Von
Donizettis 70 plus Opern werden in erster Linie die Buffo-Opern gespielt,
mit Ausnahme von "Lucia di Lammermoor". Daß Donizetti in hohem Maße die
Operndramatik der Romantik geprägt hat, ist nur Liebhabern bekannt, die
vier hochdramatischen Tudor-Opern werden nur sporadisch gegeben, wenn
besonders qualifizierte Sänger oder Dirigenten sich der Sache annehmen.
Maria Callas hat hier wegweisend gewirkt mit der Ausgrabung von "Anna
Bolena" 1957 an der Scala. Im letzten Jahrzehnt hat in erster Linie Editha
Gruberova dieses Repertoire gepflegt. Daß nun Evelino Pidò diese Ausgrabungen
betreibt, ist sehr erfreulich. Diese konzertante Produktion aus Lyon von
Donizettis sehr selten gespielten Tudor-Oper nach Paris einzuladen, war
eine ausgezeichnete Idee.
Das
blutige Ende von Roberto Devereux, Earl of Essex, des letzten Favoriten
von Königin Elisabeth I., hat als Hintergrund die vertrackte Expedition
Devereux' 1598 nach Irland, wo er mit dem Earl of Tyrone gegen den Wunsch
der Königin Frieden schloß. 50 Jahre später sollte Cromwell das Prinzip
der verbrannten Erde in Irland zu Ende führen, einem der blutigsten Kapitel
der englischen Geschichte. Die dramatische Handlung hatte der französische
Autor J. A. F. Ancelot in ein Drama gefaßt, das Salvatore Cammarano zu
einem sehr effektiven Libretto adaptierte. Donizetti hat hier endgültig
mit dem Belcanto Rossinis, Mercadantes und Bellinis gebrochen und eine
sehr offene Form des musikalischen Dramas eingeleitet, die später Verdi
zur Blüte und Vollendung bringen sollte.
Selbst
die Hauptrollen haben nur wenige wirkliche Arien, die Ariosi gehen oft
in kurze dramatische Ausbrüche über, die dann wieder in ein Arioso münden.
Duette und Terzette werden ebenso sehr offen behandelt. Die Orchestrierung
ist sehr viel dichter und ausgefeilter als die seiner Vorgänger, die solistische
Verwendung der einzelnen Pulte zur Unterstreichung der dramatischen Handlung
und Charakterisierung der Personen ist hier bereits sehr entwickelt. Man
kann natürlich über die etwas naive Verwendung des "God save the Queen"
in der Ouvertüre lächeln, denn dieser Gesang wurde erst 150 Jahre später
nach der siegreichen Schlacht von Preston Pans des Stuart-Prätendenten
Bonnie Prince Charlie gesungen. (Die Melodie stammt übrigens ursprünglich
von Lully, im Auftrag von Mme. de Maintenon für eine Huldigungshymne für
Ludwig XIV. komponiert.)
Was
nicht hindert, daß es sich um ein höchst interessantes Werk handelt, das
außer in Wien und Zürich, selbst in Italien nicht oft gespielt wird (diese
Saison ist die Oper in Ancona programmiert), in Frankreich - mit Ausnahme
einer kurzen Serie in Nizza vor 15 Jahren - überhaupt nicht.
Da
die angekündigte Sängerin der Elisabeth, Darina Takova, krankheitshalber
abgesagt hatte, war die Aufführung in Gefahr. Maria Pia PISCITELLI sprang
in letzter Minute ein, die sich wahrlich nicht als "Ersatz" entpuppte,
denn die Einspringerin erntete einen großen persönlichen Erfolg. Die attraktive
junge Italienerin besitzt eine Stimme mit ungewöhnlich dunklem Timbre,
was nicht hindert, daß sie die fulminanten Höhen der mörderischen Partie
spielend meistert. Die Ausdruckskraft von Signa. Piscitelli ist ebenfalls
beeindruckend, denn die Königin, die zwischen Haß und Liebe für Roberto
Devereux ständig schwankt, ist psychologisch sehr ambivalent und stimmlich
eine sehr anspruchsvolle Rolle. Es wäre interessant, sie auf der Bühne
zu erleben.
Ihre
Gegenspielerin, die Herzogin von Nottingham, die Essex auch heimlich liebt,
ist auch keine leichte Partie. Die Albanerin Enkeljeda SHKOSA besitzt
zwar eine ausnehmend große Mezzosopran-Stimme, doch neigt sie zum Forcieren,
besonders in den Höhen und im forte, was zu einigen recht scharfen Tönen
führt. Der Tenor zwischen den beiden Frauen, Roberto Devereux, war bei
Stefano SECCO in besten Händen. Mit seinem gut geführten, geschmeidigen
Tenor, führt er die Kantilene bestens und schmettert brillante Höhen in
den Saal, während er in den lyrischen Stellen ebenfalls sehr ausdrucksvoll
bleibt ("Bagnato il sen di lagrime" im 3. Akt, das sehr an die Friedhofszene
der "Lucia" erinnert).
Den
Herzog von Nottingham, der glaubt, daß seine Frau mit Roberto gesündigt
habe, wurde von Laurent NAOURI sehr eindrucksvoll gestaltet. Sein kraftvoller
Baßbariton entwickelt sich immer mehr, und seine dramatischen Ausbrüche
und lyrischen Szenen sind sehr eindrucksvoll. Bruno LAZZARETTI als Lord
Cecil, dem Ankläger Robertos, war weniger beeindruckend, denn sein spröder
Tenor ist nicht ganz lupenrein. Enrico TURCO sprang für die kleine Rolle
des Sir Walter Raleigh ein.
Dem
Dirigenten Evelino PIDÒ gebührt ganz besonderes Lob. Er leitete CHOR (Leitung
Allan WOOLBRIDGE) und ORCHESTER DER OPERA DE LYON mit allerhöchstem Einsatz
und Umsicht. Dieser Vollblutmusiker begleitet die Sänger, erlebt und ziseliert
jede Phrasierung mit den Sängern und führt sie liebevoll durch die Fluten
der Partitur. Er ist ein würdiger Nachfolger der großen Operndirigenten
Serafin, Votto, Gavazzeni oder Molinari-Pradelli. Meisterhaft!
Das
nach italienischer Musik ausgehungerte Publikum füllte das Pariser Théâtre
des Champs Elysées bis auf den letzten Platz und bereitete den Künstlern
einen unglaublichen Triumph. wig.
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