René
JACOBS und sein CONCERTO KÖLN schlossen vor drei Jahren ihren Mozart-Zyklus
mit “Le Nozze di Figaro”. Diese brillante Produktion wurde mit teilweiser
neuer Besetzung wieder aufgenommen. Nach über 50 Jahren in Opernhäusern
glaubt man, daß von einer “Figaro”-Inszenierung kaum etwas Neues zu erwarten
sei.
Falsch!
Denn Jean-Louis MARTINOTY führte Regie, sicher heute einer der besten
und klügsten Opern-Regisseure. Die blitzgescheiten, spritzigen Ideen fliegen
nur so! Gemälde spanischer, französischer oder holländischer Meister des
16. und 17. Jahrhunderts, blendend ausgewählt und herrlich schön, plus
ein paar Stühle, ein Betstuhl und durchsichtige Blumengemälde als Hecken
sowie eine Schiebtruhe im Schlußakt waren die Bühnenbilder von Hans SCHAVERNOCH.
Ganz und gar unmodern! Abgesehen von den vielen Möglichkeiten für Szenenwechsel,
bieten die Bilder Verstecke, hier besonders aktuell. Die prachtvollen
Kostüme von Sylvie de SEGONZAC sind von berückender einfacher Eleganz.
Jean KALMAN leuchtet genau die Ecken aus, die gebraucht werden. Eine Augenweide!
Für
Martinoty sind “Le Nozze di Figaro” mehr als eine subversive “Libertinage”.
Nicht nur Figaro steht mit dem Grafen auf Kriegsfuß, sondern praktisch
das ganze Schloß. Die Contessa wird deshalb die ZentraIfigur und ist kein
armes Nockerl. Sie läßt sich die Seitensprünge ihres Gatten nicht ohne
weiters gefallen. Sie ist nicht bei ihrem ersten Abenteuer, sondern Rosina,
eine aufgeklärte Bürgerliche, die ja bereits ihrem Vormund Bartolo mit
dem Grafen entsprungen ist. Sie bildet sich nichts auf ihren Adel ein,
ist einfach, versteht sich bestens mit ihrer Zofe Susanna, ist sehr sauer
auf ihren Göttergatten und hegt milde Rachegedanken. Zur Einleitung des
2. Akts tritt Susanna mit dem Frühstück ein. Beim Aufgehen des Vorhangs
stehen sich die beiden Frauen gegenüber, und Suzanna hat sichtlich eben
erzählt, daß der Graf sie verführen und mit ihr das eben abgeschaffte
“Jus primae noctis” wieder einführen will. Die Gräfin ist wütend, schlägt
ihr das Silberblech aus der Hand und schmeißt die Tasse in eine Ecke.
Sie stürzt weinend auf den Betschemel und singt “Porgi d'amor”.
Im
3. Akt singt sie “Dove sono” mit einer Sanduhr in der Hand. Dies ist nicht
der einzige Seitenblick auf eine gewisse Marschallin. Sie ist auch nicht
unempfindlich für Cherubinos Liebesschwüre. Wenn dieser “Voi che sapete”
singt, begleitet sie ihn mit geschlossenen Augen am Spinett und schmiegt
sich langsam an ihn. Figaro donnert “Se vuoi ballare” der Grafenperücke
entgegen. Der Graf zerdrückt zu “Vedro, mentr'io sospiro” wütend ein Glas
in der Hand und verletzt sich dabei. Marcellina und Basilio sind nicht
lächerliche platzfüllende Komparsen, ihre beiden Arien im 4. Akt sind
natürlich geöffnet, was ihnen ganz andere Substanz gibt. Interessanterweise
wurden diesmal einige ungewöhnliche Verzierungen in den Arien der Damen
eingeführt, z. B. im Rondo der 2. Arie der Gräfin oder der Rosenarie.
Die
Besetzung für diese höchst witzige und einfaIlsreiche Regie war von ausgesuchter
Qualität. Contessa war diesmal Annette DASCH. Die siebenundzwanzigjährige
Deutsche ist ein große, bildschöne Frau, begnadet mit einer göttlichen
Stimme. Anfangs war sie etwas nervös, denn sie machte ihr Pariser Debüt
mit erwähntem Ausbruch. Sie sang und spielte sich aber rasch frei und
war einfach hinreißend: eine prachtvolle Stimme, kluges, schalkhaftes
Spiel und eine dominierende Figur. Beim triumphalen Solovorhang am Schluß
war sie derartig überwältigt, daß sie fast in Tränen war. Man hat Mühe
zu verstehen, weshalb der Graf sich von ihr abwendet. Pietro SPAGNOLI
ist ein sehr gut aussehender Graf, besonders im roten Jagdrock, ein hormontriefender
Libertiner, ein Zwillingsbruder von Don Giovanni, mit männlicher Samtstimme,
die aIle Frauen des Schlosses närrisch macht.
Sein
Gegenspieler war diesmal Luca PISARONI, ein aufmüpfiger und zorniger Figaro.
Hinter “Se vuol baIlare” klingt bereits die Carmagnole. Auch er ist ein
ausnehmend fescher großer Kerl, so daß sich Susanna bereits im 1. Bild
auf ihn wirft und ihn mit Küssen überdeckt. Rosemary JOSHUA singt und
spielt die Susanna mit Leichtigkeit oder Schwermut und viel Temperament.
Sie war eine witzige, wunderschön singende Drahtzieherin in dieser Komödie
der Irrungen.
Mit
Angelika KIRCHSCHLAGER hatten wir wohl den hübschesten Cherubino auf der
Bühne, nicht zu burschikos, der unter der eisernen Rüstung, die Figaro
ihm zu Ende des 1. Akts aufbürdet, buchstäblich zusammenbrach. Sie lieh
ihren wunderbaren Mezzo dem überdrehten Teenager, der alles liebenswert
falsch macht, weshalb die entzückende Barbarina von Pauline COURTIN sich
wohl in ihn verknallt hat. Sie ist meist recht zerrauft und sichtlich
einem Abenteuer nicht abhold. Die beiden sangen auch die Solochoristen
im 3. Akt.
Alessandro
SVAB als ihr Onkel Antonio war auch nicht der vertrottelte Gärtner, sondern
hat auch lichte Augenblicke, auch wenn er oft zur Flasche greift. . So
hilft er zu Beginn des 3. Akts zu des Grafen “Hai già vinta la causa!”
die nächtliche Strategie zu planen, die er dann Figaro prompt verrät.
Antonio ABETE als Bartolo ist kein verknöcherter alter Trottel, sondern
ein Herr um die 60, der über seine unerwartet bekannt gewordene Vaterschaft
nicht sonderlich erbaut ist, der aber schließlich seine ehemahlige Haushälterin
heiratet, die er ja schon lange biblisch kennt. Zumal Marcellina diesmal
eine knusprige Vierzigerin ist und keine alte Hexe. Sophie PONDJICLIS
ist viel jünger und spielte in rot-weiß gestreiftem Kleid die lebenslustige
Marcellina blendend. Sie sang, durchaus passend, ihre Romanze “Il capro
e la capretta” etwas anzüglich vor versammelter Picknick-Gesellschaft.
Enrico
FACINI war ein schmieriger Abate Basilio mit Stimme, sehr treffend in
seiner resignierten Arie von der Eselshaut. Serge GOUBIOUD, ein Barock-Countertenor,
war ein ausgezeichneter Don Curzio, der ständig seine Perücke verlor.
Das
Concerto Köln, mit barocken Streichern und Bläsern bestückt, ist ein subtil
musizierendes, fabelhaft homogenes Ensemble. René Jacobs ist der große
Zeremonienmeister dieser festlichen Augen- und Ohrenweide. Er dirigiert
ohne Stab und ohne große Gestik. Alles funktioniert mit einem kleinen
Fingerzeig, einem Blick. Seine Tempi sind durchwegs sehr flott, bisweilen
rasant (Ouvertüre), immer von bestechender Präzision. Der CHOEUR DU THÈÂTRE
DES CHAMPS ELYSÉES unter der Leitung von Irène KUDELA war von ausgesuchter
Präzision. Besonders verdienter Applaus wurde dem ungewöhnlich brillanten
brasilianischen Cembalisten Nicolau die FIGUEIREDO zu Teil. Trotz der
Ôffnungen dauert der Abend mit Pause nicht ganz vier Stunden.
Wozu
soll man nach SaIzburg fahren, um zu sündteuren Preisen mäßige Aufführungen
zu sehen? Wie vor drei Jahren tobte das Haus. Ein Triumph, wie selten
erlebt!
ARTE
hatte die gute Idee am 21. 06. zur “Fête de la Musique” die Vorstellung
europa-weit direkt zu übertragen. wig.
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