Jean-Pierre
Brossmann, der Direktor des Châtelet, leitete die Oper in Lyon in den
neunziger Jahren, während Kent Nagano Musikdirektor war. Sie beauftragten
vor über zehn Jahren Toru Takemitsu (1930-1996), den bedeutendsten und
bekanntesten japanischen Komponisten seiner Zeit, eine Oper für Lyon zu
schreiben. Doch der Komponist starb 1996 ohne eine Note komponiert zu
haben. In der japanischen Tradition soll die Familie die Fertigstellung
eines Werks übernehmen, wenn eines seiner Mitglied vor dessen Fertigstellung
verstirbt. Die Familie Takemitsu hat sich an Peter Mussbach und Kent Nagano
gewendet, ein Opern-Theater über den Komponisten, sein Werk und seine
Welt zusammenzustellen.
Diese
Aktion ist sicher eine pietätvolle Würdigung des verstorbenen Komponisten,
ist aber ein - nicht sonderlich geglücktes - Potpourri geworden. Das aus
verschiedenen Gründen. Die musikalische Entwicklung Takemitsus ist nicht
schnurgerade, und diese komplexe Persönlichkeit auf einen Nenner zu bringen,
ist ungeheuer schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, vor allem für ein
europäisches Publikum. Allein die Tatsache, daß Takemitsu praktisch ein
Autodidakt war und stark von Debussy beeinflußt war, aber auch, weil seine
Hauptbeschäftigung die Komposition von Musik für über 100 Filme war. Mit
traditioneller, japanischer Musik beschäftigte er sich nur relativ wenig
und recht spät.
Die
„Dramaturgie“ Mussbachs ist offenbar nicht dieser ungewöhnlichen Herausforderung
gewachsen, zumal die fünf gewählten Kern-Werke keinen direkten Zusammenhang
haben. Weitere Stücke anderer Herkunft wurden hineingepackt in einem verkrampften
Versuch, eine Einheit zu schaffen, was die Sache nicht erleichtert hat.
Das zwischen Pasticcio und Medley schwimmende Resultat erinnert an das
Pseudo-Schubert’sche „Drei-Mäderl-Haus“ oder Strauß’sche „Wiener Blut“.
Eine konzertante Aufführung der Werke, eventuell mit einem verbindenden
Text, wäre vermutlich eine glücklichere Lösung gewesen, zumal die Musik
absolut nicht dramatisch ist. Takemitsu kann auch kaum als großer Neuerer
klassifiziert werden. Die Wiener Schule, Bartok, Strawinsky oder Henze
sind moderner und erheblich interessanter, von Messian, Boulez, Stockhausen
und der jüngeren Generation nicht zu reden.
Der
fast zweistündige Abend beginnt mit einer Platte des französischen Chansons
„Parlez-moi d’amour“ (von Juliette Greco gesungen), laut Takemitsus Erinnerungen
seine erste Begegnung, mit etwa 15 Jahren, mit europäischer, westlicher
Musik überhaupt, gefolgt von einem nicht erklärten Schlagzeugsolo von
Munari, das schnalzt und knallt. Das 1. Stück Takemitsus, das Jugendwerk
„Requiem for Strings“ von 1957, ein impressionistisches Werk, sehr Debussy-verbunden,
wurde auf den Tod seines Lehrers Hayasaka geschrieben. Das 2. Stück „November
Steps“ (1969) wurde für das 125-jährige Jubiläum des New Yorker Philharmonic
Orchestra komponiert und ist eine Gegenüberstellung, ja Opposition, aber
keine Integration japanischer und westlicher Musik. Die westliche Musik
erinnert an 1908, Mahler, Zemlinsky, den frühen Schönberg und die romantische
Seite der Wiener Schule. Die Biwa (zwei-saitige Laute) wird mit einem
dreieckigem Plektrum geschlagen, die Shakuhachi ist eine etwa 1 m lange,
10 cm weite Bambusflöte, und beide Instrumente werden solistisch verwendet.
Es folgten eine Tonband-Montage „Watermusic“, die tropfende und rauschende
Wassergeräusche verwendet, in der Art von Varese, sowie ein „Walzer“ aus
einer der zahlreichen Filmmusiken Takemitsus.
Das
3. Stück „Family Tree“ (1992) verwendet ein Gedicht von Shuntaro Tanikawa.
Eine als embryonisches Kind verkleidete Diseuse spricht den Text, der
von Grandpa, Grandma, Dad und Mom handelt. Die Musik dazu lehnt sich eher
an die amerikanische Schule (Copland, Bernstein) an. Einer eher belanglosen
orchestralen Einlage eines Kinderfilms für Gesang und Orchester folgt
wieder knallend-schnalzendes Munari-Schlagzeug. Das 4. Stück „Stanza I“
(1969) für Gesang, Gitarre, Klavier, Celesta, Harfe und Vibraphon auf
einen kurzen Text aus Ludwig von Wittgensteins „Tractactus logico-philosophicus“
(wohl der hermetischste Text des 20. Jahrhunderts), hat keinen großen
Wiederhall verursacht, außer daß die beiden Frauen sehr viel lachen. Nochmals
„Parlez-moi d’amour“, diesmal in einer ganz alten, kratzenden Aufnahme
von Lucienne Boyer, für die das Chanson 1932 geschrieben wurde.
Das
leitet zum 5. Stück „My way of life“ (1990) über, das bei weitem das beste
und eindrucksvollste, aber auch konservativste, ist. Ein Bariton und ein
kleiner Chor hinter der Szene besingen den Baum. Der Text ist zwar sehr
esoterisch, aber hier drücken der Dichter Ryuichi Tamura und Takemitsu
eine philosophisch-ethische Weltanschaung aus, die sehr vom japanischen
Buddhismus beeinflußt ist. Eine große Abgeklärtheit geht von diesem Stück
aus und man denkt unweigerlich an „Vier ernste Gesänge“ von Brahms oder
Strauss‘ „Metamorphosen“ oder „Vier letzte Lieder“. Das muß wohl der Schluß
sein, denkt man, doch nein, es folgt unverständlicherweise noch ein amerikanischer
Schlager: Rony Bennett singt „I left my heart in San Francisco“. Das paßt
wie die Faust aufs Auge!
Das
„Geschehen“, die Aktion auf der Bühne ist nicht klar und sehr schwer zu
folgen. Die im Programm angegebene „Handlung“ ist in keiner Weise irgendwie
ersichtlich: „Eine sehr alte Frau ist am Ende ihres Lebens angelangt.
Sie fühlt das Ende nahe, kann aber nicht sterben. Etwas hält sie zurück.
Sie erinnert sich ihres Lebens, das sie unfähig war zu führen.“ Zwei Frauen,
eine sehr alt, eine viel jünger, das bereits genannte embryonische Kind,
sowie zahlreiche Erscheinungen bevölkern die Szene: mehrere goldene, fast
unbewegliche Figuren, an den „Penseur“ von Rodin erinnernd, fünf als Teddybären
verkleidete Liliputaner, fünf Tänzerinnen (eine singt auch), anscheinend
aus Las Vegas importiert, in scheußlichen, knallfarbenen, sehr engen Kostümen,
ein großer, sich drehender Buddha-Kopf und schließlich der prachtvoll
singende Dwayne CROFT, der auch vergoldet ist. Die verwendeten, symbolistischen,
sehr esoterischen Texte, mehrmals an der Grenze der Trivialität, sind
wohl kaum bühnenwirksam. Langeweile breitet sich auf der Bühne aus. Die
Aufpulverung der Aktion durch Teddybären oder Las-Vegas-Tänzerinnen wirkt
sehr künstlich und nützt in keiner Weise dem Verständnis des Hörers. Daß
viele Besucher das Haus verließen, und unfreundliche Zwischenrufe zu hören
waren, zeigt nur dieses Fehlen von Verständnis zwischen Publikum und Bühne.
Peter
MUSBACH zeichnete für die kuriose Inszenierung, in der Erich WONDER (Bühnenbilder)
sich auf ein paar drehende Wände und Projektionen beschränkt hatte, Eiko
ISHOIA hatte die wenig erfreulichen Kostüme entworfen und Alexander KOPPELMANN
die Bühne passend ausgeleuchtet. In dieser künstlichen Atmosphäre bewegten
sich, sprachen und sangen neben zahlreichen Statisten, die Solisten Georgette
DEE, Christine OESTERLEIN, Mélanie FOUCHÉ, Karen RETTINGHAUS und im 5.
Teil der ausgezeichnete Dwayne Croft.
Die
Solisten der japanischen Instrumente waren sehr gut – soweit man das beurteilen
kann: Yukio TANAKA (Biwa), Kifu MITSHASI (Shakuhashi), Yanusori YANAGICHI
(Schlagzeug) und Daisuke SUZUKI (Guitarre). Kent NAGANO leitete das DEUTSCHE
SYMPHONIEORCHESTER BERLIN mit umsichtiger Liebe für die Musik seines Landsmannes,
der Chor „ACCENTUS“ (geleitet von Laurence EQUILBEY) sang perfekt im 5.
Stück hinter der Szene. Ein sehr eigentümlicher Abend. wig.
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