Heinrich
Heine hatte die Pariser Oper den „Mittelpunkt der zivilisierten Welt“
genannt. Darüber läßt sich natürlich streiten. Es steht jedenfalls fest,
daß im „Grand siècle“ in Paris vermutlich mehr Opern als je irgendwann
und irgendwo zur Uraufführung kamen (die Schätzungen gehen auf ca. 2500
Werke). Fest steht auch, daß jeder Komponist, der was heißen wollte, in
Paris Fuß fassen mußte. Das blieb auch Verdi, Rossini und Wagner nicht
erspart. Dazu gehörten zwei Dinge: die vier- oder fünfaktige Oper mußte
in französischer Sprache gespielt werden und ein großes Ballett beinhalten,
damit die Herren des Jockeyklubs ihre „Protégées“ begutachten konnten.
Rossini („Guillaume Tell“) und Verdi („Don Carlos“ und „Les Vêpres siciliennes“)
hatten sich diesen Regeln gebeugt.
Wagner
hatte sich bereits der Landessprache unterworfen (eine Praxis, die ja
auch anderswo bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahhunderts - auch
in deutschen Landen - gang und gäbe war). Er hatte sich zu diesem Zweck
die Dienste eines gewissen Charles Nuitter gesichert, der die Übersetzung
des deutschen Textes und die Umsetzung der Textindikationen der Zusätze
Wagners durchführte. Wagner hat übrigens große Teile dieser Zusätze (eine
längere Tirade Venus’ im 1. Akt) in der „Wiener Fassung“ von 1875 zurück
übersetzt. Auch Striche gibt es, z. B. das Lied Walthers von der Vogelweide
(„Den Bronnen, den uns Wolfram nannte..“) fehlt in der Pariser Fassung.
Das
Ballet ging normalerweise im zweiten oder dritten Akt über die Bühne,
denn die Herren des Jockeyklubs kamen erst in der Pause nach dem 1. Akt.
Nun, daß Wagner das zweite „Gesetz“ in „Tannhäuser“ nicht befolgt hatte,
indem er das Ballet zu Anfang der Oper – das berühmte Bacchanale – spielen
ließ, löste den berüchtigten Skandal des 13. März 1861 aus, der in den
zwei weiteren Aufführungen an Lärm noch zunahm, trotz ostensibler Unterstützung
durch Napoleon III. und Kaiserin Eugénie.
Es
war vermutlich nicht die beste Idee, im Châtelet die Pariser Fassung von
1861 mit „langem Bacchanale“ auszugraben - zum Glück ohne Tanz, auf deutsch
und nicht auf französisch. Denn dies führte zu etwa 20 Minuten ziemlich
statischer Gestik zwischen Venus und Tannhäuser. Regisseur Andreas HOMOKI
hatte vor zehn Jahren im Châtelet eine sehr bemerkenswerte, aus Genf importierte,
Inszenierung der „Frau ohne Schatten“ herausgebracht, mit Wolfgang GUSSMANN
als Bühnenbildner und Kostümier. Diese Produktion erhielt 1994 den Preis
der „besten Opernproduktion des Saison 1993/94“. Das wichtigste Versatzstück
in dieser Inszenierung war eine riesige, mit Runen und kabalistischen
Zeichen bemalte, weiße Kugel.
In
„Tannhäuser“ hatten Homoki und Gussmann auch wieder eine Kugel zur Hand.
Diesmal ist sie aber feuerrot, steigt nach Bedarf aus der Versenkung auf
und verkörpert Venus und die Welt der Kunst, während die offizielle Gesellschaft
durch einen riesigen weißen Hohlwürfel gekennzeichnet wird, der von der
„Arche de la Défense“, dem riesigen Tor im Westen von Paris in der Fluchtlinie
der Champs Elysées, inspiriert ist. Homoki hat die Partitur und den Text
sichtlich gut studiert, überlegt und darüber nachgedacht. Er ist aber
mit seinen psychoanalytischen Obsessionen in die Fallen des sogenannten
Regietheaters geraten. Daß der Regisseur in Tannhäuser den Künstler sieht,
der mit der Gesellschaft auf Kriegsfuß steht, ist ja nicht sonderlich
originell. Bei Wagner ist dies das zentrale Thema der „Meistersinger“
und wurde seither von Komgold, Pfitzner, Busoni, Strauß und Hindemith
in vielen Opern angeschnitten. Diesen Antagonismus auszuleuchten, ist
durchaus vertretbar.
Das
Zurechtbiegen des Werks durch den Regisseur ist aber weniger gutzuheißen.
Venus als die „Muse“ des Künstlers Tannhäuser zu sehen, geht noch an,
was zu der genannten langen statischen Einführung Anlaß gab. Daß der Hirt
(in feuerroter Uniform eines Hotel-Bellboys mit Pillbox-Hütchen) als Gehilfe
Venus' umgedeutet wurde, ist erheblich schwieriger zu verkraften. Es ist
aber unmöglich dem Regisseur zu folgen, wenn er Elisabeth und Venus zu
Ende des 2. und 3. Aktes gleichzeitig auftreten läßt. Er will damit andeuten,
daß die Nichte des Landgrafen sozusagen eine Venus-Spiegelung sei und
völlig Tannhäusers Weltbild teile. Daß zum Schluß Elisabeth nicht stirbt,
sondern an Tannhäusers Arm einfach abhaut, bringt das Ganze an die Grenze
des banalsten und dümmsten „Regietheaters“.
Für
diese ungewohnte Atmosphäre hat Gussmann ein praktikables Einheitsbühnenbild
geschaffen. Außer der genannten roten Kugel und dem weißen Hohlwürfel,
sind noch zwei obsessive Elemente auf der Bühne: ein Stutzflügel und massenhaft
Notenblätter. Da die Minnesänger eben das Singen zum Beruf haben, müssen
sie Notenblätter haben, denn auswendig können sie ja ihre Lieder nicht.
Auch die Pilger können den Pilgerchor noch immer nicht, obwohl sie diesen
ja zwischen Thüringen und Rom und zurück genügend hätten proben können!
Einigermaßen dumm! Mehrmals setzt sich der eine oder andere ans Klavier
- meist Tannhäuser oder Wolfram, zum Glück ohne zu spielen - aber auch
der Hirt in seiner Groom-Verkleidung, der das Englischhorn der Schalmei
mit einem Finger auf dem Klavier klimpert. Worauf Venus kommt und ihm
das verbietet. Die Manie des Regisseurs dem Publikum seine Vision einbläuen
zu wollen, geht einem aber bald auf den Wecker, zumal die Kostüme wenig
erfrischend sind.
Die
„wirkliche“ Welt ist von trübsinniger Banalität, schwarz im 1. und 3.
Akt in, weiß im 2. Akt. Die Minnesänger (in weißem Smoking) werfen ihre
Visitenkarten in einem Sekteimer ab, den vier Edelknaben (drei zierliche
Japanerinnen und eine rundliche Französin) einsammeln. Landgraf Hermann
im einen weißem Gehrock scheint von einem noblen Pferdederby zu kommen.
Die Herren des Chors tragen weiße Smokings oder Fräcke, die Damen weiße
Abendkleider mit langen schwarzen Handschuhen. Mühsam! Beim Chor „Heil!
Thüringens Fürsten Heil!“ stehen alle an der Rampe vor dem weißen Würfel-Tor
wie bei einem Feuerwehrfest und scheinen auf den Fotografen zu warten.
Am Ende des Sängerstreits erscheint die Kugel unter dem weißen Würfel
und hebt diesen hoch, so daß dieser langsam schief liegt. Auch der Flügel
wird im allgemeinen Tumult umgeworfen. Solches „Trümmerfeld der Gesellschaft“
ist die Szene des 3. Akts. Angeblich hat Franck EVIN die Beleuchtung der
Produktion besorgt, meist stockdunkel im 1. und 3. Akt, strahlend weiß
im 2. Akt.
Musikalisch
war die Aufführung großartig. In Koproduktion mit dem französischen Rundfunk
spielte das ORCHESTRE PHILHARMONIQUE DE RADIO FRANCE unter seinem Chef
Myung WHUN-CHUNG, der prächtigste Wagner-Romantik ausbreitete. Das Vorspiel
zum 2. Akt war sehr flott, flüssig und übermütig romantisch (ich mußte
an Webers „Oberon“-Ouverture oder Mendelssohns „Italienische“ denken).
In den Bläsertutti, ebenso wie in den großen Chorensembles (CHOEUR DE
RADIO FRANCE, tadellos von Philip WHITE einstudiert), ging es bisweilen
sehr laut zu. Das Orchester übertraf sich aber selbst, besonders in den
subtilen Bläserstellen, sowohl im Holz als auch im Blech.
Die
Sänger waren durchgehend erstklassig, bisweilen überragend. Das Paar Petra
Maria SCHNITZER – Peter SEIFFERT (respektive Elisabeth und Tannhäuser)
erreichte Höhepunkte der Perfektion. Wegen der Nachmittag-Aufführung (in
Frankreich spielen Theater sonntags nie am Abend, sondern in „Matinéen“
am Nachmittag), zeigten beide Sänger anfangs kleine Schärfen oder Intonationsprobleme,
die sich aber nach einigen Minuten lösten. Petra Maria Schnitzer sang
ihre Auftrittsarie „Dich teure Halle find ich wieder“ fast hochdramatisch.
In der Titelrolle hat Peter Seiffert heute kaum Konkurrenz; in den Venusgesängen
und im Sängerkrieg war er hinreißend feurig und sang eine halluzinierte
Romerzählung, daß einem das Gruseln kam.
Die
attraktive Ungarin Ildiko KOMLOSI in schulterfreiem rotem Abendkleid spielte
als Venus die total verdrehte Rolle überzeugend mit prachtvollem Mezzo;
allerdings verstand man kein Wort. Ludovic TÉZIER stellte einen prachtvollen
Wolfram auf die Bühne. Bezüglich Aussprache und Wortdeutlichkeit stellte
er seine deutschsprachigen Kollegen in den Schatten; selbst das für Franzosen
unaussprechbare Wort „Herz“ meisterte er blendend. Da ihn der Regisseur
in die Frust-Rolle des Loosers steckte, lauert er ständig auf Elisabeth.
Das ist natürlich nicht ihm anzulasten. Sein verhaltenes „Lied an den
Abendstem“ war von souveräner Perfektion.
Als
Hermann war Franz-Joseph SELIG ein würdevoller Landesfürst, der menschliche
Akzente der eher biederen Rolle verlieh. Robert BORK war dafür ein grimmiger
Biterolf. In den kleineren Rollen war der isländische Tenor Finnur BJARNASON
(das gibt's auch, nicht nur schwarze Bässe) als Walther rollendeckend
(ohne sein Lied im Sängerkrieg); ebenso wie Nikolai SCHUKOFF als Heinrich
der Schreiber und Nicolas COURJAI als Reinmar von Zweter. Katja DRAGOJEVIC
war trotz blödsinniger Verkleidung ein frisch-übermütiger Hirte.
Die
in Massen herbeigeeilten französischen Wagnerianer tobten vor Begeisterung,
zumal „Tannhäuser“ (ebenso wie „Meistersinger“) hier zu Lande eine Rarität
ist. wig.
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