"CAPRICCIO"- 8. Juli 2004

„Capriccio“ wurde 1940-41 geschrieben, zwei Jahre nach der Komposition der pazifistischen Oper „Ein Friedenstag“. „Capriccio“ war die letzte Oper des Meisters von Garmisch und wurde mitten im Krieg (1942) unter größten Schwierigkeiten uraufgeführt. Das Libretto wurde bereits 1934 von Stephan Zweig vorgeschlagen, von Josef Gregor ausgearbeitet und schließlich von Clemens Krauss und Strauss selbst ausgefeilt und vervollständigt. Der Inhalt ist nicht nur völlig anachronistisch für seine Zeit, der Text ist auch voll von Anspielungen, Hinterfragungen und Seitenhieben, die zur Zeit der Entstehung schlicht und einfach subversiv waren, auch wenn es unter der Etikette „Konversationsstück mit Musik“ läuft. Zu allem Überfluß spielt „Capriccio“ in Frankreich während der Aufklärung, mit eingeflochtenen Texten von Ronsard und Pascal! Die ungewöhnlichen Umstände lassen einige Schlüsse auf die wirkliche Meinung und Verfassung von Strauss zu. Floh Strauss mit dieser „Meta-Oper“ in einen abstrakten Ästhetizismus oder wollte er die Machthaber provozieren? Wie wenn die Zentralperson des Werks, La Roche singt: „Die Masken zwar sind gefallen, doch Fratzen seht ihr statt Menschenantlitze! Ihr verachtet dies Treiben, und doch, ihr duldet es! Ihr macht euch schuldig durch euer Schweigen.“ Wenn Richard Strauss nicht eine lebendes Denkmal gewesen wäre, hätte er im KZ landen können.

Es ist wohl kein Zufall, daß Hugues Gall zum Abschied als letzte Premiere seiner Amtszeit Richard Strauß‘ nostalgisches Alterswerk gewählt hat. Hatte nicht Gall zu Silvester 1999 Verdis „Falstaff“ mit dem Ausklang „Tutto il mondo e burla!“ gebracht? Als subtiler Kenner der Opernliteratur hat er dabei wohl die Problematik „Prima la musica e poi le parole!“ (und umgekehrt) seinem Nachfolger als Vermächtnis hinterlassen. Sieht er sich als Theaterdirektor La Roche? Daß Gall sich den Spaß etwas kosten ließ, bestärkt nur in der Annahme, daß die Wahl nicht „unschuldig“ war. Zumal das Resultat mehr als zufriedenstellend war.

Um dieses komplexe Werk auf die Bühne zu stellen, gewann Gall den kanadischen Regisseur Robert CARSEN, der hier eine seiner besten und klügsten Inszenierungen gemacht hat. Carsen hat auf die individuelle Herausarbeitung der sehr scharf gezeichneten Charaktere der Personen gezielt, aber ebenso auf die doppelbödige Philosophie des Werks. Sein langjähriger Mitarbeiter Michael LEVINE zeichnete für die einfallsreichen Bühnenbilder und Anthony POWEL für die hinreißend schönen Kostüme der 30er Jahre, während CARSEN für die Beleuchtung selbst sorgte (mit Peter van PRAET). Die Besucher werden vor offenem Vorhang auf der Hinterbühne des lokalen Schloßtheaters empfangen, nur ein Fauteuil, eine Leiter, fünf Scheinwerfer stehen herum, und links und rechts sind Kulissen gestapelt. Lakaien bringen Stühle und Notenpulte, ein großes Transparent mit einer Schloßperspektive fällt vom Schnürboden herunter.

Sechs Musiker in Mantel und Hut mit Instrumentenkästen kommen auf die Bühne, ziehen sich langsam aus, setzen sich an die Pulte und beginnen die Sextett-Einleitung. Gräfin Madeleine, in großem grünen Abendkleid, sitzt im erhöhten Parkett des Zuschauerraums und hört zu, mit der Partitur in der Hand. Flamand (in grauem Cordoroy-Anzug) dirigiert zuerst auf der Bühne, dann gesellt sich auch Olivier zu ihm. La Roche kriecht verschlafen hinter dem Transparent hervor, steckt sich eine Zigarette an und doziert: „Eine bedeutende Frau!“. Lakaien servieren Getränke. Der Graf erscheint als Gentleman-Farmer, und alle bedienen sich. Der Schloßtheater-Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf einen großen Rokoko-Saal frei mit einem riesigen Spiegel im Hintergrund, was eine fast endlose Perspektive ergibt. Clairon erscheint in dunkelrotem Hosenanzug mit Pelzbesatz, begleitet von einem Offizier im schwarzen Trenchcoat (der obligate „akuelle“ Seitenblick auf die Entstehungszeit der Oper). Nach dem gesprochenen Text, flüchtet Flamand in den Saal und komponiert das Ronsard-Sonett während des Duetts Gräfin/Olivier, kommt er zurück, setzt sich ans Cembalo und singt das Sonett, sich selbst begleitend. La Roche erscheint im Publikum, um Kürzungen zu verlangen.

Während der Kammermusik streiten sich Clairon und Olivier links vorne in einer sehr gut geführten Szene. Nach der großen Diskussion zwischen Olivier und Flamand führt La Roche, der wieder raucht, nun seine Schützlinge vor. Die Tänzerin schwebt buchstäblich übers Parkett. Die Sänger treten schließlich in weißen Laken auf. In der 2. Strophe erscheint der Tenor mit einem riesigen Holzschwert. Alle amüsieren sich bestens, und die Sängerin endet auf den Schoß des Grafen. La Roche erklärt seine Konzeption des Theaters mit Hilfe zweier Korbkoffer voll Kostümen und Requisiten und einer Maquette der Bühne, sowie einem großen weißen Vorhang mit gemalten Flammen für den „Untergang Carthagos“, es knistert überall, und ein eigentümlicher Geruch ist im Zuschauerraum zu spüren. Olivier hat sich im Korbkoffer bedient und als Ritter (in der Art der Pupi di Palermo) verkleidet, während Flamand in Tarzan-Kluft herumläuft. Großes Gaudium, bis La Roche mit seinem großen Monolog alle zusammenpfeift; beim „Amen“ sinkt er auf dem Souffleurkasten zusammen. Nach dem alle abgegangen sind, kommen die Lakaien und kommentieren den Abend. Der Vorhang fällt.

Monsieur Taupe kriecht aus dem Souffleurkasten. Das Duett mit dem Haushofmeister vor dem Vorhang, ist sehr gut arrangiert. Wenn der Vorhang aufgeht, sieht man exakt den selben Vorhang nochmals, der ganz langsam hoch geht, mit altmodischen Souffitten davor. Das ganze „Theater auf dem Theater“ ist nun umgekehrt, die Bühne ist nun im Hintergrund, davor der Rokoko-Saal, aber der Spiegel ist noch da, in dem man den Zuschauerraum der Opéra Garnier erahnt. Die Gräfin in großem stahlgrauen Abendkleid mit Pelzschärpe, geht im Hintergrund zum Spiegel. Nachdem der Haushofmeister ankündigt, daß Flamand sie am Morgen in der Bibliothek erwarte, singt Madeleine ihren nostalgischen Schlußgesang vor dem großen Spiegel.

Nachdem Christian Thielemann sein Pariser Operndebüt kurzfristig abgesagt hatte, mußten gleich zwei „Ersatz“-Dirigenten engagiert werden. Günther Neuhold leitete die fünf ersten Abende, während Ulf SCHIRMER die drei letzten übernahm (obwohl Neuhold noch auf dem Programm der letzten Vorstellung stand!). Er leitete das ORCHESTRE DE L’OPERA NATION DE PARIS mit diskreter Umsicht. Das große Oktett war einfach fabelhaft, die Begleitung der Sänger in jeder Situation passend, das Orchester atmete buchstäblich mit den Sängern. Schirmer war ständig besorgt, die Stimmen zur Geltung zu bringen. Das Gleichgewicht zwischen Bühne und Graben war einfach perfekt.

Eine Traum-Besetzung war aufgeboten, die durch ihre außergewöhnliche Ausgeglichenheit bestach. Renée FLEMING war eine bildschöne, etwas kühle und sehr träumerische Gräfin Madeleine. Bedauerlich waren ihre bisweilen scharfen Ansätze in der Höhe, die auf Überlastung der Stimme schließen lassen. Auch ihre Diktion im Deutschen ist nicht die beste.

Dafür war die Diktion aller anderen Sänger perfekt, allen voran die beiden nicht-deutschen Ex-Liebhaber Clairon und Olivier, Anne Sofie von OTTER und Gerald FINLEY, die den Pascal-Text perfekt deklamierten und auf den besten deutschen Bühnen auftreten könnten. Daß beide auch himmlisch sangen und überzeugend spielten, trug zur großen Freude des Publikums bei. Rainer TROST als Flamand war ein ebenbürtiger Gegenspieler, die mit romantischer Inbrunst das von ihm komponierte Sonett vortrug (und sich selbst am Cembalo begleitete). Er brachte seine Liebesschwüre an Madeleine sehr stürmisch vor.

Ein ebenso stürmischer Liebhaber war der Graf von Dietrich HENSCHEL, ein zynischer, draufgängerischer, einigermaßen alkoholisierter Dandy. Da er in der gesanglich nicht sehr dankbaren Rolle seinen prachtvollen Bariton weniger zeigen konnte, machte er dies durch seine perfekte Deklamation und eine sehr glaubwürdige Gestaltung wett. Franz HAWLATA als La Roche war natürlich die Zentralfigur der Intrige. In seinem Monolog war er wirklich „im Zenith seiner ruhmreichen Laufbahn“. Er meisterte die Höhen („Sic itur ad astra!“) ebenso wie die dramatischen Ausbrüche. Seine Darstellung war menschlich und einfach, die eines liebevollem Tyrannen, der weiß, was er will, und es auch hinkriegt. Clairon weiß das sehr wohl: „Seine ”Suada“ hat schon manchen niedergestreckt.“

Monsieur Taupe war Robert TEAR, der - wie immer - durch seine perfekte Diktion und sein diskretes und intelligentes Spiel auffiel. Als italienische Sängerin und Tenor waren Annamaria DELL'OSTE und Barry BANKS blendend in ihrer Persiflage des ausschweifenden Belcanto des 18. Jahrhunderts. Der junge Petri LINDROOS war ein steifer, doch menschlicher Haushofmeister, der die acht Diener (Michael SMALLWOOD, Yuri KISSIN, Mihajlo ARSENSKI, Sergei STILMACHENKO, Marcos PUJOL, Jean-Luc MAURETTE, Xavier MAS, Henk NEVEN) fest in der Hand hatte. Laura HACQUEY schwebte als Tänzerin über das Parkett des Schlosses, von ihrem Ballettmeister Alain COURTEAUX ständig gequält.

Der Applaus war triumphal und lange andauernd. Der neuen Direktion der Pariser Oper hat Hugues Gall ein trojanisches Pferd ins Haus gestellt, ein solches Fest der Stimmen, des Theaters - sagen wir’s gleich - der Oper auf die Bühne gebracht zu haben. Vielen Besuchern wird dieses Abschiedsgeschenk noch lange in Erinnerung bleiben. Eine Sternstunde! wig.