TAKEMITSU: „MY WAY OF LIFE“ - 25. Januar 2005

Jean-Pierre Brossmann, der Direktor des Châtelet, leitete die Oper in Lyon in den neunziger Jahren, während Kent Nagano Musikdirektor war. Sie beauftragten vor über zehn Jahren Toru Takemitsu (1930-1996), den bedeutendsten und bekanntesten japanischen Komponisten seiner Zeit, eine Oper für Lyon zu schreiben. Doch der Komponist starb 1996 ohne eine Note komponiert zu haben. In der japanischen Tradition soll die Familie die Fertigstellung eines Werks übernehmen, wenn eines seiner Mitglied vor dessen Fertigstellung verstirbt. Die Familie Takemitsu hat sich an Peter Mussbach und Kent Nagano gewendet, ein Opern-Theater über den Komponisten, sein Werk und seine Welt zusammenzustellen.

Diese Aktion ist sicher eine pietätvolle Würdigung des verstorbenen Komponisten, ist aber ein - nicht sonderlich geglücktes - Potpourri geworden. Das aus verschiedenen Gründen. Die musikalische Entwicklung Takemitsus ist nicht schnurgerade, und diese komplexe Persönlichkeit auf einen Nenner zu bringen, ist ungeheuer schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, vor allem für ein europäisches Publikum. Allein die Tatsache, daß Takemitsu praktisch ein Autodidakt war und stark von Debussy beeinflußt war, aber auch, weil seine Hauptbeschäftigung die Komposition von Musik für über 100 Filme war. Mit traditioneller, japanischer Musik beschäftigte er sich nur relativ wenig und recht spät.

Die „Dramaturgie“ Mussbachs ist offenbar nicht dieser ungewöhnlichen Herausforderung gewachsen, zumal die fünf gewählten Kern-Werke keinen direkten Zusammenhang haben. Weitere Stücke anderer Herkunft wurden hineingepackt in einem verkrampften Versuch, eine Einheit zu schaffen, was die Sache nicht erleichtert hat. Das zwischen Pasticcio und Medley schwimmende Resultat erinnert an das Pseudo-Schubert’sche „Drei-Mäderl-Haus“ oder Strauß’sche „Wiener Blut“. Eine konzertante Aufführung der Werke, eventuell mit einem verbindenden Text, wäre vermutlich eine glücklichere Lösung gewesen, zumal die Musik absolut nicht dramatisch ist. Takemitsu kann auch kaum als großer Neuerer klassifiziert werden. Die Wiener Schule, Bartok, Strawinsky oder Henze sind moderner und erheblich interessanter, von Messian, Boulez, Stockhausen und der jüngeren Generation nicht zu reden.

Der fast zweistündige Abend beginnt mit einer Platte des französischen Chansons „Parlez-moi d’amour“ (von Juliette Greco gesungen), laut Takemitsus Erinnerungen seine erste Begegnung, mit etwa 15 Jahren, mit europäischer, westlicher Musik überhaupt, gefolgt von einem nicht erklärten Schlagzeugsolo von Munari, das schnalzt und knallt. Das 1. Stück Takemitsus, das Jugendwerk „Requiem for Strings“ von 1957, ein impressionistisches Werk, sehr Debussy-verbunden, wurde auf den Tod seines Lehrers Hayasaka geschrieben. Das 2. Stück „November Steps“ (1969) wurde für das 125-jährige Jubiläum des New Yorker Philharmonic Orchestra komponiert und ist eine Gegenüberstellung, ja Opposition, aber keine Integration japanischer und westlicher Musik. Die westliche Musik erinnert an 1908, Mahler, Zemlinsky, den frühen Schönberg und die romantische Seite der Wiener Schule. Die Biwa (zwei-saitige Laute) wird mit einem dreieckigem Plektrum geschlagen, die Shakuhachi ist eine etwa 1 m lange, 10 cm weite Bambusflöte, und beide Instrumente werden solistisch verwendet. Es folgten eine Tonband-Montage „Watermusic“, die tropfende und rauschende Wassergeräusche verwendet, in der Art von Varese, sowie ein „Walzer“ aus einer der zahlreichen Filmmusiken Takemitsus.

Das 3. Stück „Family Tree“ (1992) verwendet ein Gedicht von Shuntaro Tanikawa. Eine als embryonisches Kind verkleidete Diseuse spricht den Text, der von Grandpa, Grandma, Dad und Mom handelt. Die Musik dazu lehnt sich eher an die amerikanische Schule (Copland, Bernstein) an. Einer eher belanglosen orchestralen Einlage eines Kinderfilms für Gesang und Orchester folgt wieder knallend-schnalzendes Munari-Schlagzeug. Das 4. Stück „Stanza I“ (1969) für Gesang, Gitarre, Klavier, Celesta, Harfe und Vibraphon auf einen kurzen Text aus Ludwig von Wittgensteins „Tractactus logico-philosophicus“ (wohl der hermetischste Text des 20. Jahrhunderts), hat keinen großen Wiederhall verursacht, außer daß die beiden Frauen sehr viel lachen. Nochmals „Parlez-moi d’amour“, diesmal in einer ganz alten, kratzenden Aufnahme von Lucienne Boyer, für die das Chanson 1932 geschrieben wurde.

Das leitet zum 5. Stück „My way of life“ (1990) über, das bei weitem das beste und eindrucksvollste, aber auch konservativste, ist. Ein Bariton und ein kleiner Chor hinter der Szene besingen den Baum. Der Text ist zwar sehr esoterisch, aber hier drücken der Dichter Ryuichi Tamura und Takemitsu eine philosophisch-ethische Weltanschaung aus, die sehr vom japanischen Buddhismus beeinflußt ist. Eine große Abgeklärtheit geht von diesem Stück aus und man denkt unweigerlich an „Vier ernste Gesänge“ von Brahms oder Strauss‘ „Metamorphosen“ oder „Vier letzte Lieder“. Das muß wohl der Schluß sein, denkt man, doch nein, es folgt unverständlicherweise noch ein amerikanischer Schlager: Rony Bennett singt „I left my heart in San Francisco“. Das paßt wie die Faust aufs Auge!

Das „Geschehen“, die Aktion auf der Bühne ist nicht klar und sehr schwer zu folgen. Die im Programm angegebene „Handlung“ ist in keiner Weise irgendwie ersichtlich: „Eine sehr alte Frau ist am Ende ihres Lebens angelangt. Sie fühlt das Ende nahe, kann aber nicht sterben. Etwas hält sie zurück. Sie erinnert sich ihres Lebens, das sie unfähig war zu führen.“ Zwei Frauen, eine sehr alt, eine viel jünger, das bereits genannte embryonische Kind, sowie zahlreiche Erscheinungen bevölkern die Szene: mehrere goldene, fast unbewegliche Figuren, an den „Penseur“ von Rodin erinnernd, fünf als Teddybären verkleidete Liliputaner, fünf Tänzerinnen (eine singt auch), anscheinend aus Las Vegas importiert, in scheußlichen, knallfarbenen, sehr engen Kostümen, ein großer, sich drehender Buddha-Kopf und schließlich der prachtvoll singende Dwayne CROFT, der auch vergoldet ist. Die verwendeten, symbolistischen, sehr esoterischen Texte, mehrmals an der Grenze der Trivialität, sind wohl kaum bühnenwirksam. Langeweile breitet sich auf der Bühne aus. Die Aufpulverung der Aktion durch Teddybären oder Las-Vegas-Tänzerinnen wirkt sehr künstlich und nützt in keiner Weise dem Verständnis des Hörers. Daß viele Besucher das Haus verließen, und unfreundliche Zwischenrufe zu hören waren, zeigt nur dieses Fehlen von Verständnis zwischen Publikum und Bühne.

Peter MUSBACH zeichnete für die kuriose Inszenierung, in der Erich WONDER (Bühnenbilder) sich auf ein paar drehende Wände und Projektionen beschränkt hatte, Eiko ISHOIA hatte die wenig erfreulichen Kostüme entworfen und Alexander KOPPELMANN die Bühne passend ausgeleuchtet. In dieser künstlichen Atmosphäre bewegten sich, sprachen und sangen neben zahlreichen Statisten, die Solisten Georgette DEE, Christine OESTERLEIN, Mélanie FOUCHÉ, Karen RETTINGHAUS und im 5. Teil der ausgezeichnete Dwayne Croft.

Die Solisten der japanischen Instrumente waren sehr gut – soweit man das beurteilen kann: Yukio TANAKA (Biwa), Kifu MITSHASI (Shakuhashi), Yanusori YANAGICHI (Schlagzeug) und Daisuke SUZUKI (Guitarre). Kent NAGANO leitete das DEUTSCHE SYMPHONIEORCHESTER BERLIN mit umsichtiger Liebe für die Musik seines Landsmannes, der Chor „ACCENTUS“ (geleitet von Laurence EQUILBEY) sang perfekt im 5. Stück hinter der Szene. Ein sehr eigentümlicher Abend. wig.