Daß
Verdi für die Neufassung von 1881 für seine Oper über den Plebejer-Dogen
Genuas Arrigo Boito gewann, war ein großer Gewinn. Boïto, auch Autor der
Libretti von "Otello" und "Falstaff" straffte die Handlung der über 25
Jahre spielenden, ziemlich konfusen Geschichte . Die dramatische Intensität
des Stoffes ergab eine der stärksten Partituren Verdis. Musikalisch sehr
intensiv ausgedrückt, deckt sich die Handlung politisch mit den republikanisch-nationalen
Überzeugung Verdis von der Notwendigkeit der Einheit Italiens.
Die
Wahl eines Plebejers zum Dogen ist extrem politisch brisant und durchwegs
mit heutigen Umständen vergleichbar. Die Idee liegt daher auf der Hand,
die Handlung in die Jetztzeit zu verlegen. Die systematische Aktualisierung
der Opernlibretti beginnt allerdings, langsam mühsam zu werden. Zumal
Regisseur Johan SIMONS (dessen Debüt - und hoffentlich das Ende - auf
der Opernszene es war) und sein Team (Bert NEUMANN/Bild, Nina von MECHOW/Kostüme)
die Transposition nicht als Dilettanten - im Sinne Stendahls, d. h. Kenner
und Liebhaber - sondern als inkompetente Stümper "verwirklicht" hatten.
Es geht ja noch an, auf die ukrainische Situation anzuspielen und als
Parteifarben der Patrizier blau-grau und die der Plebejer orange zu wählen.
Der
Prolog spielt vor einem gigantischen (ca. 10 x 6 m) Wahlplakat "FIESCO",
mit einem riesigen Foto des Sängers der Rolle, Ferruccio Furlanetto. Das
Ganze ist von silbernen, schauerlich kitschigen, Lamé-Vorhängen umgeben.
Umgeworfene Stühle, verstreute Plastikbecher und massenhaft Propagandazettel
bieten "Wahlkampf-Atmosphäre". Im 1. Akt wird das Bild durch ein ebensolches
"BOCCANEGRA" Plakat mit dem Foto von Carlos Alvarez ersetzt. Wie man das
mit einer Wiederaufnahme mit anderen Sängern bewerkstelligen soll, darüber
haben sich die Herrschaften sichtlich nicht den Kopf zerbrochen.
Im
2. Akt wird die Bühne komplett von den gräßlichen schillernden Vorhängen
beherrscht. Im letzten Akt ist wieder das Boccanegra-Plakat zu sehen,
das in der Schlußszene der Aussöhnung von Bühnenarbeitern umgedreht wird,
so daß man nur das hölzerne Gestell der Plakatwand zu sehen bekommt -
für das Innere eines Dogenpalasts (oder eines heutigen entsprechenden
Gebäudes) etwas dürftig. Von den technischen Möglichkeiten der Bühne der
Bastille-Oper hat Herr Simons sichtlich noch nichts gehört. Er sollte
sich bei seiner Kollegin Francesca Zambello erkundigen, die die fabelhafte
Bastille-Maschinerie auszunützen weiß.
Für
die "Kostüme" hat man sich auch nicht übermäßig den Kopf zerbrochen. Denn
alles was Sänger und Choristen tragen, kann man an einen Nachmittag bei
den Galéries Lafayette, bzw. bei C&A mit Mengenrabatt kaufen. Für Amelia
Grimaldi war der Kostümaufwand besonders gering, denn sie erscheint meistens
im Negligé oder Nachthend, mit Ausnahme kurzer Auftritte im Mantel, Bademantel
und am Schluß im Brautkleid (das kann man bei verschiedenen Läden für
den Abend mieten). Die absolute Ignoranz des Regisseurs - ursprünglich
Tänzer, dann Schauspieler, jetzt Direktor des Theaters in Ghent - der
Besonderheiten der Oper, das Unverständnis für die unterschiedliche Dynamik
der Bewegung der Sänger, ist erschütternd.
Man
hat auch das Gefühl, daß der Regisseur das Textbuch nur diagonal gelesen
hat. Boccanegra setzt ständig die Brillen auf und ab, rollt die Augen,
wenn er Paolo "Il Doge volglio!" zuruft, oder wenn er böse wird und diesen
verhört. Dem armen Sänger des Gabriele Adorno wurde ein schwarzes Schuhpasta-S
(?) aufs Gesicht geschminkt, wenn er mit einem großen Taschenmesser Simon
ermorden will. Wenn Amelia ihn entdeckt und vom Mord abhalten will, findet
das sehr animierte Duett ("Insenso! Vecchio inerme il tuo braccio colpisce!")
quer über 25 m der Bühne statt! Sonst singen Sänger und Chor meist an
der Rampe. Eine totale Nicht-Inszenierung, von irgendwelcher Personenführung
natürlich keine Spur. Viele halbszenische sogenannte "Mises en espace"
der letzten Jahre, ohne Regisseur und Dekor, mit ein paar Versatzstücken,
waren mindestens ebenso "packend" und viel passender als diese "Inszenierung".
Sicher eine der ärgsten Produktionen meiner langen "Opernkarriere".
Sylvain
CAMBRELING zeigte sich auch nicht sonderlich inspiriert am Pult. Viele
Szenen waren verschwommen oder banal. Die großen Chorszenen waren durchaus
gelungen, was in erster Linie der ausgezeichnete Choreinstudierung durch
Peter BURIAN zuzuschreiben ist. Details der prächtigen Partitur in den
lyrischen Stellen des 2. Akts zeigten allerdings wenig Relief. Das ORCHESTER
zeigte sich diesmal auch etwas zerstreut. Schade!
Die
Aufführung war stimmlich dafür durchaus Spitze. Ana Maria MARTINEZ ist
eine dunkelhaarige bildschöne Amerikanerin, sichtlich mit Latino-Einschlag.
Sie hat die passende Bühnenpräsenz für die junge Amelia Grimaldi und man
glaubt ihr die 28 Jahre - im Gegensatz zu vielen anderen Sängerinnen.
Sie singt auch mit intensiver Überzeugung und wundervoller, prächtig tragender
Stimme. Da sie aus dem Koloraturfach "aufgestiegen" ist, hat sie mit den
lyrischen Szenen keinerlei Schwierigkeiten (die Strophenarie "Come in
quest'ora bruna" war hinreißend), denn ihre Phrasierung und Diktion sind
perfekt.
Korsaren-Doge
Boccanegra war Carlos ALVAREZ, der die Statur, Bühnenpräsenz und stimmliche
Kraft für die Rolle besitzt. Seine piani sind subtil ("Il mare!") und
seine wilden Zornausbrüche ("Plebe! Patrizi! Popolo dalla feroce storia!")
haben Autorität und sind packend dramatisch. Ferruccio FURLANETTO drückte
als Fiesco die Würde des nie vergebenden, sturen Patriziers, den um seine
Tochter trauernden Vater und die Freude in Amelia seine Enkelin zu finden,
mit seinem phänomenalen Baß aus. Einige unsaubere Töne vor allem in der
Tiefe trübten den Gesamteindruck.
Als
Gabriele Adorno war Stefano SECCO stimmlich ausgezeichnet. Diese psychologisch
und stimmlich schwierige Rolle wurde dem jungen Tenor durch die Regie
und läppische Kostümierung allerdings nicht erleichtert. Paolo Albani
- natürlich im gestreiften Zweireiher um seine mafiosen Verbindungen zu
zeigen - hatte in Frank FERRARI einen stimmlich ungewöhnlich guten Interpreten.
Sein mächtiger Baß ist so schwarz wie die Seele des Verräters. Nicolas
TESTÉ in Lederjacke war ein stimmkräftiger Pietro, der die Missetaten
seines Chefs ausführt. Jason BRIDGES als Herold war rollendeckend.
Am
Schluß wurden alle Sänger stürmisch gefeiert, für Cambreling gab es einige
Buh-Rufe. Das Bühnenteam traute sich anscheinend nicht auf die Bühne,
nachdem das Publikum auf diese Ansammlung von Banalitäten bei der Fernsehübertragung
auf ARTE fünf Tage vorher das Team ausgebuht hatte. wig.
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