Martinù
kam 1923 mit einem Stipendium nach Paris, kein Unbekannter, denn mehrere
seiner Komposition waren bereits erfolgreich gespielt worden. Er war nach
Frankreich gekommen, um bei Albert Roussel zu lernen, denn er hatte wenig
geistige und musikalische Verbindung mit den Zwölftönern der "Wiener Schule".
Er dachte aber nicht, daß er fast 20 Jahre in Frankreich bleiben würde,
um dann in die USA fliehen zu müssen. Doch diese Zeit wurde für ihn sehr
ausschlaggebend. Dank der Beziehungen zur tschechischen Kolonie in Paris
um den Dichter V. Nezval und die Maler J. Sima und F. Kupka trat er rasch
in Verbindung mit den Surrealisten und Dadaisten.
Die
sehr internationale Pariser "Szene" war sehr aktiv, und Verbindungen wurden
leicht geknüpft. Überall war sehr viel los, und Martinù schrieb mehrere
Ballettmusiken, aber auch Symphonien, Kammermusik und Rundfunkopern. Georges
Neveux (aus der Ukraine stammend) schrieb 1930 "Juliette". Doch die Uraufführung
in Paris fiel durch. Martinù sah das Stück und war hingerissen. Er begann
gleich mit der Vertonung, und nach Bekanntschaft mit Neveux einige Monate
später erklärte er ihm, daß er sein Stück als Oper komponiere und lud
den Autor zu sich ein, um ihm den ersten Akt vorzuspielen. Neveux war
derart begeistert, daß er noch am selben Abend ein Telegramm an den amerikanischen
Agenten Kurt Weills schickte, um das Weill versprochene Libretto zurückzuziehen!
Vor der Unmöglichkeit einer französischen Aufführung stehend, beschloß
Martinù das Stück ins Tschechische zu übersetzen, und "Juliette" wurde
am 16. März 1938 im Prager Nationaltheater uraufgeführt. Kurz vor seinem
Tod 1959 verfaßte Martinù mit Georges Neveux selbst eine französische
Fassung, die erst 1976 in Rouen aufgeführt und 2002 ins Repertoire der
Pariser Oper aufgenommen wurde.
Von
Handlung kann man in "Juliette" praktisch nicht sprechen. Michel hat sich
in eine junge Frau, die er am Fenster singen hörte, verliebt und kommt
nun nach drei Jahren wieder in das südfranzösische Städtchen, um das Mädchen
zu finden. Alle Einwohner der Stadt haben aber das Gedächtnis verloren:
der Briefträger stellt drei Jahre alte Briefe zu, kein Mensch weiß, daß
es eine Bahnhof gibt, oder ob das "Hotel des Voyageurs" existiert. Alles
bewegt sich in einer psychologischen Zwischensphäre zwischen Traum und
Wirklichkeit. Als einzigen Nachhall aus der "alten Zeit" spielt ein alter
Mann auf der Ziehharmonika eine Melodie, die immer wieder auftaucht, ebenso
wie Juliettes Lied. Juliette ist ebenso von der Amnesie erfaßt, aber umgekehrt:
wenn der Souvenirhändler nach dem Liebesduett im 2. Akt mit Fotos auftaucht,
glaubt sie auf diesen Fotos Urlaubsbilder mit Michel in Spanien zu sehen.
Im 3. Akt verteilt ein sturer Beamter die Träume nach Quoten für Paris,
Straßburg, Avignon usw. Der blinde Obdachlose, der am Mittwoch gekommen
ist, weil er gestern am Polizeikommissariat seinen Rausch ausschlief,
bekommt erst wieder kommenden Dienstag einen Traum, denn Ausnahmen gibt
es nicht. Einer nach dem anderen holen sich die Männer ihre Träume ab,
aber alle wollen Juliette wiedersehen und klettern durch einen Registerknopf
in das Akkordeon, was Michel natürlich nicht sehr schätzt. Es ist ein
sehr ungewöhnliches Werk, zumal am Ende des 3. Akts alles genau so wie
am Anfang des 1. Akts ist, einschließlich Schläfer und Ziehharmonika,
und so sich der Kreis schließt: die Oper könnte neu beginnen. Trotz der
unwirklichen, phantastischen Atmosphäre ist der Besucher von dieser Parabel
um das "ewig Weibliche" fasziniert.
Ein
Vergleich mit anderen Opern der Zeit liegt nahe: in erster Linie Korngolds
"Tote Stadt" (1920, nach einem symbolistischen Text von G. Rodenbach)
und Poulencs "Les Mamelles de Terésias" (1947, mit surrealistischem Libretto
von G. Apollinaire). Auch hier ist die Handlung auf zwei Hauptpersonen
beschränkt, das Liebespaar, umgeben von vielen - oft grotesken - Randfiguren,
durchwegs sehr charakterisiert und ausgefeilt. Der phantastische, träumerische
Charakter dominiert, und Kneipenszenen spielen eine wichtige Rolle. Die
Komponisten dieser Opern haben sich nie in die Zwölftönerei verirrt und
sind in der musikalischen Tradition ihrer Herkunft verbunden geblieben.
Bei Martinù ist das völlig klar, denn an zahlreichen Stellen wird man
an Dvorak erinnert, vor allem an die phantastische Traumoper "Rusalka",
aber auch an Janacek, wie verschiedene Schrummgeräusche und Klopfthemen
bezeugen.
Der
Musik seiner Wahlheimat hat Martinù auch seine Reverenz erwiesen, denn
Juliettes Lied (immer mit Klavier) könnte ein Chanson sein, wie sie in
den zwanziger Jahren in den Cabarets in Montmartre gesungen wurden, während
die Kneipentänze sehr böhmisch sind. Martinù schrieb eine für die Traumatmosphäre
wunderbar passende und faszinierende Musik, mit impressionistischen oder
jazzigen Anklängen, oft von gesprochenem Text unterbrochen, in kleinen
Zellen weniger Takte, die plötzlich abbrechen und wieder erscheinen. Diese
pointierte Partitur bedarf die größte Konzentration von Seiten aller Musikern
- und des Publikums.
Der
belgische Musikwissenschaftler (und Biograph Martinùs) Harry Halbreich
hat seit der Pariser Erstaufführung vor drei Jahren die ursprüngliche
französische Urfassung entdeckt und veröffentlicht. Diese wurde erstmals
gespielt, im Gegensatz zu der Rückübersetzung 2002. Jiri BELOHLAVEK dirigierte
mit viel Finesse und hörbarer Liebe für das Werk. Er holte aus dem PARISER
OPERNORCHESTER sowohl die slawischen Klänge als auch die Schrumm- und
Klopfgeräusche heraus und brachte - immer wachsam - eine vorbildliche
Verbindung mit der Bühne zustande.
Die
andere Urfassung gab zu einigen Umstellungen Anlaß: der Sänger des Michel
der Aufführungsserie vor drei Jahren weigerte sich eine neue Fassung zu
lernen und mußte in letzter Minute ersetzt werden. Der hervorragende englische
Tenor John GRAHAM-HALL erlernte die schwierige Rolle in zehn Tagen (!)
und war dank seiner Musikalität, seines nachtwandlerischen Spiels und
seiner ausgezeichneten französischer Diktion eine perfekte Inkarnation
des Michel. Als Juliette wurde diesmal die junge Russin Elena SEMENOVA
verpflichtet, die eine entzückende herzliche Stimme hat und die Angst,
die Wirklichkeit zu sehen und zu leben, sehr ausdrucksvoll darstellte.
Die
restlichen Rollen sind eigentlich alle nur Comprimari und waren ausnahmslos
ausgezeichnet; viele hatten bereits vor drei Jahren gesungen. Neu war
Andreas JÄGGI als ausgezeichneter Kommissar, Briefträger und vor allem
als Chef des "Zentralamtes der Träume", wobei er eine blendende Karikarur
des sturen Bürokraten lieferte; Paul GAY war ein imponierender Mann mit
dem Tropenhelm, der gewiefte Souvenirverkäufer und der Sträfling. Alain
VERNHES saß wieder am Fenster und sang das alte Lied zur Ziehharmonika,
war ein süßes altes Männlein und sehr gut als Obdachloser, der keinen
Traum kriegt, weil er einen Tag zu spät kommt. Michèle LAGRANGE war sehr
imposant als Handleserin und Vogelhändlerin; Martine MAHÉ als Fischhändlerin
und kleine Alte. Christian TRÉGUIER stellte wieder sehr gut den alten
Araber auf die Bühne, sowie den alten Matrosen; Gaëlle LE ROI war der
kleine Araber und ein Jäger. Sehr gelungen war René SCHIRRER als der alte
Père "La Jeunesse". Die zahlreichen Kleinrollen waren durchwegs auf dem
Niveau der ausgezeichneten Aufführung.
Das
Publikum war zahlreich gekommen und von diesem traumhaften Abend sehr
begeistert. Es spendete herzlichen Beifall für diese erstklassige Aufführung.
Es ist zu hoffen, daß diese prächtige Produktion in den nächsten Saisonen
wieder aufgenommen wird. wig
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