Das
Libretto dieser Oper ist eine der wildesten Schauergeschichten der Antike
und der Opernliteratur überhaupt. Elektra, Oedipus und Hamlet in einem
Abend! Semiramide ist Klytemnästra und Jokaste in einer Person. Mit dem
Verräter Assur bringt sie ihren Gatten Nino um, der natürlich als Geist
erscheinen wird. Doch statt Assur zu heiraten und ihn auf den Thron zu
bringen, wartet sie fünfzehn Jahre, um sich in einen jungen skythischen
General Arsace zu verknallen, der wie sich bald herausstellt, Ninias,
ihr und Ninos Sohn ist! Der Librettist Gaetano Rossi, der bereits zehn
Jahre vorher das Libretto (ebenfalls nach Voltaire) von Rossinis "Tancredi"
geschrieben hatte, hat zu dieser einigermaßen komplizierten gräßlichen
Geschichte noch eine weitere Intrige hinein gestrickt. Da in einer italienischen
Oper ein Tenor da sein muß, wurde ein indischer Prinz erfunden mit dem
poetischen Namen Idreno, der auf eine gewisse Azema spitzt, auf die auch
der bereits genannte Arsace scharf ist. Das ergibt eines der konfusesten
Libretti der Opernliteratur - "La Forza del destino" ist dagegen einfach
und klar wie Quellwasser. Auf diese Greuelgeschichte hat Rossini seine
letzte italienische Oper geschrieben, denn er zog kurz darauf nach London
und dann nach Paris. Fast genau zehn Jahre nach "Tancredi", wurde "Semiramide"
mit der Colbran (Rossinis Gattin) in der Titelrolle am 3. Februar 1823
im Teatro La Fenice uraufgeführt. Die Pariser Premiere war zwei Jahre
später mit der Malibran als Semiramide.
"Semiramide"
ist von diabolischer Komplexität. Rossini hat alle seine Entdeckungen
seiner zehn neapolitanischen Jahre in dieses ungewöhnlich lange Werk eingeflochten
(fast dreieinhalb Stunden Musik, trotz erheblicher Striche): ein für die
damalige Zeit enormes Orchester mit weitgehender Verwendung der Bläser,
keine Secco-Rezitative, sondern sehr dramatische Ariosi, relativ wenige
Soloarien, zahlreiche Ensembles, oft mit großen Chören. Bisweilen etwas
bombastisch, strotzen die Rollen von Schwierigkeiten und Verzierungen.
Sehr schmissige Kabaletten und Stretten werden von wenigen lyrischen Arien
abgelöst. Die stimmlichen Ansprüche machen verständlich, weshalb "Semiramide"
nur selten gespielt wird. Deshalb ist auch von dieser Oper vor allem die
Ouvertüre bekannt.
Vor
25 Jahren mit Caballé in der Titelrolle im selben Theater gegeben, wurde
dir Oper seither nur einmal konzertant in Paris gespielt. Für fünf Abende
wurde "Semiramide" deshalb in einer nicht sonderlich aufwendigen Produktion
gebracht. William ORLANDI schuf ein Einheitsbühnenbild in Form eines pechschwarzen
Turminneren, das nach Bedarf durch ein schwarzes Monument ergänzt wird,
das Thron oder Altar sein könnte. Die Kostüme des selben waren auch nicht
sonderlich geistreich: langes schwarzes oder weißes Abendkleid für die
Damen, Frack für die Herren mit großer weißer Binde, große rote Schleppen
für die königlichen Aufmärsche. Gilbert DEFLO hatte keine Schwierigkeit
in diesem Minimaldekor die hochkarätige Besetzung durch die konfuse Geschichte
zu lotsen. Jean-Pascal PRACHT konnte seine Beleuchtung auf die wenigen
"lichten" Momente beschränken.
Am
Pult des ORCHESTRE NATIONAL DE FRANCE waltete ein großer Spezialist dies
Belcanto-Repertoires, Evelino PIDÒ, der dieser riesigen Partitur das richtige
Gleichgewicht zwischen Rossinischem Brio, großem Spektakel und banda municipale
gab. Irène KUDELA hatte den CHOR DES TCE bestens einstudiert.
Die
junge Alexandrina PENDATCHANSKA hatte kürzlich die Titelrolle bereits
in New York gesungen. Die zierliche bulgarische Sopranistin (Callas war
auch nicht groß!) meisterte diese Monsterrolle phantastisch, besonders
die Koloraturen und Fiorituren, wenngleich sie in den Höhen bisweilen
etwas forcierte. Auch darstellerisch war sie der Rolle bestens gewachsen.
Ihren Sohn Arsace/Ninia gab Barbara di CASTRI, die auch keine Hünin ist.
In eine Art schwarze Battledress gesteckt, kann sie ihre weiblichen Rundungen
nur schwer verbergen. Trotz dieses läppischen Kostüms spielte sie die
schwierige Rolle mit unglaublicher Intensität und stimmlichem Einsatz.
Michele
PERTUSI gab dem Bösewicht Assur nicht nur seine dominierende Bühnenpräsenz,
sondern auch seinen ungewöhnlichen basso cantante, der alle Finessen des
italienischen Belcanto perfekt beherrscht. Seine Irrsinnsszene in der
Gruft des Nino war einfach umwerfend, großartig! Gregory KUNDE gab der
unnötigen, eher lächerlichen Figur des Idreno, der erfolglos um Azema
wirbt, ein wenig Substanz, dank seines brillanten Tenors und der perfekten
Kenntnis des Belcanto.
Die
arme Azema, die verkuppelt wird, war bei der aparten Ariana ORTIZ bestens
aufgehoben. Dem Hohepriester Oroe lieh Federico SACCHI seinen schönen
Bariton und gab ihm passende Würde. Enrico FACINI überbrachte den Beschluß
des Orakels, Fernand BERNADI sang passend die geisterhafte Erscheinung
des ermordeten Nino.
Ein
eindrucksvoller Abend einer Oper, die kaum ins Repertoire vieler Operhäuser
paßt, vor ausverkauftem Haus. wig,
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