“Alcina”
hat mit “Ariodante” und “Rinaldo” nicht nur das selbe Jahr der Komposition
gemein, sondern auch die Quelle: die drei Opern Händels wurden für die
Saison 1734/35 für Covent Garden auf Libretti geschrieben, die auf Begebenheiten
aus Ariosts “Orlando furioso” beruhen.
An
der Insel der Zauberin Alcina – muß eine Cousine Circes sein – zerschellen
die Schiffe, die daran vorbei kommen. Die Mannschaften werden in wilde
Tiere, Felsen oder Bäume verwandelt, wenn sie nicht sehr schön sind. Die
“Schönen” werden Alcinas Liebessklaven. Einer davon ist Ruggiero, der
eine perfekte Liebesbeziehung mit Alcina führt. Zu Beginn der Oper sucht
seine Angelobte Bradamante ihren Geliebten, als Mann (Ricciardo) verkleidet
und in Begleitung dessen Lehrers Melisso. Alcinas Schwester Morgana hat
zwar bereits ein Verhältnis mit Oronte, was sie nicht hindert, sich sofort
- in der 1. Szene - den jungen “Ricciardo” anzulachen. Ruggiero ist derart
in Trance, daß er Bradamante überhaupt nicht erkennt, obwohl Melisso ihn
schulmeistert, daß er die Liebe der Ehre vorgezogen habe.
Um
ihn aus der Verzauberung zu lösen, öffnet Melisso ein Tor, und man sieht
Alcina mit zwei nackten Epheben in unzweideutiger Situation in einem Bett.
Ruggiero fällt es wie Schuppen von den Augen, und er versucht von nun
an die Insel zu verlassen, was nicht hindert, daß er Bradamante noch immer
nicht erkennt, die zwischen Rache und Verzweiflung schwankt. Als Ruggiero
Alcina erklärt, daß er jagen gehen will, ist diese völlig verzweifelt
und schwört, sich zu rächen. Bradamante hat sich inzwischen in eine Frau
zurück verwandelt. Morgana ist natürlich enttäuscht, und sie will sich
mit Oronte aussöhnen, wobei sie ziemlich radikale Mittel auch verwendet:
sie beginnt sich einfach auszuziehen und holt sich Oronte ins Bett. Oronte
verrät Alcina die Fluchtpläne Ruggieros und Bradamantes, was zu einem
großen Lamento Alcinas führt, die sich ersticht. Das Zauberschloß Alcinas
geht buchstäblich in die Luft, d.h. die Wände werden aufgezogen.
Diese
passabel konfuse, hormongeschwängerte Handlung hat schließlich nur ein
Minimum an Aktion (das Libretto macht knappe zehn Seiten im Programm),
was Händel nicht hindert, daraus eine mehr als drei Stunden lange Oper
zu machen. Die große Kunst Händels besteht darin, diese minimale Aktion
in eine lange Reihe äußerst kunstvoller Arien zu verpacken. Die meisten
Nummern sind klassische da capo-Arien, durchwegs voll von außergewöhnlichen
technischen Schwierigkeiten, und Anlaß zu Koloratur-Feuerwerken. Es gibt
lediglich ein Terzett, ein vages Duett, und der Chor wird nur wenig verwendet.
Überraschend ist die recht magere Verwendung von Holz- und Blechbläsern,
die meisten Arien sind essentiell von Streichern und Continuo, die zahlreichen
Ariosos oft mit einem Gambensolo begleitet. Nur in der Jagd-Arie Ruggieros
“Verdi prati” mit obligatem Hornsolo wird das Blech wirklich verwendet.
In
der allgemeinen Pariser Händel-Mania (das Théâtre des Champs Elysées programmiert
seit mehreren Jahren einen permanenten Händel-Zyklus mit der Idee, sämtliche
Opern und Oratorien Händels zu spielen, heuer bereits “Serse”, “Semele”
und “Agrippina”, nächste Saison “Belsazar”, “Lotario” und einige andere)
hat die Pariser Oper die Inszenierung von Robert CARSEN von 1999 mit neuer
Besetzung wieder einstudiert (nächstes Saison gibt es hier “Hercules”).
Carsen
hat die phantastisch-mythologische Handlung so interpretiert, daß bei
Aufgang des Vorhangs die Gefangenen Alcinas, mehr oder weniger entkleidet,
als Felsbrocken auf dem Boden herumliegen, auf deren Rücken sich nach
Bedarf die Sänger (Morgana, Bradamante und Melisso) setzen. Morgana, die
Schwester Alcinas, ist hier ihr Stubenmädchen, und der nicht weiter definierte
Oronte ist der Butler des Hauses. Die Kostüme von heute und die neoklassischen
Bühnenbilder des Zauberschlosses stammen von Tobias HOHEISEL, mit Türenfluchten,
die auf einen blühenden Zaubergarten führen. Sehr gelungen war die Beleuchtung
von Jean KALMAN, besonders in der Verzweiflungsszene Alcinas, in der ihr
Schatten groß auf den Hintergrund projiziert wird.
Um
den unglaublichen stimmlichen Schwierigkeiten der Partitur Rechnung zu
tragen, bedarf es erstklassiger Sänger. Die Pariser Oper hat sich nicht
gescheut, nach Fleming-Graham-Dessay-Kuhlman vor fünf Jahren, ein neues
Damenquartett von Stars einzuladen, die auch die schwierigsten Koloraturen
meistern können. Luba ORGONASOVA besitzt die warme volle Stimme, die für
die oft sehr dramatische Rolle der enttäuschten Geliebten paßt. Sie singt
prachtvoll, alle Töne sind wie gestochen. Vesselina KASAROVA hat die träumerische
Ausdruckskraft für den verzauberten Ruggiero, aber auch die Bravour des
Draufgängers für die mörderischen Koloraturen der Jagdarie.
Patrizia
CIOFI in der Soubretten-Rolle der Morgana ist absolut perfekt, wie in
allen Rollen, die die junge Italienerin angegriffen hat: hinreißende Stimmtechnik
und spritzig im Spiel. Vivica GENAUX hat den warmen Mezzosopran und die
flüssige Koloraturtechnik für die Rolle Bradamante-Ricciardo. Nur zu Beginn
war die Stimme etwas schnarrend.
Toby
SPENCE sang seine zwei Tenorarien sehr stilvoll mit perfekter Technik
und spielte den schleicherischen Oronte mit Intelligenz und Geschmack.
Luca PISARONIs warmer Baß war passend für die lehrmeisternde Rolle des
Melisso (einschließlich Kugelschreiber in der Westentasche).
Im
Gegensatz zu 1999, war diesmal nicht Willam Christie mit seinen “Arts
Florissants” im Orchestergraben, denn diese sind im Châtelet bei Rameaus
“Les Palladins” beschäftigt. John NELSON und sein “ENSEMBLE ORCHESTRAL
DE PARIS” zeigten sich völlig auf der Höhe auch Barockmusik zu musizieren
und diese schwierige Partitur stilgemäß zu meistern.
Wer
redet von Sängerkrise? Riesiger Applaus des ausverkauften Hauses. wig.
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