„Boris
Godunow“ ist eine komplexe Oper, nicht nur, weil die Musik nicht einfach
ist, und die Hauptrollen erstklassige Sänger/Schauspieler bedürfen, sondern
weil man bei einer Neueinstudierung nie genau weiß , was auf einen zukommen
wird. Welche Fassung wird man diesmal spielen? Nachdem man Jahrzehnte
verschiedene Versionen von Rimsky-Korsakov zu hören bekam (bisweilen mit
Zusätzen von Ippolitov-Iwanow), gefolgt von der Schostakowitsch- Fassung,
scheint sich die in der Bastille gegebene Fassung 2b langsam als die Referenz
durchzusetzen. In dieser Fassung 2b handelt es sich um die endgültige
Originalfassung Mussorgskys von 1872 (in neun Szenen) plus des 6. Bilds
der 1. Version von 1868 zwischen Boris und dem Blödsinnigen vor der Basiliuskirche
(als 8. Szene eingeschoben). Diese Version (in zehn Bildern) war hier
bereits 1988 in der Inszenierung von Yannis Kokkos zu sehen gewesen. In
der nächsten Saison wird Gergiev mit dem Mariinsky die 1. Version von
1868, die „Urfassung“ des „Boris“ im Châtelet spielen.
Für
diese Inszenierung zeichnete wieder Francesca ZAMBELLO, Spezialistin für
spektakuläre Massenszenen. Die Idee, den Blödsinnigen (Narren) zum „Gewissen“
Boris‘ zu machen, einer ständig auf der Bühne herumgeisternden Zentralfigur,
ist sehr gut, zumal die gesanglich relativ kleine Rolle mit dem hervorragenden
Vsevolod GRIVNOV besetzt war, der die Tragik des Volkspropheten und Sehers
greifbar auf der Bühne darstellte.
Für
Bühnenbilder und Kostüme war Wolfgang GUSSMANN verantwortlich. Die Wiederkehr
der Riesenstiege – älteren Lesern als Zentralstück vieler Inszenierungen
vor dreißig Jahren noch in Erinnerung – ist hier allerdings fehl am Platz,
trotz eines großen Rahmens von Ikonen und eines gleichen Vorhangs, der
bisweilen das Monstrum etwas verdeckt. Die Waldszene von Kromy am Schluß
der Oper auf der geteilten Stiege zu spielen, bedarf einiger Phantasie.
Dafür waren die prächtigen Kostüme der Zarenfamilie, des Moskauer Metropolitenkapitels
und der Bojaren in großen roten Mänteln ein Augenschmaus. Sehr gelungen
war die Szene in Boris‘ Appartement mit schönen Bildern. Die Landkarte
Rußlands war auf einem Dutzend einen Meter hohen Würfeln aufgeklebt, und
Feodor bemühte sich mit der Amme, die Würfel zu einer Landkarte zusammen
zu setzen. Im Polenakt mit Polonaise und Gelage war zwar keine Stiege,
dafür herrschte ägyptische Finsternis, und in der Mitte hing ein riesiges
weißes Kreuz schräg vom Schnürboden. Die ebenso pechschwarzen Kostüme
Marinas und ihres Hofs, sowie Rangonis und Grigoris halfen wenig eine
„Festatmosphäre“ aufkommen zu lassen.
Alexander
VEDERNIKOV – derzeit künstlerischer Leiter des Moskauer Bolschoi Theaters
– gab ein recht enttäuschendes, routiniertes Dirigat. Die Impulse des
musikalischen Geschehens kamen von Chor und Solisten und nicht vom Dirigenten,
der sich meistens auf die Begleitung beschränkte. Anscheinend hat Vedernikov
für sein Pariser Debüt noch nicht den richtigen Kontakt mit dem ORCHESTER
gefunden, denn es gab auch einige Wackelstellen zwischen Graben und Bühne.
Selbst der Polenakt war nicht überzeugend.
Große
Sieger war daher natürlich der fabelhafte CHOR, von Peter BURIAN brillant
einstudiert, der ungemein differenziert sowohl die Volksszenen und recht
rauhen Sitzungen der Bojaren nicht nur prachtvoll sang, sondern diese,
sowie die Revolte im Wald von Kromy auch handgreiflich darstellte. Frau
Zambello hat sich hier wieder einmal als Meisterin der Personenführung
von Massenszenen gezeigt.
Als
Boris stand Samuel RAMEY auf der Bühne. Das Timbre seiner Stimme wird
immer dunkler und ist nach wie vor von unverminderter Ausdruckskraft.
Ein Boris, der Bojaren, Höflingen und Kulaken das Fürchten lehrt. In den
Halluzinations-Szenen und bei seinen Sturz vom Thron hält das Publikum
den Atem an und es läuft einem kalt über den Rücken. Magistral!
Neben
einem solchen szenischen Titanen haben es die anderen Sänger nicht leicht.
Vladimir VANEEV als Mönch Pimen konnte noch am besten konkurrieren (er
sang die Titelrolle in den drei letzten Vorstellungen der Serie). Ein
riesiger, schwarzer Baß, mit dunklen Höhen und nahe der Zwei-Meter-Latte,
bringt er selbst den völlig abwesenden Boris mit seiner Erzählung des
„Wunders von Uglitsch“ aus der Fassung.
Beider
Gegenspieler, den falschen Dimitri, sang der junge Roman MURAVITSKII,
der zwar jugendlichen Schwung für die Rolle einbrachte, aber weder die
stimmliche Kraft, noch die darstellerische Reife für den Hochstapler und
Usurpator besaß. Elena MANISTINA lieh ihren wunderbar geführten Alt, der
auch die Höhen blendend meistert, der ehrgeizigen Marina Mnischek. Da
sie nicht die perfekte Bühnenfigur besitzt, war das pechschwarze Kleid
mit violetten Rüschen kein Vorteil.
Ebenso
schwarz mit roter Kardinalsstola und Barett war der zynische Rangoni des
ausgezeichneten Vladimir OGNOVENKO, der den autoritären, intrigierenden
Jesuiten mit Autorität darstellte, ohne schmierig zu werden. Dafür gab
Nikolai GASSIEV dem Fürsten Schuisky die nötige Mischung von hinterhältiger
Schmeichelei und kalter Brutalität, bis zum Mord Feodors nach Boris‘ Tod
auf offener Szene.
Von
den beiden frommen Saufbrüdern sang Mikail PETRENKO das Kazan-Lied des
Warlaam mit Schwung und kraftvollem Baß. Alexander PODBOLOTOV begnügte
sich als sein Kumpan Missail, ihn beim Saufen zu helfen. Das Entenlied
der Gastwirtin von Elena BOCHAROVA war sehr treffend gesungen.
Als
einzige Französin war Gaële LE ROI ein sehr glaubhafter Zarewitsch Feodor,
und Alexandra ZAMOJSKA gab der Xenia die nötige Traurigkeit, die Irina
BOGATCHEVA als Amme zu trösten versuchte. Von den vielen, durchwegs guten
Comprimarii sei Sergei MURZAEV als Schtschelkalow genannt, der dem Duma-Sekretär
die bürokratische Autorität gab.
Und
natürlich Vsevolod Grivnov als Blödsinniger, der fast dauernd auf der
Bühne ist und zum Schluß mit verzweifelter Hellsicht und aufwühlender
Intensität die Leiden Rußlands voraussieht. Erschütternd! wig.
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