"PELLÈAS ET MÉLISANDE"- 23. September 2004

Zur Saisoneröffnung der neuen Direktion, hat Gérard Mortier Debussys „Pelléas et Mélisande“ angesetzt. Diese Produktion ist zwar seit 1997 im Repertoire der Garnier-Oper und auch bei den Salzburger Festspielen gezeigt worden, daher ist die Nützlichkeit des Umzugs der Garnier-Produktion in die Bastille Oper nicht offenbar.

Der Großteil der Kompositionen Debussys sind Klavier- oder reine Orchesterwerke, denn er hat sich immer vor dem gesprochenen Wort gehütet. Daß sich Debussy mit dem überschwenglich symbolistischen Text Maeterlincks befreundet hat, ist überraschend. Maeterlincks Theaterstück ist zwar weitgehend sehr poetisch, bisweilen etwas pompös, aber der penetrante Symbolismus und die dramatischen Ungereimtheiten machen den Text schwer zugänglich. Die Minimalisierung der Musik ist auch mit dem Text schwer vereinbar. „Pelléas et Mélisande“ ist deshalb eines der schwierigsten Werke der Opernliteratur und für jeden Regisseur eine Herausforderung.

Robert WILSON (Regie und Bühnenbild) hat beschlossen, die Ökonomie der Musik auch auf die Bühne zu bringen. Das ist zwar interessant, aber äußerst riskant. Es ist bereits erfreulich, daß die Oper nicht in einen Hinterhof eines Sozialbaus oder in eine Fabrikruine transponiert wurde und weder faschistische Uniformen, noch Elendskleidung die Bühne bevölkern. Man kann aber nicht von Handlung und Text abstrahieren und die Oper in ein Vakuum transponieren! Das Resultat ist daher wenig überzeugend, denn die Verständlichkeit der komplexen Handlung leidet darunter sehr. Das völlige Fehlen der obsessiven Symbolik Maeterlincks macht es schwierig zu folgen, selbst wenn man das Werk gut kennt; für jemanden der es das erste Mal hört, muß es völlig unverständlich sein.

Die absolut essentiellen Symbole fehlen: die Fontäne und der Ring, Mélisandes Haare, Golauds Schwert. An der Fontäne beginnt und endet das eigentliche Drama, denn hier verliert Mélisande den Ring, denn hier trifft sie Pelléas zum letzten Mal, denn hier ermordet ihn Golaud. Der Ring, das Symbol der vermeintlichen Untreue Mélisandes, wird nur als Projektion gezeigt. Mélisandes Haare sind das Zentralthema des Werks und dominieren mehrere Szenen (in der Turmszene wickelt sich Pelléas in 10 m Abstand in Mélisandes nicht vorhandenen Haare oder im 4. Akt, reißt Golaud in seiner Eifersucht Mélisande an den ebenso nicht vorhandenen Haaren hin und her). Schließlich das Schwert, das Golaud im 4. Akt holt und auf Pelléas‘ Mord bereits anspielt. Die Grotte (3. Szene des 2.Akts) ist dafür überraschend bildlich, denn in der Felskulisse kann man Tierbilder erahnen. Der Katafalk à la Canova, auf dem Mélisande im 5. Akt gebettet ist, paßt noch am ehesten zu Maeterlincks Symbolik.

In Wilsons Regie sind asiatische Einflüsse unverkennbar: die hieratische steife Gestik der Sänger, Wilsons Marke, ist an vielen Stellen völlig deplaziert: Mélisande kommt meistens rückwärts schreitend auf die Bühne; zu Beginn des 4. Akts mit ausgestreckten, abweisenden Armen wie Lady Macbeth in der Schlafwandel-Szene. Der Hirt ist ein ägyptischer oder persischer Priester (ohne Schafe) und erscheint nur als indonesischer Schatten; die Klageweiber in der letzten Szene könnten balinesische Tempeltänzerinnen sein und sind auch nur Schatten. Die Kostüme von Frida PARMEGGIANI sind sehr widersprüchlich und uneinheitlich, da sie quer durchs historische Kostümfeld laufen: Pelléas in schneeweißem Anzug erinnert an Fitzgeralds Great Gatsby; bei Arkel in einem grauen Kaftan mit langem weißem Bart denkt man an Konfuzius; Mélisande sieht aus wie Catherine Deneuve und liegt im letzten Akt auf dem weißen Katafalk, von dem sie sich, nach Abgang aller anderen Personen, erhebt und die Bühne verläßt; Golaud war in einer undefinierbaren schwarzen Kluft; Yniold trug in einen dunkelroten Pagenanzug mit spanischen Pluderhosen. Die Beleuchtung Wilsons (mit Heinrich BRUNKE) war wie gewohnt stockfinster, bzw. bläulich fahl, unterbrochen durch diverse Projektionen.

Die Aufführung war musikalisch auf ausgezeichnetem Niveau. Sylvain CAMBRELING hat vielleicht noch nicht den Kontakt mit dem ORCHESTER DER OPÉRA, wenngleich die Musiker mit spürbarem Enthusiasmus bei der Sache waren. Die Aufführung war sehr ausgeglichen und die Details der schillernden, traumhaften Musik Debussys bestens ausgefeilt, nur etwas menschliche Wärme fehlte noch. Peter BURIAN hatte den kleinen SEEMANSCHOR gut und diskret einstudiert.

Die Sänger kann man pauschal loben, denn sie waren ausnahmslos hervorragend, vor allem die beiden Titelhelden. Mireille DELUNSCH bringt ihre strahlende Stimme für Mélisande, nicht so „weiß“ wie bei vielen Besetzungen; trotz ihrer immer mehr extremen Rollenwahl (Elsa, Rosalinde, Barock, Traviata usw.) ist sie der Mélisande völlig gewachsen. Daß sie auch eine ausnehmend schöne Frau ist, kommt der Rollengestaltung sehr zugute. Simon KEENLYSIDE (mit perfektem Französisch) als Pelléas hat genau die richtige Stimme des tenoralen Baritons, die diese schwierige Rolle bedarf.

Für José VAN DAM war Golaud kein Rollendebüt, denn er hat die Rolle vermutlich schon in dutzenden anderen Produktionen gesungen. Stimmlich ist er nach wie vor souverän und überzeugend, und er hat sich selbst in dieser Inszenierung zurecht gefunden, wo diese Aktionsfigur des Golaud sehr statisch behandelt wird. Besonderes Loben verdient der junge Sébastien PONSFORD, Solist des Kinderchors der Opéra. Trotz der läppischen Kluft, sang er die schwierige Partie mit überzeugender Professionalität und kindlicher Frische. Beim Schlußvorhang wurde er auch besonders gefeiert.

Ferruccio FURLANETTO als gütiger Arkel lieh seinen prachtvollen basso cantante, um die Botschaft der Menschlichkeit zu überbringen. Außerdem war jedes Wort perfekt verständlich. Dagmar PECKOVA als recht jugendliche Geneviève mußte im 2. Bild den nicht vorhandenen Brief mit warmen Alt lesen. Frédéric CATON gab dem Arzt Profil.

Eine recht erfreuliche Saisoneröffnung; das Publikum des nicht vollen Hauses feierte die Künstler mit großem Beifall. Es ist abzuwarten, ob das Publikum die weitere, sehr eklektische Programmierung der Bastille-Oper bis zum Jahresende durchhalten wird: Messiaen „Saint François“, Janacek „Katia Kabanova“, Strauß „Ariadne auf Naxos“ plus eine Uraufführung einer Art musikalischer Installation. wig.