Die
elf Jahre alte, schreckliche Inszenierung von Andrei SERBAN wird leider
immer wieder gegeben. Aber mit der derzeitigen Operndirektion kann eine
neue Produktion nur noch ärger werden. Dabei ist die derzeitige fast unübertrefflich
an prätentiöser Aufwendigkeit und künstlerischer Leere. Nach den Bühnenbilder
und Kostümen, Zylindern und Uniformen von William DUDLEY zu schließen,
wurde die Handlung um etwa 1880 angesiedelt. In einem halbrunden Kasernen-
oder Gefängnishof mit einer Galerie stehen Turninstrumente aller Art herum,
und mehrere Putzfrauen waschen ständig den Boden auf. Für die Auftritte
im 2. Akt werden zwei riesige Klappbrücken quer und schräg von besagter
Galerie über die Szene gelegt. Der ganze Kram ist im 3. Akt zusammen gefallen,
ein Trümmerhaufen. Der von Peter BURIAN wieder bestens einstudierte Chor,
steht in der Galerie des Halbrunds, in Gehrock und Zylindern und in der
Schlußszene mit aufgespannten Regenschirmen! Ein sehr passender Rahmen
für ein romantische Oper!
Andrei
Serban versucht in diesem Chaos eine Personenführung zu machen. Natalie
DESSAY hatte sich anscheinend geweigert, die ursprünglichen Turnübungen
in acht Meter Höhe auszuführen. Die Aufführung wurde wegen des Wiederauftritts
von Natalie Dessay in der Titelrolle erwartet. Nach der zweiten Stimmbandoperation
war das Ärgste zu fürchten. Allen Dessay-Fans zur Beruhigung: Natalie
Dessay ist in Bestform, gereift, und ihre glasklare Präzision hat sie
nicht eingebüßt. Die Höhe ist strahlender denn je. Ihre Wahnsinnsszene
war der absolute Höhepunkt des Abends, ihr halluzinierendes Spiel ist
die Perfektion selbst. Man könnte nur befürchten, daß sie zu viel singt,
denn zehn Mal Lucia in weniger als fünf Wochen ist stimmlich, emotionell
und physisch ungemein anstrengend.
Neben
einer derartigen Leistung ist es für die anderen Künstler schwer, sich
zu behaupten. Denn Matthew POLENZANI ist ein großartiger Tenor, der mit
kräftiger Stimme und feiner Phrasierung das Liebesduett mit Lucia singt.
Seine Darbietung in der Friedhofsszene "Tombe degli avi miei" auf der
zusammengebrochenen Kletterwand in gut sechs Meter Höhe - und vor allem
mit der Schlußszene "Tu che a Dio spiegasti l'ali" erntenten ihm einen
ganz großen persönlichen Erfolg.
Ludovic
TÉZIER spielte seinen Feind, den brutalen, herrschsüchtigen Bruder Enrico
Ashton. Mit seinem prachtvollen Bariton sang er den schwarzen Bösewicht
perfekt. Den armen Arturo Bucklaw, den Lucia in der Hochzeitsnacht ermordet,
sang Salvatore CARDELLA stimmfest. Kwangchul YOUN sang Raimondo salbungsvoll
mit profundem Baß. Marie-Thérèse KELLER war wie bereits von Jahren Alisa,
Christian JEAN hat ebenfalls die Rolle des miesen Komplizen Normanno seit
Beginn gepachtet.
Das
ORCHESTER DER PARISER OPER genoß hörbar, von Evelino PIDÒ mit gewohnter
Fürsorge und Umsicht geleitet zu werden. Pidò folgt ständig allen Sängern
und gibt jedem seinen Einsatz präzise. Das bestechende Resultat ist eine
seltene Einheit zwischen Bühne und Graben. Das Sextett war einfach perfekt.
Überraschend war die Verwendung einer Glasharmonika statt der Harfe (von
Sascha RECKERT virtuos gespielt) in der Wahnsinnsszene.
Das
Haus tobte! Ein großartiger Abend, das Haus tobte; wenn nur nicht die
grauslichen Kulissen und Kostüme wären! wig.
|