"L'ESPACE DERNIER"- 9. März 2004 (Uraufführung)

Für die nun alljährliche Uraufführung in der Bastille-Oper hat der scheidende Direktor Hugues Gall – er geht im Juli in Pension - nicht das einfachste Werk gewählt. Das “Musiktheater” in vier Teilen “L’Espace dernier” (Der letzte Raum) des jungen deutschen Komponisten Matthias Pintscher (geb. 1971) ist schwer zu beschreiben und zweifelsohne eine der ungewöhnlichsten Partituren seit langer Zeit. Es gibt sicher Leute, die das als “Mache” abtun werden, aber das wäre viel zu einfach. Es ist schwer ein Theater ohne Handlung zu beschreiben. Die untermalende Musik ist nie aggressiv, nie schockierend, bisweilen sogar “verlockend”, oder traumhaft, wenn man so sagen kann.

Ohne jegliche dramatische Handlung und nur mit symbolischen Figuren - zwei Sprecher (Frau und Mann), drei Soprane (dramatisch, hoch, lyrisch), Mezzosopran, hoher spinto Tenor, Charakterbass - ist dieses Werk als ein Hybrid zwischen Oratorium, Melodrama und Zeremonial zu bezeichnen.

Das französische “Libretto” des Komponisten besteht ausschließlich auf ausgewählten Texten des französischen Dichters Arthur Rimbaud und Briefen seiner Schwestern Vitalie und Isabelle. Pintscher unterhält seit vielen Jahren zu Rimbaud ein ganz besonderes Verhältnis, denn er hat bereits mehrere Werke auf dessen Texte komponiert. Die vierteilige “Handlung” ist in eine poetische, phantastische, aber auch hoffnungslose Atmosphäre getaucht und “spielt” essentiell im “Horn Afrikas” (Harrar), wo Rimbaud allen möglichen Beschäftigungen – einschließlich Waffen- und Drogenschmuggel – nachging.

Während der ganzen hundertminütigen Vorstellung dreht und schlängelt eine sich drehende große Wand über die Bühne. Ein zweites kleines Ensemble spielt rechts im halben Hintergrund auf einer Estrade. Im 1. Teil, “Pourquoi l’azur et l’espace insondable?” (Weshalb [sind] der blaue Himmel und der Raum unergründlich?) spricht der Mann einen Text - Rimbauds Diener Djani zugeteilt - während die Sängerinnen unter einem Bläserchoral auftreten und der Chor in “Sphärenklängen” singt, liest die Frau (Streicher glissandi) einen Brief von Isabelle über die letzten Stunden Rimbauds. Sie faltet aus dem Brief ein Papierschiffchen, das sie auf den Souffleurkasten stellt. Es folgt eine “déchirure de son” (Tonriß), eine Tonkaskade in Form eines großen Orchesterclusters, während Projektionen von Rimbaud- Texten (ein “Wortsturm”) auf die genannte, sich drehende und schlängelnde Wand projiziert werden.

Nach einem auf drei Celli und einen Kontrabaß beschränktem orchestralen Zwischenspiel, folgt der 2. Teil, genannt “sur DEPART” (über Aufbruch). Die Frau (Vitalie) spricht, während der Chor in Form einer “akustischen Wand” wispert. Die Frau und der Mezzo scheinen auf der Schlangenwand zu schreiben, was wieder Projektionen von Rimbaud- Texten ergibt, gleichzeitig mit Schattenspielen auf dem Vorhang eines Kastenbettes (u.a. zwei ringende Männer – Anspielung auf die stürmische Beziehung mit Verlaine?). Während eines weiteren Cello-Kontrabaß Interludiums werden fraktale Figuren auf den Szenenvorhang projiziert, die, wie sich später herausstellt, einen Käfig darstellen, halb Stiege, halb Gefängnis.

Es folgt der 3. Teil, wo der spinto Tenor - unter “konvulsiven, grotesken, diabolischen” Gesten - Texte aus “Une Saison en enfer”, Rimbauds emblematischen und berühmtesten Text, singt. Der hühnenhafte Baß singt mit dem kleinen Tenor im Duett, letzter wiederholt “De profundis, Domine …”. Alle sind schwarz gekleidet, mehrere Paare beider Geschlechter sind in kompromittierenden Stellungen. Die drei Sängerinnen singen ein Terzett: “C’est l’enfer” , klettern in den Stiegen-Käfig, der sich auf Drehbühne nach links verschiebt und reißen sich die Kleider vom Leib, während sie die Jungfrau Maria anrufen. Ein 3. Cello-Kontrabaß Zwischenspiel leitet in den 4. Teil über, benannt “Départ II”, eine Spiegelung des 2. Teils und Zusammenfassung des Ganzen, denn die Texte sind aus den drei früheren Teilen. Sprecher und Sprecherin sind alleine, der Tenor kommt und seufzt in oranger Beleuchtung. Nach einer langen Tirade schreit er mehrmals wieder “De profundis Domine”. Der Stiegen-Käfig erscheint wieder und fährt langsam über die Bühne. Der Sprecher verfolgt mit einem orentierbaren Spiegel die Sprecherin, die das Papierschiffchen nimmt und abgeht. Ein gelber Luftballon steigt aus der Versenkung und wird von dem Spiegel auf die Schlangenwand projiziert. Vorhang!

Zehn Tage nach der Aufführung gab es eine Übertragung auf France-Musique. Ich habe mir die Aufnahme - mit dem Text in der Hand - nochmals angehört. Bereits der Text Rimbauds gehört zum Schwierigsten der französischen Literatur. Etwa wie wenn man ein “Musiktheater” auf Texte Trakls komponierte. Die nur hundertminütige Vorstellung ist anstrengend, sehr anstrengend, denn sie verlangt die totale Aufmerksamkeit des Zuschauers und –hörers. Man fragt sich, ob das die Zukunft der Musik und des “Musiktheaters” ist.

Man kann die Künstler, die diese sehr schwierige Musik für nur sechs Aufführungen einstudiert haben, nur bewundern. Geleitet von Kwamé RYAN bot das ORCHESTRE DE L‘OPERA eine vorzügliche Leistung – soweit man das überhaupt beurteilen kann - ebenso wie das Seitenensemble auf der Bühne unter Alejo PEREZ. Ganz besonderes Lob verdient Laurence EQUILBEYs Chor ACCENTUS, den zwei Chorleiter, Denis COMTET und Nicolas KRÜGER einstudierten.

Die sechs Sänger sind alle pauschal zu loben, denn alle meisterten die bisweilen mörderischen Intervallsprünge mit Bravour: Jeanne-Michèle CHARBONNET, Elisabeth KEUSCH, Iride MARTINEZ (respektive dramatischer, hoher, lyrischer Sopran), Klara CSORDAS (Mezzosopran), Gidon SAKS (Charakterbaß) und der umwerfende Graham CLARK (spinto Tenor). Die beiden Sprecher waren in besten Händen bei Anne BENNENT und Jean SASPORTES, dem einzigen Franzosen in der Besetzung!

Das schwarze Schlangenbühnenbild stammte vom Regisseur Michael SIMON, der auch für die - meist spärliche - Beleuchtung sorgte. Er führte die Sänger und den praktisch ständig präsenten Chor durch das Dickicht der “Handlung” und Partitur. Anna EIERMANN besorgte die Kostüme, die sich für die Damen auf weiße Blusen und Faltenröcke, für die Herren auf weiße Kaftane beschränkten (außer im 3. Teil, wo alle in schwarz sind). Sehr wichtig sind die Plastiken und gelungenen Videos von Dominik RINNHOFER.

Das Publikum war zwar etwas befremdet, spendete aber trotzdem den verdienstvollen Künstler und dem jungen Komponisten stürmischen Beifall. wig.