Bei
manchen Opern fragt man sich, ob man sie nicht lieber in zwei Abenden
spielen soll, was übrigens oft bei der Uraufführung stattfand. Wie Berlioz‘
„Les Troyens“, gehört Prokofievs patriotische Freske dazu, in die eine
dramatische Liebesgeschichte eingeflochten ist. Auch einige der fünfaktigen
„Grand Opéras“ Meyerbeers oder Halévys könnten in diese Kategorie gehören.
Wagner hat beim „Ring“ die Aufteilung von Anfang an vorgesehen. Daß die
beiden Teile von „Krieg und Frieden“ von je über hundert Minuten durch
eine überlange Pause von 45 (!) Minuten getrennt wurden, hilft der Popularität
des Werk mit 72 (!) Rollen wohl kaum. Trotzdem lief diese nun 3. Serie
von „Krieg und Frieden“ vor praktisch vollem Haus ab.
Für
den anhaltenden Erfolg dieses schweren Werks ist natürlich die wohl sensationellste
Inszenierung der Bastille-Oper verantwortlich. Die Arbeit des Szene-Teams
ist ein perfektes Beispiel, wie man einen „historischen Schinken“ inszenieren
und einem breiten Publikum schmackhaft machen kann. Diese Team-Arbeit
beruht auf der präzisen Führung einer Armee von Personen durch Francesca
ZAMBELLO, gepaart mit der vollen Verwendung der ungeheuren Maschinerie
der Bastille-Oper durch John MACFARLANE, die stilvollen Kostümen von Nicky
GILLIBRAND, sowie die ausgezeichnete Beleuchtung von Dominique BRUGUIÈRE
und die schöne Choreographie von Dennis SAYERS.
Dabei
ist ja Prokofievs Partitur wahrlich keine „leichte Unterhaltungsmusik“.
Obwohl der 1. Teil (Der Frieden) sehr dem typischen Stil der russischen
Romantik des 19. Jahrhunderts huldigt, überschreitet Prokofiev hier die
Grenzen. Die Rolle des Fürsten Andrej Bolkonski erinnert natürlich an
Eugen Onegin, ist aber psychologisch viel mehr ausgefeilt. Ebenso könnte
die junge, viel umworbene Natascha Rostova eine Cousine Tatianas sein.
Die orchestrale Ausarbeitung, immer an der Grenze der klassisch-romantischen
Tonalität (weshalb die berüchtigte Jdanow-Kommission die Oper zuerst mehrmals
wegen „Bourgeoisen Formalismus“ verbot), ist eben Prokofiev und nicht
Tschaikowsky oder Borodin oder Rimsky-Korsakov (dessen Schüler Prokofiev
war).
Die
oftmalige Zusammenarbeit für Filme mit Sergei Eisenstein ist im 2. Teil
(Der Krieg) offenbar. Es ist kein Zufall, daß bei der Arbeit am Libretto
aus Tolstois Riesenroman Eisenstein mitgearbeitet hat. Natürlich muß man
an „Alexander Nevsky“ oder „Leutnant Kije“ denken, nur um festzustellen,
daß Prokofiev ein Hundert-Mann-Orchester in den Graben und einen ebensolches
Chor auf die Bühne stellen kann und – trotz des patriotischen Pathos –
nie kitschig wird. Man entdeckt erst bei mehrfachem Hören die tiefgehenden
Details der zyklopischen Partitur. Dabei bringt Prokofiev es zustande,
bei diesem Riesenaufwand Szenen einzuflechten, wo die schreckliche menschliche
Tragik des Krieges aufscheint, wie die erschütternde Szene zwischen dem
Beisteher Fürst Piotr Bezukhov, dem Pazifisten und Freimaurer, der von
den Franzosen fast standrechtlich erschossen wird, und dem anderen Beisteher
Platon Karatiev. Eine DVD der
Premierenserie ist eben erschienen und wirklich empfehlenswert.
Diese
Aufführungsserie dirigierte Vladimir JUROWSKI großartig und mit jugendlichem
Enthusiasmus. Als Russe arbeitete er natürlich musikalisch die russische
Seite mehr als seine Vorgänger am Pult heraus. Peter BURIAN hatte die
großartigen Chöre neu einstudiert und wurde am Schluß mit seiner Truppe
mit Recht gefeiert.
Bo
SKOVHUS debütierte in der Rolle des Prinzen Andrej. Seine außergewöhnliche
Bühnenpräsenz gab diesem Idealisten das perfekte Profil, gepaart mit seiner
stimmlich überragenden Leistung. Natascha Rostova war wie in der Premierenserie
Olga GURYAKOVA. Sie gab der Rolle des beschützten jungen Mädchens, das
sich in das Abenteuer mit dem leichtlebigen Fürsten Anatol Kuragin stürzt
und daran fast zerbricht, die ideale Bühnenfigur, die strahlende Stimme
und tiefgehende Darstellung. Wenn sie den sterbenden Prinzen Andrej auf
dem Schlachtfeld vor Moskau wieder findet, ist ein erschütternder Augenblick.
Dem Anatol lieh Vsevolod GRIVNOV das nötige Maß an Niederträchtigkeit
und Habgier.
Der
deutsche Tenor Michael KÖNIG war ein sensationeller Einspringer als Piotr
Bezukhov. Er sang nicht nur absolut phänomenal die sehr exponierte Rolle,
sondern spielte auch mit unglaublicher Intensität den gepeinigten Menschen.
Obwohl er nicht die vorteilhafte Statur von Skovhus besitzt, ist er ein
ausgezeichneter Sänger und Schauspieler. Man kann dem jungen Tenor eine
große Karriere voraussagen. Von den beiden Klatschtanten ist vor allem
Felicity PALMER zu nennen, die der Gräfin Akhrossimova in der Szene mit
Natascha tragische Akzente gab. Als die zweite im Bunde war Irina BOGATCHEVA
als Mme. Peronskaïa sehr treffend.
Nicht
zu übersehen war auch Elena ZAREMBA in umwerfendem Abendkleid, die ihren
prachtvollen Mezzo der Helena Bezukhova, Piotrs leichtlebiger und intrigierender
Gattin, lieh. Andrejs Schwester, Fürstin Maria war bei Susana PORETSKY
gut aufgehoben. Sein Vater, der misanthropische Fürst Nikolai, war der
riesige Gleb NIKOLSKY (er ist sicher zwei Meter groß), mit tief schwarzem
Baß.
Im
2. Teil stach Vladimir OGNOVENKO als Marschall Koutouzov, Sieger der Schlacht
von Borodino, hervor, der dem alten Haudegen seine imponierende Statur
und seinen prachtvollen Baß lieh. Vassili GERELLO war ein etwas blasser
Napoleon, der den heldenhaften Widerstand der Moskowiten bewunderte. Von
den etwa dreißig weiteren Sängern (die fast alle mehrere Rollen darstellten)
seien zwei hervorgehoben: als Platon Karataïev wußte Nikolai GASSIEV die
Unmenschlichkeit des Kriegs diskret und ohne Übertreibung zu vermitteln,
während Vladimir MATORIN im Gegenteil den Kutscher Balaga und zwei weitere
Rollen wodkatrinkend erfolgreich mit Stentor-Baß über die Runden brachte.
Es ist unmöglich allen anderen, durchwegs guten, Sänger einzeln zu danken.
Beim
Schlußvorhang ist die – wirklich nicht kleine - Bühne der Bastille-Oper
rammelvoll. Großer Erfolg und tobender Applaus des begeisterten Publikums.
wig.
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