Es
ist nicht ganz klar, wie man dieses charmante, aber auch zynische Werk
bezeichnen kann. Leonard Bernstein fand den Titel Oper prätentiös und
nannte es "Comical Operetta". Diese kluge, spritzige Kritik des totalitären
Staates, nach Voltaires gleichnamigen, zynischen Pamphlet gegen Leibnitz'
Optimismus, wurde vor genau fünfzig Jahren am Broadway in New York uraufgeführt
- und nach 73 Aufführungen abgesetzt, d. h. ein Flop. Denn das Met-Publikum
rümpfte die Nase und kam nicht, das am Broadway fand es zu intellektuell
und kam auch nicht.
Bernstein
und die Initiatorin und Librettistin Lillian Hellmann hatten es sich nicht
leicht gemacht: ein philosophisches Pamphlet über die "beste aller möglichen
Welten" sollte eigentlich beim amerikanischen Publikum ankommen, aber
kurz nach den Prozessen der McCarthy Kommission, vor die Hellmann zitiert
worden war, kam die Kritik an der Staatsgewalt und gegen Krieg in allen
Formen nicht unbedingt passend. Versuchte Wiederaufnahmen wurden durch
den zwei Jahre späteren Kassen-Reißer "West Side Story" völlig in den
Schatten gestellt. "Candide" wurde von einer ganzen Schar von Librettisten
adaptiert (soweit, daß Hellmanns Name vom Programm verschwand!), ohne
nachhaltigen Erfolg. Man weiß eigentlich nicht, was vom ursprünglichen
"Candide" noch übrig geblieben ist. Dabei gab es 1985 eine Opernfassung
für die NY City Opera und 1988 für die Scottish Opera. Diese skeptische
Parabel über die Gründe des Unglücks der Menschheit hat eigentlich viel
zu bieten und ist höchst aktuell. Musikalisch sind sehr gute Nummern und
echte Hits in der Partitur.
Die
Neufassung der Pariser Erstaufführung von Regisseur Robert CARSEN und
seinem Dramaturgen Ian BURTON ist recht gelungen. Voltaire kommentiert
auf Französisch höchst persönlich die Handlung in gepuderter Perücke und
Rokoko Kostüm. Der gleiche Schauspieler spielt und singt aber auch die
Rollen des permanenten Optimisten Pangloss und des Pessimisten Martin
auf Englisch.
Robert
Carsen hat Candides Erlebnisse in eine fiktive Welt verpflanzt, vom 18.
Jahrhundert bis heute. Sein gewohnter Dekorateur Michael LEVINE hatte
ein kluges, einfaches Bühnenbild gebaut, das das unausweichliche Schicksal,
aber auch die ständige Suche des Menschen andeutet: ein riesiger, die
Bühne füllender Tunnel wird durch geschickte Projektionen bis zu einem
Brennpunkt in weiter Ferne verlängert. Ein paar Versatzstücke und Zusätze
ergaben ein sehr adaptierbares Bühnenbild.
François
ROUSSILLON produzierte geschickte Video-Projektionen für die Zwischenvorhänge
(so den projizierten Vorspann "VOLT-AIRE PRESENTS", das Weiße Haus, ein
Dampfschiff, ein Spielkasino in Las Vegas, Marilyn Monroe, eine endlose
amerikanische Straße, aus der plötzlich eine Öl-Quelle emporschießt).
Dies gibt natürlich Anlaß zu zahlreichen amüsanten oder zynischen Gags.
Die Kostüme von Buki SCHIFF sind passend, zwischen diskret bis reißerisch.
Nicht ganz erklärlich ist ein Quintett nach dem Untergang des Dampfschiffs,
wo fünf Sänger-Tänzer in Masken von Berlusconi, Blair, Bush, Chirac und
Putin auf kleinen Inseln mitten im Öl tanzen.
Die
ganze Produktion soll auch an der Mailänder Scala und an der English National
Opera in London gezeigt werden. Kurz nach Ende der Vorstellungsserie hat
Stephane Lissner, der General-Direktor der Scala das Engagement eben wegen
des Quintett-Balletts der fünf Staatschefs abgesagt!
Das
Ensemble Orchestral de Paris unter der Leitung von Bernsteins Ex-Assistenten
John AXELROD war voll dabei und musizierte schmissig die Songs und vor
allem die ausgezeichneten choreographierten Balletteinlagen (Rob ASHFORD).
Der CHŒUR DU CHÂTELET unter Stephen BETTENRIDGE war bestens disponiert
und sang sehr präzise und wortdeutlich.
Von
den vielen Figuren sind nur drei handlungstragend: allen voran Lambert
WILSON als Voltaire, Pangloss und Martin. Der berühmte Theater- und Filmstar
spielte und sang perfekt zweisprachig die drei Rollen und wechselte in
Sekundenschnelle das Kostüm. Seine perfekte Diktion und seine ungemeine
Bühnenpräsenz gaben der Aufführung den nötigen Schwung zu einem großen
Erfolg. Der Titelheld Candide war der amerikanische Tenor William BURDEN.
Er fristet sein Dasein meist in einer GI Uniform als moderner Söldner.
Er brachte die naive Seite der Rolle darstellerisch bestens zur Geltung
und sang prächtig seine Songs.
Die
daneben winzig wirkende Anna CHRISTY als seine Angebetete, Baronin Cunigonda,
besitzt einen wohlgeführten lyrischen Koloratursopran und ein unglaubliches
Spieltalent und wirbelt über die Bühne. Ihren Bruder Maximilian, der in
verschiedenen Verkleidungen im Laufe seines sehr bewegten Lebens erscheint,
war bei David Adam MOORE bestens aufgehoben. Jenny WILSON-BEST war in
der kleinen Rolle der Mutter passend. Ausgezeichnet war Kim CRISWELL als
Old Lady, die vom Leben sehr strapaziert wurde und trotzdem nicht den
Mut verliert. Hinreißend ihre Nummer "I am quite adaptable", wo die nicht
mehr ganz junge Dame schwungvoll singt und eine phantastische Tanznummer
abzieht.
Als
Dienstmädchen Paquette war Jeni BERN mit frischeer Stimme in den zahlreichen
Stationen ihres auch sehr bewegten Lebens sehr passend. Ferlyn BRAS war
als Indianer Cacambo, der Pfadfinder Candides in der Neuen Welt, treffend.
John DASZAK begann die Reihe der mehrfach Beschäftigten. Sein großer Charaktertenor
ist uns bekannt, und er war als Großinquisitor, Gouverneur, Spielkasinobesitzer
Ragotski und Kapitän mehr als rollendeckend. In weiteren über vierzig
(!) Rollen waren Philip GLENISTER, Simon BUTTERIES, Adrian BBRAND, Steven
PAGE, Philipp SHEFFIELD und Thierry LAURION zu sehen. Sie taten das ausgezeichnet
in so verschiedenen Funktionen wie Baron, Stewart, Inquisitor, Zollbeamter,
Wiedertäufer, Band Musiker, Texaner, König, Evangelist etc. Sie müssen
sich mit einem Pauschallob begnügen.
Diese
Nachmittags-Aufführung für Mittelschulen wurde vom jugendlichen Publikum
mit Begeisterung und enthusiastischem Beifall, besonders für die drei
Hauptdarsteller, gefeiert. wig.
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