"SEMIRAMIDE" - 26. April 2006

Das Libretto dieser Oper ist eine der wildesten Schauergeschichten der Antike und der Opernliteratur überhaupt. Elektra, Oedipus und Hamlet in einem Abend! Semiramide ist Klytemnästra und Jokaste in einer Person. Mit dem Verräter Assur bringt sie ihren Gatten Nino um, der natürlich als Geist erscheinen wird. Doch statt Assur zu heiraten und ihn auf den Thron zu bringen, wartet sie fünfzehn Jahre, um sich in einen jungen skythischen General Arsace zu verknallen, der wie sich bald herausstellt, Ninias, ihr und Ninos Sohn ist! Der Librettist Gaetano Rossi, der bereits zehn Jahre vorher das Libretto (ebenfalls nach Voltaire) von Rossinis "Tancredi" geschrieben hatte, hat zu dieser einigermaßen komplizierten gräßlichen Geschichte noch eine weitere Intrige hinein gestrickt. Da in einer italienischen Oper ein Tenor da sein muß, wurde ein indischer Prinz erfunden mit dem poetischen Namen Idreno, der auf eine gewisse Azema spitzt, auf die auch der bereits genannte Arsace scharf ist. Das ergibt eines der konfusesten Libretti der Opernliteratur - "La Forza del destino" ist dagegen einfach und klar wie Quellwasser. Auf diese Greuelgeschichte hat Rossini seine letzte italienische Oper geschrieben, denn er zog kurz darauf nach London und dann nach Paris. Fast genau zehn Jahre nach "Tancredi", wurde "Semiramide" mit der Colbran (Rossinis Gattin) in der Titelrolle am 3. Februar 1823 im Teatro La Fenice uraufgeführt. Die Pariser Premiere war zwei Jahre später mit der Malibran als Semiramide.

"Semiramide" ist von diabolischer Komplexität. Rossini hat alle seine Entdeckungen seiner zehn neapolitanischen Jahre in dieses ungewöhnlich lange Werk eingeflochten (fast dreieinhalb Stunden Musik, trotz erheblicher Striche): ein für die damalige Zeit enormes Orchester mit weitgehender Verwendung der Bläser, keine Secco-Rezitative, sondern sehr dramatische Ariosi, relativ wenige Soloarien, zahlreiche Ensembles, oft mit großen Chören. Bisweilen etwas bombastisch, strotzen die Rollen von Schwierigkeiten und Verzierungen. Sehr schmissige Kabaletten und Stretten werden von wenigen lyrischen Arien abgelöst. Die stimmlichen Ansprüche machen verständlich, weshalb "Semiramide" nur selten gespielt wird. Deshalb ist auch von dieser Oper vor allem die Ouvertüre bekannt.

Vor 25 Jahren mit Caballé in der Titelrolle im selben Theater gegeben, wurde dir Oper seither nur einmal konzertant in Paris gespielt. Für fünf Abende wurde "Semiramide" deshalb in einer nicht sonderlich aufwendigen Produktion gebracht. William ORLANDI schuf ein Einheitsbühnenbild in Form eines pechschwarzen Turminneren, das nach Bedarf durch ein schwarzes Monument ergänzt wird, das Thron oder Altar sein könnte. Die Kostüme des selben waren auch nicht sonderlich geistreich: langes schwarzes oder weißes Abendkleid für die Damen, Frack für die Herren mit großer weißer Binde, große rote Schleppen für die königlichen Aufmärsche. Gilbert DEFLO hatte keine Schwierigkeit in diesem Minimaldekor die hochkarätige Besetzung durch die konfuse Geschichte zu lotsen. Jean-Pascal PRACHT konnte seine Beleuchtung auf die wenigen "lichten" Momente beschränken.

Am Pult des ORCHESTRE NATIONAL DE FRANCE waltete ein großer Spezialist dies Belcanto-Repertoires, Evelino PIDÒ, der dieser riesigen Partitur das richtige Gleichgewicht zwischen Rossinischem Brio, großem Spektakel und banda municipale gab. Irène KUDELA hatte den CHOR DES TCE bestens einstudiert.

Die junge Alexandrina PENDATCHANSKA hatte kürzlich die Titelrolle bereits in New York gesungen. Die zierliche bulgarische Sopranistin (Callas war auch nicht groß!) meisterte diese Monsterrolle phantastisch, besonders die Koloraturen und Fiorituren, wenngleich sie in den Höhen bisweilen etwas forcierte. Auch darstellerisch war sie der Rolle bestens gewachsen. Ihren Sohn Arsace/Ninia gab Barbara di CASTRI, die auch keine Hünin ist. In eine Art schwarze Battledress gesteckt, kann sie ihre weiblichen Rundungen nur schwer verbergen. Trotz dieses läppischen Kostüms spielte sie die schwierige Rolle mit unglaublicher Intensität und stimmlichem Einsatz.

Michele PERTUSI gab dem Bösewicht Assur nicht nur seine dominierende Bühnenpräsenz, sondern auch seinen ungewöhnlichen basso cantante, der alle Finessen des italienischen Belcanto perfekt beherrscht. Seine Irrsinnsszene in der Gruft des Nino war einfach umwerfend, großartig! Gregory KUNDE gab der unnötigen, eher lächerlichen Figur des Idreno, der erfolglos um Azema wirbt, ein wenig Substanz, dank seines brillanten Tenors und der perfekten Kenntnis des Belcanto.

Die arme Azema, die verkuppelt wird, war bei der aparten Ariana ORTIZ bestens aufgehoben. Dem Hohepriester Oroe lieh Federico SACCHI seinen schönen Bariton und gab ihm passende Würde. Enrico FACINI überbrachte den Beschluß des Orakels, Fernand BERNADI sang passend die geisterhafte Erscheinung des ermordeten Nino.

Ein eindrucksvoller Abend einer Oper, die kaum ins Repertoire vieler Operhäuser paßt, vor ausverkauftem Haus. wig,