Für
die nun alljährliche Uraufführung in der Bastille-Oper hat der scheidende
Direktor Hugues Gall – er geht im Juli in Pension - nicht das einfachste
Werk gewählt. Das “Musiktheater” in vier Teilen “L’Espace dernier” (Der
letzte Raum) des jungen deutschen Komponisten Matthias Pintscher (geb.
1971) ist schwer zu beschreiben und zweifelsohne eine der ungewöhnlichsten
Partituren seit langer Zeit. Es gibt sicher Leute, die das als “Mache”
abtun werden, aber das wäre viel zu einfach. Es ist schwer ein Theater
ohne Handlung zu beschreiben. Die untermalende Musik ist nie aggressiv,
nie schockierend, bisweilen sogar “verlockend”, oder traumhaft, wenn man
so sagen kann.
Ohne
jegliche dramatische Handlung und nur mit symbolischen Figuren - zwei
Sprecher (Frau und Mann), drei Soprane (dramatisch, hoch, lyrisch), Mezzosopran,
hoher spinto Tenor, Charakterbass - ist dieses Werk als ein Hybrid zwischen
Oratorium, Melodrama und Zeremonial zu bezeichnen.
Das
französische “Libretto” des Komponisten besteht ausschließlich auf ausgewählten
Texten des französischen Dichters Arthur Rimbaud und Briefen seiner Schwestern
Vitalie und Isabelle. Pintscher unterhält seit vielen Jahren zu Rimbaud
ein ganz besonderes Verhältnis, denn er hat bereits mehrere Werke auf
dessen Texte komponiert. Die vierteilige “Handlung” ist in eine poetische,
phantastische, aber auch hoffnungslose Atmosphäre getaucht und “spielt”
essentiell im “Horn Afrikas” (Harrar), wo Rimbaud allen möglichen Beschäftigungen
– einschließlich Waffen- und Drogenschmuggel – nachging.
Während
der ganzen hundertminütigen Vorstellung dreht und schlängelt eine sich
drehende große Wand über die Bühne. Ein zweites kleines Ensemble spielt
rechts im halben Hintergrund auf einer Estrade. Im 1. Teil, “Pourquoi
l’azur et l’espace insondable?” (Weshalb [sind] der blaue Himmel und der
Raum unergründlich?) spricht der Mann einen Text - Rimbauds Diener Djani
zugeteilt - während die Sängerinnen unter einem Bläserchoral auftreten
und der Chor in “Sphärenklängen” singt, liest die Frau (Streicher glissandi)
einen Brief von Isabelle über die letzten Stunden Rimbauds. Sie faltet
aus dem Brief ein Papierschiffchen, das sie auf den Souffleurkasten stellt.
Es folgt eine “déchirure de son” (Tonriß), eine Tonkaskade in Form eines
großen Orchesterclusters, während Projektionen von Rimbaud- Texten (ein
“Wortsturm”) auf die genannte, sich drehende und schlängelnde Wand projiziert
werden.
Nach
einem auf drei Celli und einen Kontrabaß beschränktem orchestralen Zwischenspiel,
folgt der 2. Teil, genannt “sur DEPART” (über Aufbruch). Die Frau (Vitalie)
spricht, während der Chor in Form einer “akustischen Wand” wispert. Die
Frau und der Mezzo scheinen auf der Schlangenwand zu schreiben, was wieder
Projektionen von Rimbaud- Texten ergibt, gleichzeitig mit Schattenspielen
auf dem Vorhang eines Kastenbettes (u.a. zwei ringende Männer – Anspielung
auf die stürmische Beziehung mit Verlaine?). Während eines weiteren Cello-Kontrabaß
Interludiums werden fraktale Figuren auf den Szenenvorhang projiziert,
die, wie sich später herausstellt, einen Käfig darstellen, halb Stiege,
halb Gefängnis.
Es
folgt der 3. Teil, wo der spinto Tenor - unter “konvulsiven, grotesken,
diabolischen” Gesten - Texte aus “Une Saison en enfer”, Rimbauds emblematischen
und berühmtesten Text, singt. Der hühnenhafte Baß singt mit dem kleinen
Tenor im Duett, letzter wiederholt “De profundis, Domine …”. Alle sind
schwarz gekleidet, mehrere Paare beider Geschlechter sind in kompromittierenden
Stellungen. Die drei Sängerinnen singen ein Terzett: “C’est l’enfer” ,
klettern in den Stiegen-Käfig, der sich auf Drehbühne nach links verschiebt
und reißen sich die Kleider vom Leib, während sie die Jungfrau Maria anrufen.
Ein 3. Cello-Kontrabaß Zwischenspiel leitet in den 4. Teil über, benannt
“Départ II”, eine Spiegelung des 2. Teils und Zusammenfassung des Ganzen,
denn die Texte sind aus den drei früheren Teilen. Sprecher und Sprecherin
sind alleine, der Tenor kommt und seufzt in oranger Beleuchtung. Nach
einer langen Tirade schreit er mehrmals wieder “De profundis Domine”.
Der Stiegen-Käfig erscheint wieder und fährt langsam über die Bühne. Der
Sprecher verfolgt mit einem orentierbaren Spiegel die Sprecherin, die
das Papierschiffchen nimmt und abgeht. Ein gelber Luftballon steigt aus
der Versenkung und wird von dem Spiegel auf die Schlangenwand projiziert.
Vorhang!
Zehn
Tage nach der Aufführung gab es eine Übertragung auf France-Musique. Ich
habe mir die Aufnahme - mit dem Text in der Hand - nochmals angehört.
Bereits der Text Rimbauds gehört zum Schwierigsten der französischen Literatur.
Etwa wie wenn man ein “Musiktheater” auf Texte Trakls komponierte. Die
nur hundertminütige Vorstellung ist anstrengend, sehr anstrengend, denn
sie verlangt die totale Aufmerksamkeit des Zuschauers und –hörers. Man
fragt sich, ob das die Zukunft der Musik und des “Musiktheaters” ist.
Man
kann die Künstler, die diese sehr schwierige Musik für nur sechs Aufführungen
einstudiert haben, nur bewundern. Geleitet von Kwamé RYAN bot das ORCHESTRE
DE L‘OPERA eine vorzügliche Leistung – soweit man das überhaupt beurteilen
kann - ebenso wie das Seitenensemble auf der Bühne unter Alejo PEREZ.
Ganz besonderes Lob verdient Laurence EQUILBEYs Chor ACCENTUS, den zwei
Chorleiter, Denis COMTET und Nicolas KRÜGER einstudierten.
Die
sechs Sänger sind alle pauschal zu loben, denn alle meisterten die bisweilen
mörderischen Intervallsprünge mit Bravour: Jeanne-Michèle CHARBONNET,
Elisabeth KEUSCH, Iride MARTINEZ (respektive dramatischer, hoher, lyrischer
Sopran), Klara CSORDAS (Mezzosopran), Gidon SAKS (Charakterbaß) und der
umwerfende Graham CLARK (spinto Tenor). Die beiden Sprecher waren in besten
Händen bei Anne BENNENT und Jean SASPORTES, dem einzigen Franzosen in
der Besetzung!
Das
schwarze Schlangenbühnenbild stammte vom Regisseur Michael SIMON, der
auch für die - meist spärliche - Beleuchtung sorgte. Er führte die Sänger
und den praktisch ständig präsenten Chor durch das Dickicht der “Handlung”
und Partitur. Anna EIERMANN besorgte die Kostüme, die sich für die Damen
auf weiße Blusen und Faltenröcke, für die Herren auf weiße Kaftane beschränkten
(außer im 3. Teil, wo alle in schwarz sind). Sehr wichtig sind die Plastiken
und gelungenen Videos von Dominik RINNHOFER.
Das
Publikum war zwar etwas befremdet, spendete aber trotzdem den verdienstvollen
Künstler und dem jungen Komponisten stürmischen Beifall. wig.
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