Alexander
Ostrowskis „Das Gewitter“ (1860) ist ein Vorläufer der psychologisch-sozialkritischen
Literatur des Expressionismus und war in Deutschland, Nord- und Osteuropa
am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts sehr verbreitet. In den
Sittenbilder von Ibsen, Hauptmann, Tschechow, Gogol bis Wedekind und der
alpischen Heimatliteratur Anzengruber und Ganghofer, zeichnen diese Theaterstücke
und Romane eine in Gewohnheit und gesellschaftlichem Zwang eingepferchte
Gesellschaft von Spießbürgern, Kaufleuten und Großbauern, deren verlogene
Lebensart zum Himmel schreit. Der Expressionismus jedoch enthält die Gefahr,
daß ein Regisseur in larmoyanten Kitsch verfällt, zumal der Verismus ja
nicht weit ist (Janacek war ein großer Bewunderer Puccinis). Es soll unterstrichen
werden, daß es sich hier nicht um klassenkämpferische, politische Literatur
handelt, sondern um eine Anklage der kleinbürgerlichen Spießer-Gesellschaft,
die nur auf „Was werden die Leute sagen?“ achtet. Nicht Proletarier, Kulaken
oder Muschiks sind die Akteure, sondern recht wohlhabende Bürger, Großbauern
und Kaufleute.
Dieser
Punkt ist wichtig, denn genau das haben Christoph MARTHALER und seine
Mitarbeiterinnen Anna VIEBROCK (Bild und Kostüme) und Stefanie CARP (Dramaturgie)
nicht begriffen – oder wollten es nicht begreifen. Marthaler ist ja als
Schweizer “Bürgerschreck“ bekannt und scheint sich um die Aussage eines
Werks überhaupt nicht zu kümmern. Leider kann sich Janacek nicht mehr
gegen diese präpotente Frechheit wehren.
Denn
die 1998 in der Salzburger Felsenreitschule kreierte Produktion (damals
bereits im Fernsehen übertragen, nach „Auftritten“ in Spanien und Toulouse
nun auch in Paris als „Neuinszenierung“ gezeigt) ist wohl die größte Kalamität,
die zu sehen mir gegeben war – und das nach über fünfzig Jahren aktiven
Opernbesuchs. Denn hier wurde so ziemlich alles falsch gemacht und gegen
das Werk inszeniert, sowohl musikalisch, als auch inhaltlich. Die Proletarisierung
ist durch die Transposition der Handlung in einen schäbigen Hinterhof
eines vergammelten Sozialwohnbaus aus der düstersten Ulbricht-Zeit gegeben,
mit dreckigen Wänden, an denen der Putz abblättert und Blick auf das offene
Schlafzimmer der Kabanicha (mit Fernseher aus einem VEB, sowie entsprechendem
Mobiliar und Bett, auf dem Kabanicha und Dikoi bumsen – heute ja sehr
“in“). Ein schwarzes Monstrum von Schrank thront an der rechten Wand (im
Hof!) und dient einerseits als Wodka Reserve für die weitgehend dem Suff
verfallenen Familie und anderseits als Tür für verschiedene Ab- und Auftritte.
Wenn Kudrjas zu Beginn der Oper im Hof die Schönheit der Natur und der
Wolga besingt, weiß man bereits, daß da was schief liegt.
Das
geht so für fast zwei Stunden bis zum grotesken Selbstmord Katias in der
Hoffontäne. Dazwischen werden abgeleierte Trivialitäten des „modernen“
DDR-Theaters der fünfziger Jahre verkauft: die Verfremdung und Ablehnung
Katias wird dadurch gezeigt, daß während ihres halluzinierenden Monologs
alle anderen mit dem Gesicht zur Wand stehen. Zwei unnötige Figuren sind
auch noch zusätzlich eingeflochten: eine nicht weiter auffallende Frau
(Caroline Bibas) und ein Blinder (Ulrich Voß), der in einem der acht (!!)
Mistkübel-cum-Aschenbecher herumstiert, eine tote Ratte produziert und
zu Ende des 2. Akts tobend herumläuft, grölend mit Sesseln herum wirft
und die Bewohner des Wohnblocks anpöbelt. Ein Windstoß fegt zahlreiche
Plastiksäcke in den Hof. Bisweilen beginnt einer der Bewohner im 1. Stock
auf einer Geige zu spielen – zum Glück hinter verschlossenen Fenstern.
Die Kostüme schwankten zwischen banal und häßlich.
Die
Sache ist besonders bestürzend, da es eine sehr schöne Inszenierung von
„Kátia Kabanová“ von Götz Friedrich gab. Es war eine der beiden Produktionen,
die aus dem Palais Garnier Anfang der neunziger Jahre in die Bastille
transferiert wurden. Diese Produktion zeichnete sich durch ihre unaufdringliche
Diskretion aus und wurde mehrmals wieder aufgenommen.
Auch
musikalisch ließ die Aufführung Wünsche offen. Sylvain CAMBRELING hat
offenbar zu der so spezifisch tschechischen Musik Janaceks nur beschränkten
Zugang. Zwar war das subtile Vorspiel gut gestaltet, aber bald hielt er
an vielen Stellen Orchesterlärm für Ausdruck, so daß die Sänger – vor
allem die Tenöre – total überdeckt wurden.
Der
Höhepunkt und Lichtblick des Abends war ohne Zweifel die absolut hinreißende
Darstellung der Titelfigur durch Angela DENOKE. Die Anti-Heldin gegen
die spießbürgerliche Landbourgeoisie ist eine psychologisch äußerst schwierige
Rolle, stimmlich und darstellerisch sehr aufreibend, aber gleichzeitig
auch sehr lyrisch. Die junge Hamburgerin stellte mit naiver Frische sowohl
die Leichtigkeit und Unbekümmertheit des jungen Mädchens in der Erzählung
des Traums, in dem sie fliegen will und den Verführer raunen hört, als
auch im subtilen Liebesduett mit Boris im 3. Akt mit inniger Bestimmtheit
dar. Auch die halluzinierenden Ausbrüche, die sie an die Grenzen des psychischen
Zusammenbruchs bringen, waren ungeheuer eindrucksvoll und erschütternd.
Ihre
Gegenspielerin Kabanicha war Jane HENSCHEL, die der Haustyrannin eine
etwas zu biedere Darstellung gab – wohl vom Regisseur gewollt. Stimmlich
völlig überzeugend, fehlte hier die absolute Schlechtigkeit der Rolle.
Christoph HORNBERGER spielte als Sohn Tichon treffend den von der Mutter
unterdrückten Schwächling, stimmlich passend, wenngleich bisweilen vom
Orchester überrollt. David KUEBLER war Boris, der Geliebte Kátias. Seine
Gestaltung der Rolle war sehr gezügelt, im Gegensatz zu dem unnützen Getue
auf der Bühne. Als einziger Tenor hielt er sich auch über die Orchesterwogen
tapfer.
Roland
BRACHT war treffend als tobender, alkoholisierter Dikoi, Boris‘ Onkel.
Auch der ausgezeichnete Toby SPENCE als Dorflehrer Kudrjas, der Intellektuelle
des Nestes, hatte mit der Orchestergewalt zu kämpfen. Hier erstmals in
einer ersten Charakterrolle zu sehen, lieh er seinen angenehmen und ausdrucksvollen
Tenor und spielte auch bestens. Seine Geliebte Varvara war Dagmar PECKOVÁ
in einem häßlichen, viel zu engen blau-braunen Kleid. Sie war voll froher
Einfachheit, sang entzückend und spielte die recht geriebene Unschuld
von Lande ausgezeichnet.
Als
Kuligin mußte Frédéric CATON mit seinem Freund Kudrjas Turnübungen machen,
um Dikoi die Funktion des Blitzableiters zu erklären (für diesen Humbug
wurde sogar ein Choreograph mit Thomas STACHE bemüht). Als Glacha und
Feklucha waren Ulrika PRECHT und Tracy SMITH-BESSETTE rollendeckend. Arme
Sänger! Dies ist nun die dritte Produktion, die bei weitem nicht das Haus
gefüllt hat. Es ist zu befürchten, daß mit weiteren populären „Kassenreißern“
wie Poulencs „Dialogue des Carmélites“, Händels „Herkules“ oder Janaceks
„Aus einem Totenhaus“ ein Defizit von katastrophales Ausmaßen erwirtschaftet
wird, das der, bei Politikern nicht besonders beliebten, Opéra nicht sonderlich
nützlich sein wird. wig.
|