„ANGELS IN AMERICA“ - 26. November 2004

Die im Auftrag des Châtelets geschriebene Oper ist wohl das kurioseste Werk dieses an Neuigkeiten reichen Herbstes. Das gleichnamige zweiteilige, siebenstündige, sehr erfolgreiche Theaterstück von Tony Kushner, das auch als Fernsehserie derzeit in aller Welt läuft, hat zwar 1993 einen Pulitzerpreis, zwei Grammy-Awards und mehrere weitere Ehrungen erhalten, ist aber sehr schwer zugänglich, vor allem für ein europäisches Publikum.

Man muß auf die Ursprünge der Vereinigten Staaten zurückgehen, um zu versuchen diese einigermaßen konfuse „Handlung“ zu verstehen. Amerika war von europäischen religiösen „Misfits“ begründet worden. Seit der Landung der puritanischen Pilgrims der „Mayflower“ 1620 in Massachusett, kamen zahllose Minderheiten, Anabaptisten, Sekten und vertriebene Randgruppen nach Amerika und haben sich dort niedergelassen und weiter entwickelt (Mennoniten, Baptisten, Moravians/Hussiten, usw.). Diese Gemeinden haben die Ablehnung der staatlichen Autorität, einen absoluten Horror vor der Aufklärung und dem wissenschaftlichen Fortschritts, sowie einen puritanischen Calvinismus gemeinsam. Sogar auf manche jüdische Gemeinden hat diese Philosophie abgefärbt.

Seit Beginn der amerikanischen Geschichte waren utopische Projekte gang und gebe (Mormonen, Amish, Quaker, Zeugen Jehovas), mit einer ausgeprägten Tendenz zur Abgrenzung und Bildung von Ghettos. Diese Utopien haben sich in der Literatur niedergeschlagen, von den Transzendentalisten um Thoreau und Emerson bis John Dos Pasos, Arthur Miller u. v. a., sowie im Film. Im 20. Jahrhundert hat dies zu unglaublichen Exzessen geführt, da gewisse selbst ernannte „Gurus“ und „Propheten“ die Leichtgläubigkeit ihrer Anhänger schamlos ausgenutzt haben, mit finanzieller Ausbeutung, Versklavung, Polygamie, Pädophilie, selbst Satanismus im Gefolge. In extremen Fällen hat das zu Massen-Selbstmord geführt (Davidians, Sonnentempel…). Fundamentalistische Sekten (Evangelicals, Pentecostals, Adventisten, Born-again Christians usw.) haben in den letzten Jahrzehnten ungemein zugenommen und ihre Lehren sind weitgehend apokalyptisch und messianisch. Neu jedoch ist ihr sehr aktive Proselytismus, vor allem in Lateinamerika und Schwarzafrika.

Dieser sehr vom Alten Testament beeinflußte Christianismus (im Gegensatz zum europäischen Christentum) ist heute sehr stark ausgeprägt (man schätzt 100 Millionen Anhänger allein in USA) und für die meisten Europäer kaum zugänglich (siehe die letzte US Wahl). Viele dieser Amerikaner sind überzeugt, das „ausgewählte Volk“ zu sein, und daß Amerika das „gelobte Land“ und die Wiederkehr Jesu als Messias nahe sei. Nicht überraschend sind Gegenbewegungen aufgetreten, vor allem seit dem Vietnam-Krieg, Woodstock, Flower-Power und dem Auftritt der militanten Gay-Bewegung.

Nur in dieser Sicht kann man an „Angels in America“ überhaupt heran gehen. Der Untertitel „Gay Fantasia on National Themes“ setzt zwar bereits den Rahmen: das Stück spielt in der Schwulen-Szene von New York während der ersten AIDS Epidemie der Ende der achtziger Jahre, wobei alle Personen entweder Juden oder Mormonen und alle Männer AIDS-kranke Homosexuelle sind. Wer glaubt, es handle sich um eine musikalische „Gay Pride“ Parade, täuscht sich. Es ist ein apokalyptisches Stück mit einen schwarzen Erzengel und einem Propheten am Ende!. Trotz der skatologischen und sexuellen Vulgärsprache, ist das Stück durchaus messianisch.

Der 1. Teil beginnt auf dem jüdischen Friedhof der Bronx, wo man die Großmutter von Louis Ironson begräbt. Sein Liebhaber Prior benachrichtigt ihn, daß er AIDS hat. Der korrupte Rechtsanwalt Roy Cohn (die einzige historische Figur, Berater McCarthys, maßgeblich an der Verurteilung und Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg beteiligt) telephoniert und flucht dauernd und bietet dem jungen Mormonen Joe Pitt einen Posten im Justizministerium an, um sich in einer Korruptionsaffäre decken zu können. Währenddessen stopft sich Joes total hysterische Frau Harper mit Valium voll. Nach einigen Zwischenfällen in denen die weiteren Personen und ihre Probleme dargestellt werden, erscheinen Prior in einem Albtraum zwei seiner Vorfahren, die mit der Erscheinung des Engels ganz in Weiß verschwinden: „Greetings, Prophet. The great work begins. The Messenger has arrived.“

Der 2. Teil beginnt mit der Wiederholung der letzten Szene des weißen Engels. Doch nun wird es reichlich peinlich. Nach einigen Szenen, wo Louis und Joe sich im Bett befinden, erscheint der Engel wieder, diesmal ganz in Schwarz um zu verkündigen: „I am the Continental Principality of America.“ Man muß an das Manifest der amerikanischen Neocoms denken! Denn nun soll Prior Prophet werden. „American Prophet tonight you become. American Eye you pierceth Dark, American Heart all Hot for Truth … Remove from the hiding the Sacred Prophetic Implements.“ Aber Prior will gar nicht Prophet werden und wird dann doch vom Engel praktisch dazu gezwungen. In einer Szene mit den inzwischen Engel der sechs Kontinente gewordenen anderen Personen, wird das Tschernobyl-Desaster per krächzendem Radio mit einigermaßen banalen Schlagworten kommentiert. In der kitschigen Schlußszene fünf Jahre später nimmt Prior, der seine Krankheit überlebt hat, von seinen Freunden Abschied mit „More life!“. Eine Art Himmelfahrt, Erlösung oder ein Hoffnungsschimmer? Das wird aber nirgendwo erklärt.

Als avantgardistisch gepriesen ist das Stück schließlich schrecklich konventionell, nur in eine phantastische Atmosphäre und die beginnende New Yorker AIDS-Epidemie verpackt. Tödliche Krankheiten waren schon immer in Theater und Oper sehr gefragte Themen. Bis zum Mittelalter war es die Pest, im 19. Jahrhundert die Tuberkulose, man denke nur an „Traviata“ oder „Bohème“, nun ist es AIDS. Die politische Botschaft, die Kritik am Amerika Reagans, wie und ob es sexuelle, religiöse und ethnische Minderheiten integrieren kann, fällt ziemlich flach. Diese Kritik ist nur in der 1. Szene scharf ausgedrückt, wo Rabbi Chemelwitz in seiner Grabrede sagt: „ ... so that you would not grow up here, in this strange place, in this melting pot where nothing melted.“

Der viel in Frankreich wirkende ungarische Komponist Peter Eötvös aus Siebenbürgen hat daraus eine Oper gemacht. Mari Mezei, die Gattin des Komponisten, hat kein Libretto im konventionellen Sinn geschrieben, sondern hat sich beschränkt, den Text des Theaterstücks zu bearbeiten. Aus sieben Stunden Theater ein zweistündiges Libretto zu bauen, ist natürlich eine ungeheuer schwierige Aufgabe. Es ist deshalb sehr schwer, der Handlung zu folgen, da öfters mehrere Szenen gleichzeitig auf der Bühne stattfinden, und sechs der acht Sänger mehrere Rollen spielen. Unter der aufgetürmten Handlung leidet die Musik sehr und Eötvös beschränkt sich auf lange Strecken auf eine Untermalung der Handlung. Da er sich weitgehend der Form des Musicals bedient, sind lange Passagen eher Sprechgesang oder parlando. Nur die Rolle des Engels ist immer eine wirkliche Gesangsrolle, während die restlichen Sänger nur selten wirklich zum Singen kommen. Damit die Sänger sich völlig frei bewegen können (d. h. auch mit dem Rücken zum Publikum zu singen), hat der Komponist beschlossen, alle Stimmen und Instrumente elektronisch zu steuern. Daher kommen alle Töne mit gleicher Intensität ins Publikum, auch wenn der Sänger weit im Hintergrund steht. Das gibt allerdings Anlaß zu einer gewissen Monotonie.

Das sechzehnköpfige Instrumentalensemble (Streicher, Gitarren, Bläser, zwei Klaviere, Schlagzeug) plus Vokaltrio wurde vom Komponisten Peter EÖTVÖS selbst dirigiert. Vor allem die Erscheinungen des Engels sind durchgearbeitet und einigermaßen spektakulär. Bisweilen erreicht Eötvös interessante Effekte, wenn er eine ans Zymbalum erinnernde Instrumentenkombination zusammenstellt.

Die ausgezeichneten, meist amerikanischen Sänger fanden sich natürlich sehr gut in der Musik zurecht. Die drei Damen haben zwar den Zenit ihrer Karriere überschritten, zeigten aber welche professionelle Kompetenz sie haben. Barbara HENDRICKS als Engel hatte die einzige wirkliche „Opernrolle“ und nützte dies, um ihre unverwüstliche stimmliche Gesundheit und überragende Bühnenpräsenz zu zeigen. Julia MIGENES ist in den Wassern der „musical comedy“ seit Kindheit gebadet worden. Sie gab den drei sehr unterschiedlichen Rollen das richtige Profil: einerseits als die total hysterische, valiumsüchtige Harper Pitt, als Engel Antarctica am Schluß und andererseits als der Geist von Ethel Rosenberg, die auf dem elektrischen Stuhl sitzend Roy Cohn geisterhaft erscheint. Roberta ALEXANDER war perfekt als die Mormonin Hannah Pitt, als Rabbi Chemelwitz in der Begräbnisszene zu Beginn und schließlich als Engel Asiatica.

Bei den Herren stach Daniel BELCHER als der „Held“ Prior Walter, der nicht Prophet werden will, hervor. Er stellte den gequälten AIDS-Kranken mit großer Intensität dar; selbst in der einigermaßen kitschigen Schlußszene mit den sieben Engeln, zog er sich gut aus der Affäre. Sein Liebhaber Louis Ironson war der Finne Topi LEHTIPUU, der seinen hohen Tenor vorteilhaft für die Rolle des vor der Verantwortung Fliehenden verwandte. Er war auch der Schlußengel Oceania. Der Countertenor Derek LEE RAGIN spielte ungemein differenziert verschiedene Rollen mit gleicher Überzeugung: den schwulen Krankenhelfer Belize, den bizarren Mr. Lies, den Harper Pitt entführt, den Engel Africanii und schließlich absolut faszinierend eine halluzinierende obdachlose schwarze Frau in den Bronx.

Omar EBRAHIM als Joe Pitt, der seiner Gattin Harper und der erschütterten Mutter Hannah gesteht, daß er homosexuell ist, gab der zwielichtigen, verunsicherten Figur glaubhaft Relief. Er war auch der Engel Europa und eine der Erscheinungen der Vorfahren. Roy Cohn, der korrumpierte, ständig fluchende Advokat, der nicht zugeben will, daß er AIDS hat, war mit Donald MAXWELL blendend besetzt. Er wußte die Doppelbödigkeit der Parvenü-Figur bestens heraus zuarbeiten, den brutalen Politiker und den jämmerlich Sterbenden. Er war auch der zweite erscheinende Vorfahre und der Engel Australia. Claudine LE COZ, Isabelle POINLOUP und Frédéric GONCALVES gaben dem als Instrumente geführten Vokaltrio ihre Stimmen.

Philippe CALVARIO zeichnete für die geschickte Inszenierung der vielschichtigen Handlung, die dem schwierig zugänglichen Werk Substanz gab. Er führte sehr glaubhaft die Sänger-Schauspieler durch die mobilen Szenenelemente, die Richard PEDUZZI sehr gut konzipiert hatte und die ständig von einer Armee von Bühnenarbeitern lautlos verschoben wurden. Einzig der Engel kommt vom Schnürboden auf einer Gondel herunter oder segelt quer über die Bühne. Jon MORRELL hatte sich nicht überarbeitet, die passenden Alltagskostüme einzukaufen. Sophie TELLIER choreographierte die verschiedenen Tanzszenen. Die ganze Produktion wurde sehr richtig von Bertrand COUDERC ausgeleuchtet. Last, but not least, ist Mark GREY als Toningenieur zu nennen, der die überraschend diskrete Sonorisierung der ganzen Produktion besorgt hatte.

Großer Applaus für ein einigermaßen befremdendes, bisweilen peinliches Werk. wig.