"LE NOZZE DI FIGARO"- 15. Juni 2004

René JACOBS und sein CONCERTO KÖLN schlossen vor drei Jahren ihren Mozart-Zyklus mit “Le Nozze di Figaro”. Diese brillante Produktion wurde mit teilweiser neuer Besetzung wieder aufgenommen. Nach über 50 Jahren in Opernhäusern glaubt man, daß von einer “Figaro”-Inszenierung kaum etwas Neues zu erwarten sei.

Falsch! Denn Jean-Louis MARTINOTY führte Regie, sicher heute einer der besten und klügsten Opern-Regisseure. Die blitzgescheiten, spritzigen Ideen fliegen nur so! Gemälde spanischer, französischer oder holländischer Meister des 16. und 17. Jahrhunderts, blendend ausgewählt und herrlich schön, plus ein paar Stühle, ein Betstuhl und durchsichtige Blumengemälde als Hecken sowie eine Schiebtruhe im Schlußakt waren die Bühnenbilder von Hans SCHAVERNOCH. Ganz und gar unmodern! Abgesehen von den vielen Möglichkeiten für Szenenwechsel, bieten die Bilder Verstecke, hier besonders aktuell. Die prachtvollen Kostüme von Sylvie de SEGONZAC sind von berückender einfacher Eleganz. Jean KALMAN leuchtet genau die Ecken aus, die gebraucht werden. Eine Augenweide!

Für Martinoty sind “Le Nozze di Figaro” mehr als eine subversive “Libertinage”. Nicht nur Figaro steht mit dem Grafen auf Kriegsfuß, sondern praktisch das ganze Schloß. Die Contessa wird deshalb die ZentraIfigur und ist kein armes Nockerl. Sie läßt sich die Seitensprünge ihres Gatten nicht ohne weiters gefallen. Sie ist nicht bei ihrem ersten Abenteuer, sondern Rosina, eine aufgeklärte Bürgerliche, die ja bereits ihrem Vormund Bartolo mit dem Grafen entsprungen ist. Sie bildet sich nichts auf ihren Adel ein, ist einfach, versteht sich bestens mit ihrer Zofe Susanna, ist sehr sauer auf ihren Göttergatten und hegt milde Rachegedanken. Zur Einleitung des 2. Akts tritt Susanna mit dem Frühstück ein. Beim Aufgehen des Vorhangs stehen sich die beiden Frauen gegenüber, und Suzanna hat sichtlich eben erzählt, daß der Graf sie verführen und mit ihr das eben abgeschaffte “Jus primae noctis” wieder einführen will. Die Gräfin ist wütend, schlägt ihr das Silberblech aus der Hand und schmeißt die Tasse in eine Ecke. Sie stürzt weinend auf den Betschemel und singt “Porgi d'amor”.

Im 3. Akt singt sie “Dove sono” mit einer Sanduhr in der Hand. Dies ist nicht der einzige Seitenblick auf eine gewisse Marschallin. Sie ist auch nicht unempfindlich für Cherubinos Liebesschwüre. Wenn dieser “Voi che sapete” singt, begleitet sie ihn mit geschlossenen Augen am Spinett und schmiegt sich langsam an ihn. Figaro donnert “Se vuoi ballare” der Grafenperücke entgegen. Der Graf zerdrückt zu “Vedro, mentr'io sospiro” wütend ein Glas in der Hand und verletzt sich dabei. Marcellina und Basilio sind nicht lächerliche platzfüllende Komparsen, ihre beiden Arien im 4. Akt sind natürlich geöffnet, was ihnen ganz andere Substanz gibt. Interessanterweise wurden diesmal einige ungewöhnliche Verzierungen in den Arien der Damen eingeführt, z. B. im Rondo der 2. Arie der Gräfin oder der Rosenarie.

Die Besetzung für diese höchst witzige und einfaIlsreiche Regie war von ausgesuchter Qualität. Contessa war diesmal Annette DASCH. Die siebenundzwanzigjährige Deutsche ist ein große, bildschöne Frau, begnadet mit einer göttlichen Stimme. Anfangs war sie etwas nervös, denn sie machte ihr Pariser Debüt mit erwähntem Ausbruch. Sie sang und spielte sich aber rasch frei und war einfach hinreißend: eine prachtvolle Stimme, kluges, schalkhaftes Spiel und eine dominierende Figur. Beim triumphalen Solovorhang am Schluß war sie derartig überwältigt, daß sie fast in Tränen war. Man hat Mühe zu verstehen, weshalb der Graf sich von ihr abwendet. Pietro SPAGNOLI ist ein sehr gut aussehender Graf, besonders im roten Jagdrock, ein hormontriefender Libertiner, ein Zwillingsbruder von Don Giovanni, mit männlicher Samtstimme, die aIle Frauen des Schlosses närrisch macht.

Sein Gegenspieler war diesmal Luca PISARONI, ein aufmüpfiger und zorniger Figaro. Hinter “Se vuol baIlare” klingt bereits die Carmagnole. Auch er ist ein ausnehmend fescher großer Kerl, so daß sich Susanna bereits im 1. Bild auf ihn wirft und ihn mit Küssen überdeckt. Rosemary JOSHUA singt und spielt die Susanna mit Leichtigkeit oder Schwermut und viel Temperament. Sie war eine witzige, wunderschön singende Drahtzieherin in dieser Komödie der Irrungen.

Mit Angelika KIRCHSCHLAGER hatten wir wohl den hübschesten Cherubino auf der Bühne, nicht zu burschikos, der unter der eisernen Rüstung, die Figaro ihm zu Ende des 1. Akts aufbürdet, buchstäblich zusammenbrach. Sie lieh ihren wunderbaren Mezzo dem überdrehten Teenager, der alles liebenswert falsch macht, weshalb die entzückende Barbarina von Pauline COURTIN sich wohl in ihn verknallt hat. Sie ist meist recht zerrauft und sichtlich einem Abenteuer nicht abhold. Die beiden sangen auch die Solochoristen im 3. Akt.

Alessandro SVAB als ihr Onkel Antonio war auch nicht der vertrottelte Gärtner, sondern hat auch lichte Augenblicke, auch wenn er oft zur Flasche greift. . So hilft er zu Beginn des 3. Akts zu des Grafen “Hai già vinta la causa!” die nächtliche Strategie zu planen, die er dann Figaro prompt verrät. Antonio ABETE als Bartolo ist kein verknöcherter alter Trottel, sondern ein Herr um die 60, der über seine unerwartet bekannt gewordene Vaterschaft nicht sonderlich erbaut ist, der aber schließlich seine ehemahlige Haushälterin heiratet, die er ja schon lange biblisch kennt. Zumal Marcellina diesmal eine knusprige Vierzigerin ist und keine alte Hexe. Sophie PONDJICLIS ist viel jünger und spielte in rot-weiß gestreiftem Kleid die lebenslustige Marcellina blendend. Sie sang, durchaus passend, ihre Romanze “Il capro e la capretta” etwas anzüglich vor versammelter Picknick-Gesellschaft.

Enrico FACINI war ein schmieriger Abate Basilio mit Stimme, sehr treffend in seiner resignierten Arie von der Eselshaut. Serge GOUBIOUD, ein Barock-Countertenor, war ein ausgezeichneter Don Curzio, der ständig seine Perücke verlor.

Das Concerto Köln, mit barocken Streichern und Bläsern bestückt, ist ein subtil musizierendes, fabelhaft homogenes Ensemble. René Jacobs ist der große Zeremonienmeister dieser festlichen Augen- und Ohrenweide. Er dirigiert ohne Stab und ohne große Gestik. Alles funktioniert mit einem kleinen Fingerzeig, einem Blick. Seine Tempi sind durchwegs sehr flott, bisweilen rasant (Ouvertüre), immer von bestechender Präzision. Der CHOEUR DU THÈÂTRE DES CHAMPS ELYSÉES unter der Leitung von Irène KUDELA war von ausgesuchter Präzision. Besonders verdienter Applaus wurde dem ungewöhnlich brillanten brasilianischen Cembalisten Nicolau die FIGUEIREDO zu Teil. Trotz der Ôffnungen dauert der Abend mit Pause nicht ganz vier Stunden.

Wozu soll man nach SaIzburg fahren, um zu sündteuren Preisen mäßige Aufführungen zu sehen? Wie vor drei Jahren tobte das Haus. Ein Triumph, wie selten erlebt!

ARTE hatte die gute Idee am 21. 06. zur “Fête de la Musique” die Vorstellung europa-weit direkt zu übertragen. wig.