Gastspiel
des Mariinsky Theaters, Sankt Petersburg
Diese
zweistündige, einaktige "Farsa" Rossinis ist in vieler Hinsicht eine Kuriosität.
In der hauchdünnen "Handlung" treffen sich einige etwas überspannte, recht
lächerliche Personen zufällig im Hotel "Zur goldenen Lilie" im Luftkurort
Plombières in den Vogesen, um zur Krönung des Karl X. (am 28. Mai 1825)
zu reisen. Einige banale Zwischenfälle (Radbruch, keine Ersatzpferde),
und der König und die Krönung sind vergessen! Die Zeit der nicht vorhandenen
Intrige wird mit galanten Spielen und mondänen Plaudereien gefüllt, und
es gibt keine Hauptperson, denn alle sind gleich uninteressant und unwichtig.
Bis zur Apotheose, in der Baron Trombonok zur allgemeinen Versöhnung aufruft
und die Anwesenden zum Absingen ihrer Hymnen anleitet. Interessanter weise
ist es die deutsche Hymne auf die Haydn-Melodie, die den friedvollsten,
versöhnlichsten und richtig paneuropäischen Text hat: "Or che regna fra
le genti/La più placida armonia,/Dell'Europa sempre fia/Il destin felice
appien./Viva, viva l'armonia/Ch'è sorgente d'ogni ben."
Rossini
hinderte die Leere des Librettos nicht, unglaublich brillante Rollen zu
komponieren, so daß Stendahl schrieb "Diese Oper ist ein Fest!" nach der
Premiere der Oper. "Viaggio a Reims", wurde drei Wochen nach der Krönung
in Reims von Karl X. im Théâtre Italien in Paris uraufgeführt. Rossini
leistete sich noch den Luxus, diesen vierzehn "Nebenrollen" ein Pezzo
concertato a 14 voci zu schreiben, das a capella zu singen ist! Rossini
hat Libretto und Musik dieser Gelegenheitsarbeit mehrfach wieder verwendet,
u. a. im "Comte d'Ory" und 1854 in einer Adaptierung "Il Viaggio a Vienna"
für die Hochzeit von Kaiser Franz-Joseph!
Die
Koproduktion zwischen dem Théâtre du Châtelet und dem Mariinsky Theater
wurde in einer Feuerwerks-Inszenierung voll amüsanter Gags von Alain MARATRAT
gebracht. Das einfache Bühnenbild von Pierre Alain BERTOLA ist ein riesiges
Zirkuszelt auf der Bühne und verlängert sich in Laufstegen über Orchestergraben
und bis in die 10. Reihe des Parketts. Daher wurde das Orchester auf die
Hinterbühne verlegt, und Valery GERGIEV dirigierte im Hintergrund.
Alle
Sänger trugen phantastische Kostüme von Mireille DESSIGNY, der Farce Rossinis
entsprechend und kamen durch den Zuschauerraum auf die Bühne, die Streicher
und Maestro Gergiev inklusive. Nur der Russe Libenkopf kam auf einem Pferd
als einziger aus den Kulissen. Alle weiteren Sänger machten ihren Auftritt
im Parkett, bzw. auf den Rängen. Die römische Dichterin Corinna rauschte
in einem gigantischen, von innen beleuchteten Federkleid mit eben solcher
Perücke ein. Pascal MÉRAT beleuchtete den ganzen Trubel sehr passend.
Das
Mariinsky Theater leistete sich den Luxus für die sechs Vorstellungen
zwei Besetzungen aufzubieten. Alle Sänger kommen aus der "Akademie der
jungen Sänger", die Larissa GERGIEVA, die Schwester des Chefs, leitet.
Daß das Ganze spielerisch ablief, läßt auf dementsprechendes Studium und
Probenintensität schließen. Und das taten die jungen Talente eigentlich
ohne Dirigenten, der hinter ihnen stand.
Unter
diesen unbekannten Sängern werden viele demnächst die großen Bühnen der
Welt bevölkern. Als Corinna sang Irma GUIGOLACHVILI ihre große Improvisation
mit Harfenbegleitung nach ihrem spektakulären Auftritt mit eindrucksvollem
Mezzo. Als Comtessa de Folleville, das blonde französische "fashion victim",
wurde von Larissa YOUDINA brillant dargestellt, nachdem sie in Ohnmacht
gefallen war, weil ihre Hüte beim Unfall der Kutsche verkommen waren.
Doch sie erholte sich sofort als eine riesige Hutschachtel gebracht wurde,
aus der sie ein winziges Hütchen - eigentlich nur eine Krempe - herausholte.
Sie sang die fulminanten Koloraturen hinreißend, doch ist ihre Stimme
noch etwas rauh und bedarf eines Schliffs.
Der
Polin, Marchesa Melibea, gab Anna KIKNADZE das richtige Profil, etwas
Traurigkeit und Sentimentalität, besonders im Duett mit ihrem spanischen
Hidalgo Don Alvaro, dem fulguranten Alexeï SAFIOULINE, mit dem fechtend
sie ihren Auftritt macht! Die Gastwirtin Madama Cortese, aus unerfindlichen
Gründen eine Tirolerin, war bei Anastasia BELYAEVA in besten Händen. In
knallrotem zweiteiligem Kostüme sang sie ihre Bravourarie "Di vaghi raggi
adorno" vom Balkon, mit der sie das Hotelpersonal zusammenpfeift. Sie
zeigte dezentes, kluges Spiel und besitzt eine charmante Stimme.
Dmitri
VOROPAEV gab dem Cavaliere Belfiore die nötige Mischung aus Erhabenheit
und Spott. Daniil SHTODA, der schon als Lenski vor drei Jahren hier guten
Eindruck gemacht hatte, plagte sich mit der sehr exponierten Rolle des
Russen Libenskof zwar etwas, doch er zog sich recht gut aus der Affäre.
Die passende Zurückhaltung gab Edouard TSANGA dem schüchternen englischen
Lord Sidney. Er sang gut "das einzige Lied, das er kann", natürlich "God
save the King!"
Nikolaï
KAMENSKI gab dem Antiquitätensammler Don Profondo das richtige skurrile
Profil. Der ausgezeichnete Vladimir OUSSPENSKI war der deutsche Baron
Trombonok, der alles organisierte, einschließlich der Hymnen-Olympiade
und der Schluß-Apotheose und -Huldigung an Karl X. "Viva il Re!" (Man
soll nicht vergessen, daß Karl X. sechs Jahre später von der Revolte im
Juli 1831 verjagt wurde.) Der Hausarzt Don Prudenzio kletterte aus einer
Kiste heraus, und alle machten sich über ihn lustig. Alexeï TANNOVISTSKI
mit Stethoskop gab ihm die nötige Würde.
Don
Luigino, der Koch der überspannten Französin war Andreï ILLIOUCHNIKOV,
Maddalena, die Verwalterin der "goldenen Lilie", die drollige Elena SOMMER,
als Modestina, das faule Stubenmädchen des Hotels, das alle suchen und
dann am Balkon schlafend gefunden wird, spielte Olga KITCHENKO blendend,
ebenso wie Pavel CHOULEVITCH den Hausknecht Antonio. Nicht zu vergessen
die "Bühnenmusik", bestehend aus drei ausgezeichneten, charmanten jungen
Damen in Rokoko-Kostümen, Aglaya OULIANOVA (Flöte), Elena VASILIEVA (Harfe)
und Xenia ISAEVA (Cembalo). Ja diese Oper ist ein Fest! Champagner!
Das
ORCHESTER DEDS MARIINSKI-THEATERS in weißen Fräcken amüsierte sich bestens
bei der spritzigen Musik, die Valery Gergiev abschnurren ließ, als ob
er zeit seines Lebens nur Rossini dirigiert hätte. Dabei hatte er acht
Mal "Tristan"", drei Mal "Boris", sechs Mal Schostakowitschs "Nase" und
ein paar Konzerte und Ballette im einem Monat dirigiert! Verrückt! Das
Publikum amüsierte sich ebenso wie die Künstler bei dem genialen Geblödel
mit fulminanter Musik! Der Applaus war entsprechend: Triumphal! wig.
|