„Capriccio“
wurde 1940-41 geschrieben, zwei Jahre nach der Komposition der pazifistischen
Oper „Ein Friedenstag“. „Capriccio“ war die letzte Oper des Meisters von
Garmisch und wurde mitten im Krieg (1942) unter größten Schwierigkeiten
uraufgeführt. Das Libretto wurde bereits 1934 von Stephan Zweig vorgeschlagen,
von Josef Gregor ausgearbeitet und schließlich von Clemens Krauss und
Strauss selbst ausgefeilt und vervollständigt. Der Inhalt ist nicht nur
völlig anachronistisch für seine Zeit, der Text ist auch voll von Anspielungen,
Hinterfragungen und Seitenhieben, die zur Zeit der Entstehung schlicht
und einfach subversiv waren, auch wenn es unter der Etikette „Konversationsstück
mit Musik“ läuft. Zu allem Überfluß spielt „Capriccio“ in Frankreich während
der Aufklärung, mit eingeflochtenen Texten von Ronsard und Pascal! Die
ungewöhnlichen Umstände lassen einige Schlüsse auf die wirkliche Meinung
und Verfassung von Strauss zu. Floh Strauss mit dieser „Meta-Oper“ in
einen abstrakten Ästhetizismus oder wollte er die Machthaber provozieren?
Wie wenn die Zentralperson des Werks, La Roche singt: „Die Masken zwar
sind gefallen, doch Fratzen seht ihr statt Menschenantlitze! Ihr verachtet
dies Treiben, und doch, ihr duldet es! Ihr macht euch schuldig durch euer
Schweigen.“ Wenn Richard Strauss nicht eine lebendes Denkmal gewesen wäre,
hätte er im KZ landen können.
Es
ist wohl kein Zufall, daß Hugues Gall zum Abschied als letzte Premiere
seiner Amtszeit Richard Strauß‘ nostalgisches Alterswerk gewählt hat.
Hatte nicht Gall zu Silvester 1999 Verdis „Falstaff“ mit dem Ausklang
„Tutto il mondo e burla!“ gebracht? Als subtiler Kenner der Opernliteratur
hat er dabei wohl die Problematik „Prima la musica e poi le parole!“ (und
umgekehrt) seinem Nachfolger als Vermächtnis hinterlassen. Sieht er sich
als Theaterdirektor La Roche? Daß Gall sich den Spaß etwas kosten ließ,
bestärkt nur in der Annahme, daß die Wahl nicht „unschuldig“ war. Zumal
das Resultat mehr als zufriedenstellend war.
Um
dieses komplexe Werk auf die Bühne zu stellen, gewann Gall den kanadischen
Regisseur Robert CARSEN, der hier eine seiner besten und klügsten Inszenierungen
gemacht hat. Carsen hat auf die individuelle Herausarbeitung der sehr
scharf gezeichneten Charaktere der Personen gezielt, aber ebenso auf die
doppelbödige Philosophie des Werks. Sein langjähriger Mitarbeiter Michael
LEVINE zeichnete für die einfallsreichen Bühnenbilder und Anthony POWEL
für die hinreißend schönen Kostüme der 30er Jahre, während CARSEN für
die Beleuchtung selbst sorgte (mit Peter van PRAET). Die Besucher werden
vor offenem Vorhang auf der Hinterbühne des lokalen Schloßtheaters empfangen,
nur ein Fauteuil, eine Leiter, fünf Scheinwerfer stehen herum, und links
und rechts sind Kulissen gestapelt. Lakaien bringen Stühle und Notenpulte,
ein großes Transparent mit einer Schloßperspektive fällt vom Schnürboden
herunter.
Sechs
Musiker in Mantel und Hut mit Instrumentenkästen kommen auf die Bühne,
ziehen sich langsam aus, setzen sich an die Pulte und beginnen die Sextett-Einleitung.
Gräfin Madeleine, in großem grünen Abendkleid, sitzt im erhöhten Parkett
des Zuschauerraums und hört zu, mit der Partitur in der Hand. Flamand
(in grauem Cordoroy-Anzug) dirigiert zuerst auf der Bühne, dann gesellt
sich auch Olivier zu ihm. La Roche kriecht verschlafen hinter dem Transparent
hervor, steckt sich eine Zigarette an und doziert: „Eine bedeutende Frau!“.
Lakaien servieren Getränke. Der Graf erscheint als Gentleman-Farmer, und
alle bedienen sich. Der Schloßtheater-Vorhang öffnet sich und gibt den
Blick auf einen großen Rokoko-Saal frei mit einem riesigen Spiegel im
Hintergrund, was eine fast endlose Perspektive ergibt. Clairon erscheint
in dunkelrotem Hosenanzug mit Pelzbesatz, begleitet von einem Offizier
im schwarzen Trenchcoat (der obligate „akuelle“ Seitenblick auf die Entstehungszeit
der Oper). Nach dem gesprochenen Text, flüchtet Flamand in den Saal und
komponiert das Ronsard-Sonett während des Duetts Gräfin/Olivier, kommt
er zurück, setzt sich ans Cembalo und singt das Sonett, sich selbst begleitend.
La Roche erscheint im Publikum, um Kürzungen zu verlangen.
Während
der Kammermusik streiten sich Clairon und Olivier links vorne in einer
sehr gut geführten Szene. Nach der großen Diskussion zwischen Olivier
und Flamand führt La Roche, der wieder raucht, nun seine Schützlinge vor.
Die Tänzerin schwebt buchstäblich übers Parkett. Die Sänger treten schließlich
in weißen Laken auf. In der 2. Strophe erscheint der Tenor mit einem riesigen
Holzschwert. Alle amüsieren sich bestens, und die Sängerin endet auf den
Schoß des Grafen. La Roche erklärt seine Konzeption des Theaters mit Hilfe
zweier Korbkoffer voll Kostümen und Requisiten und einer Maquette der
Bühne, sowie einem großen weißen Vorhang mit gemalten Flammen für den
„Untergang Carthagos“, es knistert überall, und ein eigentümlicher Geruch
ist im Zuschauerraum zu spüren. Olivier hat sich im Korbkoffer bedient
und als Ritter (in der Art der Pupi di Palermo) verkleidet, während Flamand
in Tarzan-Kluft herumläuft. Großes Gaudium, bis La Roche mit seinem großen
Monolog alle zusammenpfeift; beim „Amen“ sinkt er auf dem Souffleurkasten
zusammen. Nach dem alle abgegangen sind, kommen die Lakaien und kommentieren
den Abend. Der Vorhang fällt.
Monsieur
Taupe kriecht aus dem Souffleurkasten. Das Duett mit dem Haushofmeister
vor dem Vorhang, ist sehr gut arrangiert. Wenn der Vorhang aufgeht, sieht
man exakt den selben Vorhang nochmals, der ganz langsam hoch geht, mit
altmodischen Souffitten davor. Das ganze „Theater auf dem Theater“ ist
nun umgekehrt, die Bühne ist nun im Hintergrund, davor der Rokoko-Saal,
aber der Spiegel ist noch da, in dem man den Zuschauerraum der Opéra Garnier
erahnt. Die Gräfin in großem stahlgrauen Abendkleid mit Pelzschärpe, geht
im Hintergrund zum Spiegel. Nachdem der Haushofmeister ankündigt, daß
Flamand sie am Morgen in der Bibliothek erwarte, singt Madeleine ihren
nostalgischen Schlußgesang vor dem großen Spiegel.
Nachdem
Christian Thielemann sein Pariser Operndebüt kurzfristig abgesagt hatte,
mußten gleich zwei „Ersatz“-Dirigenten engagiert werden. Günther Neuhold
leitete die fünf ersten Abende, während Ulf SCHIRMER die drei letzten
übernahm (obwohl Neuhold noch auf dem Programm der letzten Vorstellung
stand!). Er leitete das ORCHESTRE DE L’OPERA NATION DE PARIS mit diskreter
Umsicht. Das große Oktett war einfach fabelhaft, die Begleitung der Sänger
in jeder Situation passend, das Orchester atmete buchstäblich mit den
Sängern. Schirmer war ständig besorgt, die Stimmen zur Geltung zu bringen.
Das Gleichgewicht zwischen Bühne und Graben war einfach perfekt.
Eine
Traum-Besetzung war aufgeboten, die durch ihre außergewöhnliche Ausgeglichenheit
bestach. Renée FLEMING war eine bildschöne, etwas kühle und sehr träumerische
Gräfin Madeleine. Bedauerlich waren ihre bisweilen scharfen Ansätze in
der Höhe, die auf Überlastung der Stimme schließen lassen. Auch ihre Diktion
im Deutschen ist nicht die beste.
Dafür
war die Diktion aller anderen Sänger perfekt, allen voran die beiden nicht-deutschen
Ex-Liebhaber Clairon und Olivier, Anne Sofie von OTTER und Gerald FINLEY,
die den Pascal-Text perfekt deklamierten und auf den besten deutschen
Bühnen auftreten könnten. Daß beide auch himmlisch sangen und überzeugend
spielten, trug zur großen Freude des Publikums bei. Rainer TROST als Flamand
war ein ebenbürtiger Gegenspieler, die mit romantischer Inbrunst das von
ihm komponierte Sonett vortrug (und sich selbst am Cembalo begleitete).
Er brachte seine Liebesschwüre an Madeleine sehr stürmisch vor.
Ein
ebenso stürmischer Liebhaber war der Graf von Dietrich HENSCHEL, ein zynischer,
draufgängerischer, einigermaßen alkoholisierter Dandy. Da er in der gesanglich
nicht sehr dankbaren Rolle seinen prachtvollen Bariton weniger zeigen
konnte, machte er dies durch seine perfekte Deklamation und eine sehr
glaubwürdige Gestaltung wett. Franz HAWLATA als La Roche war natürlich
die Zentralfigur der Intrige. In seinem Monolog war er wirklich „im Zenith
seiner ruhmreichen Laufbahn“. Er meisterte die Höhen („Sic itur ad astra!“)
ebenso wie die dramatischen Ausbrüche. Seine Darstellung war menschlich
und einfach, die eines liebevollem Tyrannen, der weiß, was er will, und
es auch hinkriegt. Clairon weiß das sehr wohl: „Seine ”Suada“ hat schon
manchen niedergestreckt.“
Monsieur
Taupe war Robert TEAR, der - wie immer - durch seine perfekte Diktion
und sein diskretes und intelligentes Spiel auffiel. Als italienische Sängerin
und Tenor waren Annamaria DELL'OSTE und Barry BANKS blendend in ihrer
Persiflage des ausschweifenden Belcanto des 18. Jahrhunderts. Der junge
Petri LINDROOS war ein steifer, doch menschlicher Haushofmeister, der
die acht Diener (Michael SMALLWOOD, Yuri KISSIN, Mihajlo ARSENSKI, Sergei
STILMACHENKO, Marcos PUJOL, Jean-Luc MAURETTE, Xavier MAS, Henk NEVEN)
fest in der Hand hatte. Laura HACQUEY schwebte als Tänzerin über das Parkett
des Schlosses, von ihrem Ballettmeister Alain COURTEAUX ständig gequält.
Der
Applaus war triumphal und lange andauernd. Der neuen Direktion der Pariser
Oper hat Hugues Gall ein trojanisches Pferd ins Haus gestellt, ein solches
Fest der Stimmen, des Theaters - sagen wir’s gleich - der Oper auf die
Bühne gebracht zu haben. Vielen Besuchern wird dieses Abschiedsgeschenk
noch lange in Erinnerung bleiben. Eine Sternstunde! wig.
|