"ALCINA"- 19. Mai 2004

“Alcina” hat mit “Ariodante” und “Rinaldo” nicht nur das selbe Jahr der Komposition gemein, sondern auch die Quelle: die drei Opern Händels wurden für die Saison 1734/35 für Covent Garden auf Libretti geschrieben, die auf Begebenheiten aus Ariosts “Orlando furioso” beruhen.

An der Insel der Zauberin Alcina – muß eine Cousine Circes sein – zerschellen die Schiffe, die daran vorbei kommen. Die Mannschaften werden in wilde Tiere, Felsen oder Bäume verwandelt, wenn sie nicht sehr schön sind. Die “Schönen” werden Alcinas Liebessklaven. Einer davon ist Ruggiero, der eine perfekte Liebesbeziehung mit Alcina führt. Zu Beginn der Oper sucht seine Angelobte Bradamante ihren Geliebten, als Mann (Ricciardo) verkleidet und in Begleitung dessen Lehrers Melisso. Alcinas Schwester Morgana hat zwar bereits ein Verhältnis mit Oronte, was sie nicht hindert, sich sofort - in der 1. Szene - den jungen “Ricciardo” anzulachen. Ruggiero ist derart in Trance, daß er Bradamante überhaupt nicht erkennt, obwohl Melisso ihn schulmeistert, daß er die Liebe der Ehre vorgezogen habe.

Um ihn aus der Verzauberung zu lösen, öffnet Melisso ein Tor, und man sieht Alcina mit zwei nackten Epheben in unzweideutiger Situation in einem Bett. Ruggiero fällt es wie Schuppen von den Augen, und er versucht von nun an die Insel zu verlassen, was nicht hindert, daß er Bradamante noch immer nicht erkennt, die zwischen Rache und Verzweiflung schwankt. Als Ruggiero Alcina erklärt, daß er jagen gehen will, ist diese völlig verzweifelt und schwört, sich zu rächen. Bradamante hat sich inzwischen in eine Frau zurück verwandelt. Morgana ist natürlich enttäuscht, und sie will sich mit Oronte aussöhnen, wobei sie ziemlich radikale Mittel auch verwendet: sie beginnt sich einfach auszuziehen und holt sich Oronte ins Bett. Oronte verrät Alcina die Fluchtpläne Ruggieros und Bradamantes, was zu einem großen Lamento Alcinas führt, die sich ersticht. Das Zauberschloß Alcinas geht buchstäblich in die Luft, d.h. die Wände werden aufgezogen.

Diese passabel konfuse, hormongeschwängerte Handlung hat schließlich nur ein Minimum an Aktion (das Libretto macht knappe zehn Seiten im Programm), was Händel nicht hindert, daraus eine mehr als drei Stunden lange Oper zu machen. Die große Kunst Händels besteht darin, diese minimale Aktion in eine lange Reihe äußerst kunstvoller Arien zu verpacken. Die meisten Nummern sind klassische da capo-Arien, durchwegs voll von außergewöhnlichen technischen Schwierigkeiten, und Anlaß zu Koloratur-Feuerwerken. Es gibt lediglich ein Terzett, ein vages Duett, und der Chor wird nur wenig verwendet. Überraschend ist die recht magere Verwendung von Holz- und Blechbläsern, die meisten Arien sind essentiell von Streichern und Continuo, die zahlreichen Ariosos oft mit einem Gambensolo begleitet. Nur in der Jagd-Arie Ruggieros “Verdi prati” mit obligatem Hornsolo wird das Blech wirklich verwendet.

In der allgemeinen Pariser Händel-Mania (das Théâtre des Champs Elysées programmiert seit mehreren Jahren einen permanenten Händel-Zyklus mit der Idee, sämtliche Opern und Oratorien Händels zu spielen, heuer bereits “Serse”, “Semele” und “Agrippina”, nächste Saison “Belsazar”, “Lotario” und einige andere) hat die Pariser Oper die Inszenierung von Robert CARSEN von 1999 mit neuer Besetzung wieder einstudiert (nächstes Saison gibt es hier “Hercules”).

Carsen hat die phantastisch-mythologische Handlung so interpretiert, daß bei Aufgang des Vorhangs die Gefangenen Alcinas, mehr oder weniger entkleidet, als Felsbrocken auf dem Boden herumliegen, auf deren Rücken sich nach Bedarf die Sänger (Morgana, Bradamante und Melisso) setzen. Morgana, die Schwester Alcinas, ist hier ihr Stubenmädchen, und der nicht weiter definierte Oronte ist der Butler des Hauses. Die Kostüme von heute und die neoklassischen Bühnenbilder des Zauberschlosses stammen von Tobias HOHEISEL, mit Türenfluchten, die auf einen blühenden Zaubergarten führen. Sehr gelungen war die Beleuchtung von Jean KALMAN, besonders in der Verzweiflungsszene Alcinas, in der ihr Schatten groß auf den Hintergrund projiziert wird.

Um den unglaublichen stimmlichen Schwierigkeiten der Partitur Rechnung zu tragen, bedarf es erstklassiger Sänger. Die Pariser Oper hat sich nicht gescheut, nach Fleming-Graham-Dessay-Kuhlman vor fünf Jahren, ein neues Damenquartett von Stars einzuladen, die auch die schwierigsten Koloraturen meistern können. Luba ORGONASOVA besitzt die warme volle Stimme, die für die oft sehr dramatische Rolle der enttäuschten Geliebten paßt. Sie singt prachtvoll, alle Töne sind wie gestochen. Vesselina KASAROVA hat die träumerische Ausdruckskraft für den verzauberten Ruggiero, aber auch die Bravour des Draufgängers für die mörderischen Koloraturen der Jagdarie.

Patrizia CIOFI in der Soubretten-Rolle der Morgana ist absolut perfekt, wie in allen Rollen, die die junge Italienerin angegriffen hat: hinreißende Stimmtechnik und spritzig im Spiel. Vivica GENAUX hat den warmen Mezzosopran und die flüssige Koloraturtechnik für die Rolle Bradamante-Ricciardo. Nur zu Beginn war die Stimme etwas schnarrend.

Toby SPENCE sang seine zwei Tenorarien sehr stilvoll mit perfekter Technik und spielte den schleicherischen Oronte mit Intelligenz und Geschmack. Luca PISARONIs warmer Baß war passend für die lehrmeisternde Rolle des Melisso (einschließlich Kugelschreiber in der Westentasche).

Im Gegensatz zu 1999, war diesmal nicht Willam Christie mit seinen “Arts Florissants” im Orchestergraben, denn diese sind im Châtelet bei Rameaus “Les Palladins” beschäftigt. John NELSON und sein “ENSEMBLE ORCHESTRAL DE PARIS” zeigten sich völlig auf der Höhe auch Barockmusik zu musizieren und diese schwierige Partitur stilgemäß zu meistern.

Wer redet von Sängerkrise? Riesiger Applaus des ausverkauften Hauses. wig.