Gérard
Mortier hatte bereits vor acht Jahren die Oper "L'Amour de Loin" der finnischen
Komponistin Kaija Saariaho für die Salzburger Festspiele in Auftrag gegeben.
Seit zwei Jahren ist er Pariser Operndirektor. Das neue Auftragswerk für
die Pariser Oper hat das selbe Trio zusammengefunden: die finnische Komponistin
Kaija Saariaho, den franco-libanesischen Schriftsteller Amin Maalouf,
der das Libretto wieder auf Französisch schrieb, und den amerikanischen
Regisseur Peter SELLARS, der für die Dramaturgie sorgte und die Inszenierung
machte. Das Team hat sehr intensiv zusammen gearbeitet und hat eines der
packendsten Werke der letzten Jahrzehnte geschaffen.
Das
Werk spielt "in einem Land im Krieg" - einem Bürgerkrieg - ohne genaue
Angabe. Maalouf, der selbst aus dem Bürgerkrieg im Libanon geflohen ist,
hat damit umgangen, bezichtigt zu werden, voreingenommen zu sein, und
gleichzeitig vermieden in einen derzeitigen Konflikt verwickelt zu werden,
von dem man hoffen kann, daß er in einigen Jahren beigelegt sein wird.
Es könnte der Libanon oder Kosovo, Darfur oder Irak, Tschetschenien oder
Palästina sein, oder eines der vielen anderen vom Bürgerkrieg geplagten
Länder.
Der
Inhalt ist einfach, aber packend: In der 1. Szene verweigert Adriana herablassend
Tsargos, ihrem einstigen Tänzer, eines Abends den Zutritt zu ihrem Haus.
Ihre Schwester Refka hat das Gespräch belauscht und wirft Adriana vor,
sich mit einem "betrunkenen Nichtsnutz" überhaupt einzulassen: "Einen
Skorpion verwundet man nicht, man zertritt ihn mit seinem Absatz, oder
läßt ihn ziehen." In der 2. Szene kommt Tsargos, nun mit Kalaschnikow
bewaffnet, um aufs Dach zu steigen, um "die Anderen zu beobachten, denn
wenn sie bis hierher kommen, werden sie uns alle massakrieren". Adriana
verflucht die Krieger aller Länder und Armeen. Tsargos dringt schließlich
gewaltsam ein und vergewaltigt Adriana. In der 3. Szene wirft sich Refka
vor, das Unheil nicht verhütet zu haben. Adriana ist hoch schwanger und
fragt sich, ob ihr Kind "Kain oder Abel" sein würde. Orchestrales Traum-Zwischenspiel.
Im 2. Teil, siebzehn Jahre später, wirft Yonas seiner Mutter Adriana vor,
ihm die wahre Natur Tsargos' verborgen zu haben, der angeblich als Held
im Kampf um das Dorf gefallen sei. Doch Tsargos lebt in einer anderen
Gegend des Landes und ist nie in das Dorf Adrianas zurückgekehrt. Yonas
schwört, daß er ihn ermorden werde. In der nächsten Szene wird erzählt,
daß Tsargos ins Dorf zurückgekommen sei. Yonas kommt dazu und hört das.
Er will Tsargos sofort erschießen. Orchestrales Traum-Zwischenspiel.
In
der 3. Szene trifft Yonas auf Tsargos, der ihm den Rücken kehrt. Ein Streit
entspinnt sich zwischen den beiden, und Tsargos dreht sich um: er ist
blind. Yonas ist derartig erschüttert, daß er es nicht über sich bringt,
seinen Vater zu ermorden. In der Schlußszene finden sich die vier Personen
zusammen auf der Bühne, Yonas bittet seine Mutter um Verzeihung, ihren
Vergewaltiger nicht ermordet zu haben. Refka ist wieder von Selbstbeschuldigungen
gepeinigt. Schließlich singt Adriana am Ende: "Wir sind nicht gerächt
worden, aber wir sind gerettet." Diese Schlußszene erinnert stark an den
versöhnenden Charakter des Schlusses der "Frau ohne Schatten".
In
sehr poetischer französischer Sprache drückt Maalouf Zweifel über verschiedene
allgemeine Meinungen, Ideen und Vorurteile aus: Blut und ethnische Zugehörigkeit,
Mörder und Opfer, Rache und Versöhnung, um zu einem sehr humanistischen
Schluß des Konflikts zu kommen, denn die Oper endet ja in Versöhnung.
Der Text ist zudem ein Hymnus auf die Mutterschaft und unterstreicht die
menschliche Seite des Dramas des Krieges. Die Zeitlosigkeit des Dramas
ist ungemein packend wie in einer griechischen Tragödie, und man muß oft
an die Atriden- oder Oedipus-Tragödien denken. Doch die Zwiespältigkeit
der Beziehungen zwischen den vier Personen läßt die Handlung psychologisch
sehr offen.
Saariaho
unterstreicht diese Zeitlosigkeit und Zwiespältigkeit noch durch ihre
Musik mit durchaus singbarer, meist höchst dramatischer Deklamation, die
an Debussy und Strauss erinnert, besonders an "Elektra". Selbst sehr lyrische
Stellen, wie der ungemein poetische Eingangsmonolog Adrianas sind sehr
packend. Saariaho geht jedoch über den expressionistischen musikalischen
Diskurs hinaus, denn ihre Stärken sind Klangfarben und das Spiel mit Nuancen.
Flatterzunge und glissandi sind vielseits verwendet. Der Chor wird großteils
"instumental" verwendet und singt meist nur Vocalisen oder Textfragmente
in den Träumen, meistens elektronisch (IRCAM) in den Saal "spazialisiert".
Erst am Schluß singt der Chor - auch im Stil des griechischen Dramas -
seine Kommentare auf einen Text. Man kommt völlig gebannt und erschüttert
aus der Vorstellung.
Die
Regie von Peter Sellars ist überraschend einfach und nüchtern, ohne Beteiligung
von unnötigen Videokünstlern, wie es bei "Tristan" oder Adams' "El Nino"
der Fall war, wo alles von den Videos erdrückt wurde. Georges TSYPIN schuf
eine einfache, realistische Szenerie kleiner Steinhäuser mit runden Kuppeln
(was vermuten läßt, daß das Stück in einem islamischen Land spielt), die
durch eine besonders geschickte Beleuchtung von James F. INGALLS von unten
oder seitwärts sehr eindrucksvolle Bilder ergab. Die Kostüme von Martin
PAKLEDINAZ waren aufs Minimum beschränkt und sind vom Flohmarkt.
Esa-Pekka
SALONEN hatte die musikalische Leitung des Werks seiner Landmännin inne.
Er war sichtlich und hörbar in seinem Element, und das ORCHESTER DER PARISER
OPER folgte ihm mit Enthusiasmus. Peter BURIAN hatte die schwierige Aufgabe
den Vocalisen-CHOR einzustudieren, der das mit eindrucksvollem Erfolg
tat. Chor und Chorchef wurden am Schluß mit Recht sehr applaudiert.
Nur
vier Sänger bestreiten die Handlung der zweistündigen Oper. In der Titelrolle
war die junge irische Mezzosopranistin Patricia BARDON erschütternd, sowohl
gesanglich der schweren Rolle völlig gewachsen und darstellerisch absolut
perfekt. In der Rolle der von Selbstvorwürfen gepeinigten Schwester Refka
konnte Solveig KRINGELBORN überzeugend ihre großen gesanglichen und darstellerischen
Fähigkeiten zeigen.
Der
"böse" Tsargo, "der miserable Kerl", der Adriana vergewaltigt und am Ende
blind wird, selbst ein gewalttätiges Opfer eines unmenschlichen Krieges,
wurde von Stephen MILLING tragisch dargestellt und überzeugend gesungen.
Adrianas Sohn Yonas, der aus der Vergewaltigung hervorgegangen ist, der
seine Mutter rächen und den Vater ermorden will, was er aber dessen Blindheit
wegen nicht übers Herz bringt, wurde von Gordon GIETZ mit größtem Einsatz
und jugendlicher Intensität dargestellt.
Daß
wie in "L'Amour de Loin" keine französischen Sänger für eine französische
Oper zu finden waren, ist natürlich eine Schande. Obwohl die Sänger Französisch
nicht als Muttersprache haben, war die Diktion trotzdem ausgezeichnet.
Ein
großer Abend in den Annalen der Bastille-Oper, vom zahlreichen Publikum
gefeiert. Hoffentlich ist eine Wiederaufnahme in absehbarer Zeit geplant,
denn ein Werk solcher Intensität und Tiefe kann man nicht wirklich nach
einmaligem Hören beurteilen oder würdigen. wig.
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