Wenn
ich Sie frage, ob Ihnen Tommaso Traetta (1727-1779) bekannt sei, werden
Sie vermutlich die Frage verneinen. Der Komponist aus Bisonto (eine der
acht romanischen Kathedralen um Bari) lernte sein Handwerk bei Porpora
in Neapel, wo er auch seine ersten Erfolgen einheimste, gefolgt von Venedig.
Deshalb wurde er 1758 an den Hof in Parma gerufen, wo die Bourbonen sich
installiert hatten. Er adaptierte zuerst die dort sehr populären Rameau-Opern
für den italienischen Geschmack. Bald begann er selbst Opern zu schreiben
und die italienische Oper zu reformieren, die in der Tradition von Mayr,
Porpora, Leo, Jomelli und Co. etwas verknöchert war. Er hatte damit derartigen
Erfolg, daß man ihn nach Wien empfahl, wo er unter anderem Gluck kennen
lernte, der ja ähnliche, aber nicht identische Ideen hatte. Die Freundschaft
ging so weit, daß die beiden Logenbrüder in der selben Freimaurer-Loge
waren und auch die selbe Mätresse hatten, die berühmte Caterina Gabrielli,
die Traetta seinem Kollegen aber ausspannte und nach St. Petersburg entführte,
wo sie 1772 die Titelrolle der Oper „Antigona“ sang.
Die
Oper ist nicht nur deshalb interessant, weil sie im Auftrag von Katharina
II. geschrieben wurde und praktisch ein politisches Propaganda-Werk ist,
sondern weil es sich hörbar um ein Übergangswerk zwischen der italienischen
Oper des Barocks und der Klassik handelt. Im Gegensatz zu den aufgefädelten
da-capo Koloratur-Arien, mit bestenfalls einem oder zwei Duetten, wie
bei Jomelli, Leo, Händel und dem jungen Mozart („Mitridate“ wurde 1770
in Mailand kreiert!), gibt es hier erstmals sehr dramatische Arien, die
öfters in Duette, Ensembles, sogar mit Chor, überfließen. Traetta vernachlässigt
die Melodie nie, denn alle Arien stammen direkt aus der neapolitanischen
Oper.
Ähnlich
wie bei Gluck haben die Chöre oft einen düsteren, mystischen Charakter;
man denkt vor allem an „Alceste“. Der Schluß, der hier mit einem Happy
end schließt, ist total verpatzt und ein ausgesprochener Nachteil des
Werks. Nachdem Creonte sich bekehrt hat und Güte walten läßt, gibt er
Antigona und Emone von der verhängten Todesstrafe frei und kündigt ihre
Vermählung an. Man erwartet eine große Schlußszene mit Chor und allem
Tralala, aber es passiert einfach nichts: die beiden Verurteilten stehen
auf und verschwinden, während eine Sinfonia-Passacaglia die Oper beendet.
Eine dramatisches Fiasko!
Diese
Aufführung fand ebenfalls im Rahmen des „Festival des Régions“ statt,
denn wie viele der sehr guten französischen Barockensembles, haben sich
LES TALENS LYRIQUES (ohne „t“, Untertitel der Rameau-Oper „Les Fêtes d’Hébé“)
und ihr Chef Christophe ROUSSET einen regionalen Schutzherrn gesucht und
in der Region Langedoc und der Stadt Montpellier gefunden. Les Talens
Lyriques haben sich um die Wiederbelebung der Opern des 18. Jahrhunderts
verdient gemacht und einige der besten Sänger für dieses Unternehmen mobilisieren
können. Christophe Rousset ist ursprünglich Cembalist und Musikologe und
entledigt sich mit großer Begeisterung, hörbarer Kompetenz und durchschlagendem
Erfolg seiner Aufgabe. Er weiß seinen Elan enthusiastisch den Sängern
und dem Chor LES ÉLÉMENTS mitzuteilen (von Joël SUHUBIETTE geleitet, einem
ausgezeichneten Dirigenten, der sich vor allem in zeitgenössischen Opern
verdient gemacht hat).
Dank
einer Absage gab es eine Überraschung bei den Sängern: Maria Bayo war
in der Titelrolle angekündigt, die im März die Serie in Montpellier gesungen
hatte. Sie sang auch hochschwanger alle Proben und die Pariser Generalprobe
am 20. Juni, aber für die Premiere am 22. war sie in der Klinik. Die junge
Raffaella MILANESI war als Zweitbesetzung vorgesehen und wirklich keine
Enttäuschung. Sie besitzt einen sehr schönen, runden, gut geführten lyrischen
Sopran, der auch die bisweilen sehr anstrengenden Koloraturen perfekt
meistert. Sie spielt überzeugend, trotz der geringen Beachtung, die ihr
der Regisseur zuteil werden ließ. Ein Namen, den man sicher oft wieder
hören wird. An ihrer Seite lieh Marina COMPARATO ihren wohlklingenden
Mezzo der Schwester Ismene.
Kobie
van RENSBURG als wilder, tyrannischer Creonte meisterte die halsbrecherischen
Koloratur-Arien fulminant. Seinen Sohn Emone (und Liebhaber Antigonas)
sang Laura POVERELLI, eine Spezialistin dieses Repertoires. Nicht nur
musikalische Substanz gab sie der Hosenrolle, sondern auch einen darstellerisch
überzeugenden Charakter. In der kleineren Rolle des Adrasto, dem Vertrauten
der einigermaßen überspannten Familie (Ödipus und Jokaste als Eltern zu
haben, ist ja nicht jedem gegeben), war John MCVEIGH ausgezeichnet, einschließlich
in der Koloratur-Arie des 2. Akts.
Nicht
auf der Bühne, sondern auf einer Art Laufsteg, zwischen Orchester und
Parkett gebaut, bringen sich die Zwillingsbrüder Eteocles und Polynike
(Grégoire und Sébastein CAMUZET, offensichtlich auch Zwillinge) bereits
in der 1. Szene um. Sie geistern aber während der ganzen Vorstellung als
Schatten herum oder sitzen auf dem Laufsteg. Das aber ist ein anderes
Kapitel: die Regie und Inszenierung. Ein durchgehend schwarz-weißer surrealistischer
Einheitsdekor ist irgendwo zwischen Cocteau, Dali und Braque angesiedelt
und wurde vom ATELIER M/M in Paris gebaut (M/M steht für Michaël AMZALAG
und Mathias AUGUSTYNIAK). Die beiden Grafiker arbeiten hauptsächlich in
der Modebranche und mit Photographen. Es werden alle möglichen (und unmöglichen)
Versatzstücke gebracht und herum geschoben: stilisierte Bäume aus schwarzem
Eisen, ebenso bizarr geformte „Werkzeuge“, sowie Buchstaben-Felsblöcke
aus Karton, die T H E B E S ergeben.
In
diesem Sinn sind auch die Kostüme von Paul QUENSON, der neben Opernkostümen
auch Schmuck und Mode-Accessoires als Designer produziert. Antigone trägt
ein langes schwarzes Abendkleid, Ismene ein kurzes weißes Cocktail-Kleid,
beide rückenfrei. Die Kluften der anderen Solisten sind auch in diesen
„Farben“ gekleidet. Die sechs Diener Creontes sind in schwarz-weißen Anoraks
und Skihosen, der Chor in ähnlich karierten Hemden, Jacken und Hosen.
All das ist recht günstig von Marie-Christine SOMA ausgeleuchtet.
In
diesem bewußt surrealistischem Bühnenbild versucht der Regisseur Eric
VIGNER Sänger und Chor zu führen. Der Chor ist „auf Griechisch“ in Marschformation
aufgestellt und macht meistens nur Turnübungen. Die Sänger hatten meist
genügend Bühnenerfahrung, um sich leidlich aus der Situation zu ziehen.
Nur die Titelheldin hätte man am Schluß auf eine weniger banale Art von
ihrem Platz auf dem Laufsteg abgehen lassen können.
Trotz
dieser Beschränkungen war der Beifall für die Künstler stürmisch, besonders
für Raffaella Milanesi, die junge Einspringerin aus Rom. wig.
|