Die
"Neue Sachlichkeit", die Gefühle und Sentimentalität strikt ablehnte,
als Gegenbewegung zur Romantik und zum Expressionismus, war in den zwanziger
Jahren des 20. Jahrhunderts sehr in Mode, vor allem in der Architektur
und bildenden Kunst. Hindemith war 1926 zu Zeit der Komposition des "Cardillac"
mitten in dieser Periode. Die post-barocke, neo-klassische Formengebung
(ein 40-Mann Orchester, Arien, Quartette, Ensembles, Passacaglia, Fuge,
etc.) zeigen dies: das Vorspiel zum 1. Akt ist ein konzertierendes Fugato;
der Mord am Kavalier wird von einem Trio für zwei Flöten und Oboe begleitet
(das an die "Badinerie" der Bach'schen h-Moll-Suite erinnert), neutral,
ohne Empfindung, kein Dialog, nur ein Schrei am Schluß; Cardillac wird
durch ein Baß-Saxophon charakterisiert.
Doch
hatte Hindemith es sich nicht leicht gemacht, indem das Libretto von Ferdinand
Lion nach der Novelle "Das Fräulein von Scuderi" von E.T.A. Hoffmann,
des Romantikers par excellence gewählt hatte. Die dramatische Geschichte
des "Hephaistos von Paris", des genialen Goldschmieds Cardillac, der sich
von seinen Werken nicht trennen kann, seine Käufer ermordet und schließlich
unter dem Druck der Menge stirbt, ist ein richtiger Kriminalroman, mit
einer derartig packenden Handlung, daß der Hörer unweigerlich mitgerissen
wird.
Die
Personen der Handlung, mit Ausnahme Cardillacs, haben keine Namen: der
Kavalier, die Dame, die Tochter, der Offizier, der Goldhändler. Hindemith
stellt hier erstmals seine obsessive Beschäftigung mit der Figur und dem
- eher gefährlichen - Privileg des Künstlers, der über den Gesetzen steht,
zur Schau, um acht Jahre später in "Mathis der Maler" eine viel mildere
Form anzunehmen, die mit der Kepler-Oper "Die Harmonie der Welt" an seinem
Lebensende seinen Höhepunkt findet. "Cardillac" ist ein Schlüsselwerk
in Hindemiths Schaffen und ohne Zweifel eine der wichtigsten Opern des
20. Jahrhunderts. Daß Hindemith derzeit "im Fegefeuer ist", ist völlig
unverständlich.
Fast
80 Jahre nach der Uraufführung in Dresden wurde Hindemiths "Cardillac"
endlich in das Repertoire der Pariser Oper aufgenommen. Es gab zwar -
seltene - konzertante Aufführungen, die aber der dramatischen Handlung
nicht gerecht wurden. Aber es war wert, zu warten! Die Erstaufführung
in der Bastille-Oper kann man ruhig als perfekt bezeichnen. Es ist selten,
daß in einer Opernaufführung alles stimmt, Bühne und Graben, Musik, Handlung
und Ausstattung, daß es wert ist hervor gehoben zu werden. Dies ist der
intensiven Zusammenarbeit zwischen dem Dirigenten und dem Bühnenteam zuzuschreiben.
Denn es ist nicht einfach, die wüste Geschichte glaubhaft auf die Bühne
zu bringen.
Die
Handlung in die Entstehungszeit der Oper zu verlegen und nicht zur Zeit
Ludwig XIV. zu bringen, ist klug und sehr glaubhaft. Das Paris der zwanziger
Jahre ist passend für eine Gesellschaft des neureichen Luxus und Lasters.
Die nüchternen Jugendstil Bühnenbilder von Nicky RIETI im Stil eben dieser
"Neuen Sachlichkeit", ebenso wie die fabelhaften Sack-Kleider von Chantal
de la COSTE MESSELIÈRE der aufkommenden "Haute Couture" bilden den perfekten
Rahmen für das grausige Geschehen. André ENGEL, das "enfant terrible"
der französischen Regie-Szene und sein Dramaturg Dominique MULLER, konnten
sich hier austoben und eine sehr persönliche, ungemein dichte und dramatische
Interpretation der Handlung geben.
So
wurde die traumhafte Nachtszene der Dame mit dem Flöten-Oboen-Trio, die
im 2. Bild den Kavalier in einem luxuriösen Appartement mit Blick auf
den Eifelturm erwartet, mit zwei flatternden Schmetterlingen belebt. Der
Kavalier hebt die Eingeschlafene sachte aufs Bett, und wenn er sich mit
der großen Goldkette über sie beugt, wird er von Cardillac ermordet. Die
dramatisch äußerst schwierige Szene des 2. Akts, in der Cardillac den
Auftrag des Königs verweigert, wurde als Albtraum Cardillacs während der
großen Orchester-Passacaglia gezeigt, in dem ein Zwerg als Cardillac verkleidet
vor dem König und seiner Begleitung in einer Pantomime den Auftrag ablehnt,
während der schlafende Goldschmied murmelt: "Ich hätte ihn ermordet! Er
hätte sterben müssen!".
Die
Besetzung war dem Ereignis angepaßt. In der Titelrolle gab Alan HELD eine
erschütternde Darstellung des von seinen Werken besessenen, gepeinigten
Künstlers, durch die erstklassige Diktion des Sängers noch unterstrichen.
Die Rolle ist stimmlich und darstellerisch sehr anspruchsvoll und Alan
Held war der Herausforderung blendend gewachsen. Seine große Statur -
obwohl Cardillac laut Hoffmann klein und untersetzt war - gibt ihm zusätzliche
Dominanz.
Angela
DENOKE stellte die zwischen naiver Kindesliebe und Passion für den Offizier
schwankende Tochter mit ihrer außergewöhnlichen Stimme und Bühnenpräsenz
ergreifend dar. Den Offizier spielte Christopher VENTRIS mit tenoraler
Bravour und resignierter, erschütternder Verzeihung, wenn er am Ende singt
"Ein Held starb. […] und ich beneide ihn."
Hannah
Esther MINUTILLO sang sehr passend die Dame, die zwischen dem Flitter
und der Leere ihres luxuriösen Lebens lebt. Charles WORKMAN sang die stimmlich
außerordentlich exponierte, schwierige Rolle des Kavaliers mit Eleganz
und schöner Stimme. Für den verschlagenen Goldhändler brachte Roland BRACHT
seinen profunden Baß und die nötige Angst vor dem allmächtigen Cardillac
ein.
Das
ORCHESTRE DER OPÉRA war hörbar von dem selten Werk angetan und spielte
mit besonderem Einsatz unter der sehr präzisen Leitung von Kent NAGANO.
Peter BURIAN hatte den ausgezeichneten CHOR bestens einstudiert, der sich
in den Massenszenen besonders drohend zeigte.
Es
bedarf einer großen Portion Courage, ein wichtiges, in Frankreich so gut
wie unbekanntes Werk eines wenig bekannten Komponisten in einer mustergültigen
Aufführung zu bringen. Bravo! Eine Sternstunde! wig.
|