Die
im Auftrag des Châtelets geschriebene Oper ist wohl das kurioseste Werk
dieses an Neuigkeiten reichen Herbstes. Das gleichnamige zweiteilige,
siebenstündige, sehr erfolgreiche Theaterstück von Tony Kushner, das auch
als Fernsehserie derzeit in aller Welt läuft, hat zwar 1993 einen Pulitzerpreis,
zwei Grammy-Awards und mehrere weitere Ehrungen erhalten, ist aber sehr
schwer zugänglich, vor allem für ein europäisches Publikum.
Man
muß auf die Ursprünge der Vereinigten Staaten zurückgehen, um zu versuchen
diese einigermaßen konfuse „Handlung“ zu verstehen. Amerika war von europäischen
religiösen „Misfits“ begründet worden. Seit der Landung der puritanischen
Pilgrims der „Mayflower“ 1620 in Massachusett, kamen zahllose Minderheiten,
Anabaptisten, Sekten und vertriebene Randgruppen nach Amerika und haben
sich dort niedergelassen und weiter entwickelt (Mennoniten, Baptisten,
Moravians/Hussiten, usw.). Diese Gemeinden haben die Ablehnung der staatlichen
Autorität, einen absoluten Horror vor der Aufklärung und dem wissenschaftlichen
Fortschritts, sowie einen puritanischen Calvinismus gemeinsam. Sogar auf
manche jüdische Gemeinden hat diese Philosophie abgefärbt.
Seit
Beginn der amerikanischen Geschichte waren utopische Projekte gang und
gebe (Mormonen, Amish, Quaker, Zeugen Jehovas), mit einer ausgeprägten
Tendenz zur Abgrenzung und Bildung von Ghettos. Diese Utopien haben sich
in der Literatur niedergeschlagen, von den Transzendentalisten um Thoreau
und Emerson bis John Dos Pasos, Arthur Miller u. v. a., sowie im Film.
Im 20. Jahrhundert hat dies zu unglaublichen Exzessen geführt, da gewisse
selbst ernannte „Gurus“ und „Propheten“ die Leichtgläubigkeit ihrer Anhänger
schamlos ausgenutzt haben, mit finanzieller Ausbeutung, Versklavung, Polygamie,
Pädophilie, selbst Satanismus im Gefolge. In extremen Fällen hat das zu
Massen-Selbstmord geführt (Davidians, Sonnentempel…). Fundamentalistische
Sekten (Evangelicals, Pentecostals, Adventisten, Born-again Christians
usw.) haben in den letzten Jahrzehnten ungemein zugenommen und ihre Lehren
sind weitgehend apokalyptisch und messianisch. Neu jedoch ist ihr sehr
aktive Proselytismus, vor allem in Lateinamerika und Schwarzafrika.
Dieser
sehr vom Alten Testament beeinflußte Christianismus (im Gegensatz zum
europäischen Christentum) ist heute sehr stark ausgeprägt (man schätzt
100 Millionen Anhänger allein in USA) und für die meisten Europäer kaum
zugänglich (siehe die letzte US Wahl). Viele dieser Amerikaner sind überzeugt,
das „ausgewählte Volk“ zu sein, und daß Amerika das „gelobte Land“ und
die Wiederkehr Jesu als Messias nahe sei. Nicht überraschend sind Gegenbewegungen
aufgetreten, vor allem seit dem Vietnam-Krieg, Woodstock, Flower-Power
und dem Auftritt der militanten Gay-Bewegung.
Nur
in dieser Sicht kann man an „Angels in America“ überhaupt heran gehen.
Der Untertitel „Gay Fantasia on National Themes“ setzt zwar bereits den
Rahmen: das Stück spielt in der Schwulen-Szene von New York während der
ersten AIDS Epidemie der Ende der achtziger Jahre, wobei alle Personen
entweder Juden oder Mormonen und alle Männer AIDS-kranke Homosexuelle
sind. Wer glaubt, es handle sich um eine musikalische „Gay Pride“ Parade,
täuscht sich. Es ist ein apokalyptisches Stück mit einen schwarzen Erzengel
und einem Propheten am Ende!. Trotz der skatologischen und sexuellen Vulgärsprache,
ist das Stück durchaus messianisch.
Der
1. Teil beginnt auf dem jüdischen Friedhof der Bronx, wo man die Großmutter
von Louis Ironson begräbt. Sein Liebhaber Prior benachrichtigt ihn, daß
er AIDS hat. Der korrupte Rechtsanwalt Roy Cohn (die einzige historische
Figur, Berater McCarthys, maßgeblich an der Verurteilung und Hinrichtung
des Ehepaars Rosenberg beteiligt) telephoniert und flucht dauernd und
bietet dem jungen Mormonen Joe Pitt einen Posten im Justizministerium
an, um sich in einer Korruptionsaffäre decken zu können. Währenddessen
stopft sich Joes total hysterische Frau Harper mit Valium voll. Nach einigen
Zwischenfällen in denen die weiteren Personen und ihre Probleme dargestellt
werden, erscheinen Prior in einem Albtraum zwei seiner Vorfahren, die
mit der Erscheinung des Engels ganz in Weiß verschwinden: „Greetings,
Prophet. The great work begins. The Messenger has arrived.“
Der
2. Teil beginnt mit der Wiederholung der letzten Szene des weißen Engels.
Doch nun wird es reichlich peinlich. Nach einigen Szenen, wo Louis und
Joe sich im Bett befinden, erscheint der Engel wieder, diesmal ganz in
Schwarz um zu verkündigen: „I am the Continental Principality of America.“
Man muß an das Manifest der amerikanischen Neocoms denken! Denn nun soll
Prior Prophet werden. „American Prophet tonight you become. American Eye
you pierceth Dark, American Heart all Hot for Truth … Remove from the
hiding the Sacred Prophetic Implements.“ Aber Prior will gar nicht Prophet
werden und wird dann doch vom Engel praktisch dazu gezwungen. In einer
Szene mit den inzwischen Engel der sechs Kontinente gewordenen anderen
Personen, wird das Tschernobyl-Desaster per krächzendem Radio mit einigermaßen
banalen Schlagworten kommentiert. In der kitschigen Schlußszene fünf Jahre
später nimmt Prior, der seine Krankheit überlebt hat, von seinen Freunden
Abschied mit „More life!“. Eine Art Himmelfahrt, Erlösung oder ein Hoffnungsschimmer?
Das wird aber nirgendwo erklärt.
Als
avantgardistisch gepriesen ist das Stück schließlich schrecklich konventionell,
nur in eine phantastische Atmosphäre und die beginnende New Yorker AIDS-Epidemie
verpackt. Tödliche Krankheiten waren schon immer in Theater und Oper sehr
gefragte Themen. Bis zum Mittelalter war es die Pest, im 19. Jahrhundert
die Tuberkulose, man denke nur an „Traviata“ oder „Bohème“, nun ist es
AIDS. Die politische Botschaft, die Kritik am Amerika Reagans, wie und
ob es sexuelle, religiöse und ethnische Minderheiten integrieren kann,
fällt ziemlich flach. Diese Kritik ist nur in der 1. Szene scharf ausgedrückt,
wo Rabbi Chemelwitz in seiner Grabrede sagt: „ ... so that you would not
grow up here, in this strange place, in this melting pot where nothing
melted.“
Der
viel in Frankreich wirkende ungarische Komponist Peter Eötvös aus Siebenbürgen
hat daraus eine Oper gemacht. Mari Mezei, die Gattin des Komponisten,
hat kein Libretto im konventionellen Sinn geschrieben, sondern hat sich
beschränkt, den Text des Theaterstücks zu bearbeiten. Aus sieben Stunden
Theater ein zweistündiges Libretto zu bauen, ist natürlich eine ungeheuer
schwierige Aufgabe. Es ist deshalb sehr schwer, der Handlung zu folgen,
da öfters mehrere Szenen gleichzeitig auf der Bühne stattfinden, und sechs
der acht Sänger mehrere Rollen spielen. Unter der aufgetürmten Handlung
leidet die Musik sehr und Eötvös beschränkt sich auf lange Strecken auf
eine Untermalung der Handlung. Da er sich weitgehend der Form des Musicals
bedient, sind lange Passagen eher Sprechgesang oder parlando. Nur die
Rolle des Engels ist immer eine wirkliche Gesangsrolle, während die restlichen
Sänger nur selten wirklich zum Singen kommen. Damit die Sänger sich völlig
frei bewegen können (d. h. auch mit dem Rücken zum Publikum zu singen),
hat der Komponist beschlossen, alle Stimmen und Instrumente elektronisch
zu steuern. Daher kommen alle Töne mit gleicher Intensität ins Publikum,
auch wenn der Sänger weit im Hintergrund steht. Das gibt allerdings Anlaß
zu einer gewissen Monotonie.
Das
sechzehnköpfige Instrumentalensemble (Streicher, Gitarren, Bläser, zwei
Klaviere, Schlagzeug) plus Vokaltrio wurde vom Komponisten Peter EÖTVÖS
selbst dirigiert. Vor allem die Erscheinungen des Engels sind durchgearbeitet
und einigermaßen spektakulär. Bisweilen erreicht Eötvös interessante Effekte,
wenn er eine ans Zymbalum erinnernde Instrumentenkombination zusammenstellt.
Die
ausgezeichneten, meist amerikanischen Sänger fanden sich natürlich sehr
gut in der Musik zurecht. Die drei Damen haben zwar den Zenit ihrer Karriere
überschritten, zeigten aber welche professionelle Kompetenz sie haben.
Barbara HENDRICKS als Engel hatte die einzige wirkliche „Opernrolle“ und
nützte dies, um ihre unverwüstliche stimmliche Gesundheit und überragende
Bühnenpräsenz zu zeigen. Julia MIGENES ist in den Wassern der „musical
comedy“ seit Kindheit gebadet worden. Sie gab den drei sehr unterschiedlichen
Rollen das richtige Profil: einerseits als die total hysterische, valiumsüchtige
Harper Pitt, als Engel Antarctica am Schluß und andererseits als der Geist
von Ethel Rosenberg, die auf dem elektrischen Stuhl sitzend Roy Cohn geisterhaft
erscheint. Roberta ALEXANDER war perfekt als die Mormonin Hannah Pitt,
als Rabbi Chemelwitz in der Begräbnisszene zu Beginn und schließlich als
Engel Asiatica.
Bei
den Herren stach Daniel BELCHER als der „Held“ Prior Walter, der nicht
Prophet werden will, hervor. Er stellte den gequälten AIDS-Kranken mit
großer Intensität dar; selbst in der einigermaßen kitschigen Schlußszene
mit den sieben Engeln, zog er sich gut aus der Affäre. Sein Liebhaber
Louis Ironson war der Finne Topi LEHTIPUU, der seinen hohen Tenor vorteilhaft
für die Rolle des vor der Verantwortung Fliehenden verwandte. Er war auch
der Schlußengel Oceania. Der Countertenor Derek LEE RAGIN spielte ungemein
differenziert verschiedene Rollen mit gleicher Überzeugung: den schwulen
Krankenhelfer Belize, den bizarren Mr. Lies, den Harper Pitt entführt,
den Engel Africanii und schließlich absolut faszinierend eine halluzinierende
obdachlose schwarze Frau in den Bronx.
Omar
EBRAHIM als Joe Pitt, der seiner Gattin Harper und der erschütterten Mutter
Hannah gesteht, daß er homosexuell ist, gab der zwielichtigen, verunsicherten
Figur glaubhaft Relief. Er war auch der Engel Europa und eine der Erscheinungen
der Vorfahren. Roy Cohn, der korrumpierte, ständig fluchende Advokat,
der nicht zugeben will, daß er AIDS hat, war mit Donald MAXWELL blendend
besetzt. Er wußte die Doppelbödigkeit der Parvenü-Figur bestens heraus
zuarbeiten, den brutalen Politiker und den jämmerlich Sterbenden. Er war
auch der zweite erscheinende Vorfahre und der Engel Australia. Claudine
LE COZ, Isabelle POINLOUP und Frédéric GONCALVES gaben dem als Instrumente
geführten Vokaltrio ihre Stimmen.
Philippe
CALVARIO zeichnete für die geschickte Inszenierung der vielschichtigen
Handlung, die dem schwierig zugänglichen Werk Substanz gab. Er führte
sehr glaubhaft die Sänger-Schauspieler durch die mobilen Szenenelemente,
die Richard PEDUZZI sehr gut konzipiert hatte und die ständig von einer
Armee von Bühnenarbeitern lautlos verschoben wurden. Einzig der Engel
kommt vom Schnürboden auf einer Gondel herunter oder segelt quer über
die Bühne. Jon MORRELL hatte sich nicht überarbeitet, die passenden Alltagskostüme
einzukaufen. Sophie TELLIER choreographierte die verschiedenen Tanzszenen.
Die ganze Produktion wurde sehr richtig von Bertrand COUDERC ausgeleuchtet.
Last, but not least, ist Mark GREY als Toningenieur zu nennen, der die
überraschend diskrete Sonorisierung der ganzen Produktion besorgt hatte.
Großer
Applaus für ein einigermaßen befremdendes, bisweilen peinliches Werk.
wig.
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