Das
klassische Altertum und speziell der Dionysos-Bacchus-Kult standen an
der Wiege der Oper. Es gibt darüber wohl keinen Zweifel, denn die ersten
Opern um 1600 in an den Höfen von Florenz und Mantua waren „Euridice“
von Peri und „Orfeo“ von Monteverdi, gefolgt von zahlreichen ähnlichen
Werken auf Texte wie „Dafne“, „Semele“, „Medea“, „Alkeste“, „Iphigenie“,
die sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis Händel und Gluck erhielten.
Das 19. Jahrhundert hat die klassisch-antiken Texte vernachlässigt, die
Oper wurde ein Schauplatz für soziale und politische Konflikte, wenn es
nicht romantische Schauermärchen waren. Berlioz‘ „Les Troyens“ ist hier
eine einsame Ausnahme. Erst im 20. Jahrhundert entsannen sich Richard
Strauss und sein Librettist Hoffmannsthal der Quellen der Oper und haben
mit „Elektra“ eine Reihe antiker Opern eingeleitet, die über „Ariadne“
und „Ägyptische Helena“ bis zu „Daphne“ und „Liebe der Danae“ (mit Gregor)
geht. Strawinskys „Oedipus Rex“, Orffs „Antigone“ und „Trionfi“ bis zu
Liebermanns vor zwei Jahren uraufgeführte „Medea“, sind weitere Beispiele
von „antiken Opern“ des 20. Jahrhundert.
Hier
gehört auch ein ungewöhnliches Werk eines Außenseiters her, der 1926 uraufgeführte
„König Roger“ von Szymanowsky. Diese Oper ähnelt inhaltlich der 1966 in
Salzburg uraufgeführten Oper von Henze „Die Bassariden“. In beiden Werken
erscheint Dionysos als ein unbekannter Fremder, der den etwas sturen König
(Roger, bzw. Pentheus) herausfordert, und in denen die Königin und der
Hof dem Gott des Rausches und der Freiheit folgen. Auch musikalisch ähneln
sich beide Werke, denn beide Komponisten kann man zu keiner „Schule“ zuordnen,
und beide haben zu der Zeit der Komposition zu einem neo-klassischen Stil
zurückgefunden.
Henzes
Musik hat viele Quellen. In jungen Jahren kam er in Darmstadt mit Schönbergs
Dodekaphonie in Kontakt, war aber auch sehr von den deutschen Komponisten
der unmittelbaren Nachkriegszeit beeinflußt: Karl Amadeus Hartmann, Boris
Blacher, Wolfgang Fortner und Paul Hindemith, was sich in einer aufgelösten,
postmodernen, deklamatorischen Tonalität niederschlägt: wallende, bisweilen
polyphonische, antikisierende Chöre und kaum Verwendung charakteristischer,
wiederkehrender Leitmotive. Die Handlung ist in „Sätze“ und nicht in Akte
aufgeteilt, was an „Wozzeck“ erinnert. Das Resultat ist auf jeden Fall
sehr packend, ein geballtes Drama antiken Greuels.
Das
Textbuch des englischen Dichters Wystan Hugh Auden und dessen Freund Chester
Kallmann ist nach den „Bacchantinnen“ des Euripides adaptiert. Die Bacchantinnen
sind die weiblichen Folgerinnen von Bacchus/Dionysos, während die Bassariden
beiden Geschlechts sind. Auden hat immer die Oper als die Höchstform des
dramatischen Ausdrucks angesehen und mehrmals mit Opernkomponisten zusammengearbeitet:
während des Kriegs in USA mit Britten für „Paul Bunyan“ und das Weihnachtsoratorium
„For the Time being“, mit Strawinsky für „The Rake’s Progress“ (1951)
und eben für Henzes „Elegie für junge Liebende“ (1964) und die „Bassariden“
(1966). Auden war nach eigener Aussage stark von Hoffmannsthal beeinflußt.
Ganz in den sechziger Jahren stehend, unterstreicht dieser bewußt neoklassische
Text die Rückkehr zum ungehemmten Hedonismus der Zeit. Daß Auden, Kallmann,
Britten und Henze offen homosexuell waren, ist wohl kaum ein Zufall.
Die
Pariser Premiere der „Bassarids“ am 13. April 2005 wurde wegen Streiks
(seit 04. 04.) des administrativen und technischen, aber nicht des künstlerischen,
Personals von Radio France abgesagt. Die Streikenden verhinderten die
Proben des Orchestre Philharmonique de Radio France, das die Oper spielen
sollte! Der Versuch der Direktion des Châtelet das Orchestre Lamoureux
zu engagieren, scheiterte ebenso am Druck der Streikenden. In gewerkschaftlichem
Jargon nennt man so etwas „Aussperrung“, was normalerweise strafrechtlich
verfolgt wird. - Der Dirigent Kazushi Ono und die drei an der Produktion
beteiligten Pianisten produzierten daraufhin – im Einvernehmen mit Henze
- eine Fassung für ein reduziertes Ensemble (3 Pianisten, Solo-Violine,
7 Schlagzeuger, Gitarre, Mandoline, Kontrabaß, 2 Harfen, Celesta, 4 Trompeten,
insgesamt 21 Musiker), die schließlich am 15. April 2004 Premiere hatte.
Das sehr wichtige „Intermezzo“ des 3. Satzes mußte gestrichen werden.
Die
Handlung spielt im antiken Theben: König Kadmos hat eben die Krone an
seinen Enkel Pentheus übergeben. Von den vier Töchtern Kadmos‘, Semele,
Ino, Agave und Autonoe erscheinen nur die beiden letzteren. Dionysos ist
der Sohn Semeles und Jupiters, während Penteus der Sohn Agaves und des
Echion ist. In dieser komplizierten antiken Familiengeschichte geht es,
wie üblich, recht blutig zu. Pentheus, der neue König von Theben, ist
ein Asket, der die ausschweifenden Sitten der Thebaner in Schranken halten
will. Der junge Unbekannte, eben Dionysos, erscheint und will die Thebaner
im Rausch zu Liebe und Freiheit führen. Zuerst folgt der greise Prophet
Tiresias, dann Autonoe und schließlich Agave widmen sich seinem Kult,
bis letztere ihren Sohn tötet. Da Kadmos und Pentheus seine Göttlichkeit
bezweifeln, wird Dionysos sehr böse und bestraft und verbannt die Zweifler
und läßt Theben zerstören.
Yannis
KOKKOS hatte - wie immer - selbst Bühnenbild und Kostüme entworfen. In
dieser Inszenierung spielte die Handlung auf zwei Ebenen: auf der Bühne
war Theben, links das Feuer auf dem Grabe Semeles und die zyklopische
Burg Kadmos‘ rechts. Auf der Oberbühne, etwas im Hintergrund, war der
Berg Citheron angedeutet, wo die Bassariden dem neuen Gott Dionysos exstatisch
huldigten. Patrice TROTTIER beleuchtete die Handlung in passender Dämmerstimmung,
besonders das Obergeschoß der Mänaden und Bassariden. In dieser urzeitlichen
Atmosphäre bewegten sich die sieben mit einander verwandten Personen und
konnten dem Fluch der Götter nicht entgehen.
Kazushi
ONO, der musikalische Direktor der Brüsseler Oper „La Monnaie/De Munt“,
kennt das Werk Henzes sichtlich bestens, denn sonst hätte er die Adaptation
nicht machen können. Er leitete das Gelegenheits-Ensemble mit mitreißendem
Enthusiasmus, daß das Publikum völlig gefangen war. Natürlich gab diese
Reduktion nicht die Großartigkeit der Partitur wieder, zumal die drei
Pianisten (Nathalie STEINBERG, Michael ERTZSCHEIID, Frédéric ROUILLON)
alle Hände voll zu tun hatten.
Die
brillante Besetzung hatte alle Vorzeichen einer sensationellen Premiere.
June ANDERSON, weltberühmter Belcanto-Star, hat in der Rolle der Agave
eine neue Wendung in ihrer Karriere gefunden, die der großen Tragödin.
Ihr großer, hochdramatischer Trauergesang im 4. Satz ist stimmlich sehr
anspruchsvoll. In einem großen feuerroten Kleid oder in einer braunen
Kutte war sie gleich überzeugend. Marisol MONTALVO war in der kleinen
Rolle ihrer Schwester Autonoe völlig passend. Als Beroe, die Amme des
Pentheus, noch Anhängerin eines Urkults, die nicht an die Götter des Olymps
glaubt, war Rebecca de PONT DAVIES ebenfalls sehr eindrucksvoll.
Den
abgedankten König Kadmos stellte Matthew BEST mit mächtigem, kultiviertem
Baß-Bariton und greiser Würde auf die Bühne. Ausgesprochen hinreißend
war der junge, athletische Franco POMPONI als der asketische König Pentheus,
der die anstrengende Rolle mit großem Einsatz und prächtigem Bariton wiedergab.
Seinen speziell timbrierten Tenor lieh Kim BEGLEY der ambivalenten Figur
des blinden Tiresias, der als erster dem neuen Gott folgt. Rainer TROST
war Dionysos (mit „dreadlocks“). Er sang prachtvoll und ließ heldische
Töne hören. Nur in der Schlußszene, in der er die Bestrafung und Verbannung
der Familie Kadmos‘ und die Zerstörung Thebens verkündigt, stand er schlecht
– ganz hoch oben im Hintergrund – was seiner Deklamation nicht förderlich
war.
Robin
ADAMS war ein stimmgewaltiger, brutaler Hauptmann der Wachen. Der CHOR
DES CHÂTELETS unter der Leitung von Stephen BETTERIDGE sang in luftiger
Höhe die Gesänge der Bassariden zur Huldigung des Dionysos. Richild SPRINGER
hatte die zahlreichen Tänzer und stummen Akteure passend choreographiert.
Das
Publikum feierte enthusiastisch alle Künstler und - in Anbetracht der
ungewöhnlichen Umstände der Aufführung - besonders herzlich. wig.
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