Mit Ausnahme Iphigenies, die eine der Damen ist, eine alte Sängerin, in goldenem Lamé-Kleid und platinblonder Perücke - im Stil von Nachkriegs-Hollywood - und wird gleichzeitig von einer schwarzhaarigen Mimin doubliert. Einige andere Figuren erscheinen aus unklaren Gründen im Hintergrund der Bühne, u. a. ein Aufmarsch von Statisten mit verrückten Hütchen oder Masken und einer französischen Tricolore!

Im 2. Akt tauschen die beiden Frauen die Rollen, und Iphigenie erscheint nun rotgekleidet und die Mimin im Lamé-Kleid. Während Orest und Pylades sich streiten, wer sterben soll (in der musikalisch höchst dramatischen Szene "Dieux, fléchissez son cœur!"), haben beide sehr cool wenigstens eine Hand in der Hosentasche. Thoas kreist in einem elektrischen Rollstuhl durch die Gegend, außer am Schluß, wo er mit aufgeklebter Cyrano-Nase in der rechten Balkon Proszeniumsloge erscheint, mit einem riesigen Bouquet Rosen, die er einzeln auf die Bühne wirft, bevor er von Pylades wie ein Schwein abgestochen wird. Monty Python ist nicht sehr weit - aber bei den Engländern gibt's wenigstens etwas zu lachen! Der Alptraum Iphigénies wird von einem Paar gemimt: ein nackter Orest ersticht eine rothaarige Klytemnästra mit offenem Kleid und Hängebrüsten. Am Schluß wird die geplante Opferung Orests durch Iphigénie von einem Video doubliert, wo Klytemnästra den nackten Orest erstechen will.

Nichts gegen Rückblendungen, Spiegelungen, die bisweilen recht aufschlußreich sind, aber wozu das? Da die Bühne mit Spiegelwänden verbaut ist, mußten Chor, Diana und die Nebenrollen im Orchestergraben untergebracht werden. Das auf der Riesenbühne des Palais Garneir! Übrigens, ein gutes Drittel der Handlung spielt vor der herunter gelassenen ersten Spiegelwand auf einem etwa 1,5 m breiten Streifen Bühne. Warum nicht gleich konzertant? Leider informiert das - sonst meist ausgezeichnete - Programmbuch diesmal nicht über die Intentionen des Regieteams, denn neben einigen interessanten musikologischen Aufsätzen, sind nur Texte gedruckt, die nur sehr entfernt mit der Handlung der Oper zu tun haben.

Das Bedauerlichste an dieser Katastrophe ist die Tatsache, daß sich erstklassige Künstler für diesen Klamauk hergegeben haben. Denn musikalisch war die Aufführung auf sehr hohem Niveau. Marc MINKOWSKI, einer der Päpste der französischen Barockmusikszene, der sich seit zwei Jahrzehnten für authentische barocke Aufführungen einsetzt, und dessen MUSICIEN DU LOUVRE-GRENOBLE auf alten Instrumenten spielen, brachten die Intensität der Dramatik dieses großartigen Werks bestens zur Geltung. Chef und Orchester waren ganz in ihrem Element. Nur mußte man am besten die Augen schließen. Daß sich diese ausgezeichneten Musiker zu einer derartigen Verhunzung verleiten ließen, ist traurig.

Daß die große Susan GRAHAM - heute unbestritten eine der großen Mezzos - die souverän die Titelrolle mit größter Intensität und stilistischer Perfektion sang und sehr ergreifend spielte, daß Russel BRAUN als Orest und Yann BEURON als Pylades, beide ebenso stimmlich und darstellerisch erstklassig, bei solchem Quatsch mittaten, ist ebenso unverständlich. Frank FERRARI lieh seinen prachtvollen Baß dem Thoas, Salomé HALLER sang mit hübscher Stimme die kurze Szene der Dea-in-machina, Diana - aus dem Orchestergraben.

Bei der Premiere gab es einen Riesenskandal (eine "Bronca", nennt man das in Frankreich). Das wird nun fast Routine, denn auch diesmal wurde fest gebuht.

In der Pause sprach ich mit einigen Besuchern. Alle hatten beschlossen, ihr Abonnement nicht zu erneuern, wegen der Inszenierungs-Katastrophen. Aber dafür lag überall ein langes Formular der Direktion auf, in dem so wichtige Fragen wie "Wie lange brauchen Sie, um in die Oper zu kommen?", "Nehmen Sie auch an anderen kulturellen Veranstaltungen teil?" und "Wie oft?", "Speisen Sie nach der Vorstellung in einem Restaurant?" oder "Kommen Sie zu Fuß, mit Fahrrad, Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln in die Oper?" u.s.w. gestellt wurden. Sorgen hat die Direktion! Es wäre vielleicht nützlicher, wenn man sich um die künstlerischen und ästhetischen Wünsche des Publikums kümmerte! wig.