Hundert
Jahre nach Wagners „Parsifal“ hat Olivier Messiaen, einer der bedeutendsten
Komponisten des 20. Jahrhunderts „seine“ Oper geschrieben. Obwohl Messiaen
der Meinung war, daß er für das Theater nicht geeignet sei, ließ er sich
1975 doch vom damaligen Direktor der Pariser Oper, Rolf Liebermann, überreden
und schrieb acht Jahre lang an seinem einzigen Bühnenwerk. Im Herbst 1983
wurde „Saint François“ in der Pariser Garnier Oper unter Seji Ozawa in
einer gelungenen Inszenierung von Sandro Sequi erfolgreich uraufgeführt
– bereits mit José van Dam in der Titelrolle. Zehn Jahre später ist „Saint
François“ von Peter Sellars unter Sylvain Cambreling in der Bastille inszeniert
worden (auch bei den Salzburger Festspielen zu sehen gewesen). Es ist
dies also die dritte Produktion dieses außergewöhnlichen Werkes in Paris.
Eine Wiederaufnahme einer früheren Produktion wäre vermutlich besser gewesen,
denn diese Neuinszenierung war wirklich nicht notwendig.
Der
Vergleich mit „Parsifal“ drängt sich in vieler Hinsicht auf. Beide Werke
sind Mysterien, in denen die Wundmale eine zentrale Rolle spielen. Es
sind Spätwerke, musikalische Testamente, sind sehr lang und bedürfen großer
Konzentration für über vier Stunden sehr anspruchsvoller, schwieriger
Musik. In beiden Werken hat der Komponist das Textbuch selbst verfaßt
und viele persönliche Erlösungsphilosophie eingeflochten. Beide Komponisten
haben auch besonders präzise Anweisungen für Regie und Ausstattung gegeben:
das nur zehn Seiten lange Textbuch des „Saint François“ enthält etwa ein
Drittel Regieanweisungen!
Während
Wagner das romantische Orchester zur Hochblüte gebracht hatte, hat Messiaen
dieses Orchester noch weiter ausgebaut und hier mit einer ansehnlichen
Zahl von Schlaginstrumenten (Windmaschine, Glocken, Gonge, Vibraphon,
Orgel, zwei Xylophone, drei Ondes Martenot u.v.a.) ergänzt und sein großes
Interesse für Vögel auf elektronischen Tonträgern festgehalten und in
seine Werke eingeflochten. Beide Komponisten haben mit ihrer Musik für
Jahrzehnte einen Orchesterstandard gesetzt. Beide Werke bedürfen deshalb
großer Chor- und Orchestermassen, sind besonders anspruchsvoll und brauchen
ein entsprechend großes Theater. Im Gegensatz zu Wagner hat Messiaen gelehrt
und eine Großzahl der wichtigsten lebenden Komponisten – von Pierre Boulez
bis Yannis Xenakis und Karl-Heinz Stockhausen – geformt (der 7. und letzte
Band seines „Traité de rythme, de couleur et d’ornithologie“ ist eben
erschienen).
Messiaen
war ein tief gläubiger, ja, mystischer Christ und verehrte den hl. Franziskus
ganz besonders. Sein religiöses Engagement war bereits in der Tatsache
gegeben, daß er über vierzig Jahre in der Sonntagsmesse die Orgel der
Pfarre der „Trinité“ in Paris spielte, die er mit einer längeren Orgelimprovisation
beschloß (habe ich selbst gehört, u. a. eine, die etwa zwanzig Minuten
gedauert hat).
Der
Text des „Saint François“ ist den Schriften des hl. Franziskus entnommen,
den „ Fioretti“, der Vogelpredigt und dem Sonnengesang. Diese zu tiefst
religiösen Texte sind in ihrer naiven Einfachheit ungemein aktuell und
vielsagend. Diese menschliche Botschaft steht im Gegensatz zu Gewalt und
Ausschluß. Es ist ein Hohelied des Friedens, der Versöhnung und der Armut,
absolut nicht „politisch korrekt“ für unsere Zeit. Die Vögel, der Engel,
der Aussätzige sind die Vehikel dieser Botschaft. Messiaen hat diese Botschaft
mit seiner modernen Musik bekleidet, in der jedoch das Wort nicht zu kurz
kommen darf und verständlich bleiben muß. Das resultierende Parlando,
direkt von Monteverdis parlar cantando beeinflußt, wird durch Tonballungen,
Cluster, Xylophon-Soli oder charakteristischen Steigerungen der Ondes
Martenot (bei jedem Auftritt des Engels) unterstrichen. Sicher, diese
Musik ist gewöhnungsbedürftig und verlangt ständige Aufmerksamkeit und
größte Konzentrierung.
Daß
Messiaen sehr detaillierte, wichtige Regieanweisungen gegeben hat, scheint
den Regisseur der Produktion, Stanislas NORDEY, und sein Team (Emmanuel
CLOLUS/Bild und Raoul FERNANDEZ/Kostüme) absolut nicht berührt zu haben,
denn sie kümmerten sich überhaupt nicht um Messiaens Anweisungen. Bereits
die Kostümierung weist weder den Heiligen noch seiner Jünger als Mönche
aus, sie könnten irgendwelche Arbeiter oder Bauern sein. Das Einheitsbühnenbild
des 1. Akts besteht aus einem großen überhöhten schiefen quadratischen
Tisch, auf dem sich die recht statischen Ereignisse abspielen. Anderswo
nennt man das eine „Mise en espace“, eine Raumgestaltung einer konzertanten
Aufführung. Von Personenführung ist hier natürlich nicht die Rede – auch
nicht gefragt – außer den Kuß an den Aussätzigen.
Der
2. Akt ist von einer riesigen, bizarren Pforte dominiert, auf der die
Frage des Engels über die Prädestination projiziert ist. Der Engel zieht
ein gläsernes Köfferchen nach, in dem seine Flügel stecken. Ab dem 5.
Bild beginnt das Leiden des Hl. Franziskus, denn der Ärmste steht auf
einem, aus einer schrägen grünen Wand herausragenden kleinen Brett in
etwa 3 Meter Höhe unbeweglich wie ein Säulenheiliger und singt seinen
Sonnengesang. Auf dem halbrunden Hintergrund ist die Engelsfrage vielmals
aufgezeichnet. Der Engel erscheint ihm einen Meter höher aus dieser Wand.
In der 6. Szene, der Vogelpredigt, steht François auf einer erhöhten Kanzel
in einem riesigen, schrägen, vielfach unterteilten, Glasquadrat, das einer
Satellitenantenne gleicht.
Der
dilettantische Unsinn erreichte seinen Höhepunkt, wenn in der 7. Szene
(im 3. Akt), Saint François die Stigmata, die Wundmale Christi, empfängt.
Der Heilige steht wieder auf einem winzigen Brett vor einer riesigen aufgeteilten
Glaswand, drei Meter über dem Chor, der sitzend die ganze Bühne ausfüllt.
Statt wie Messiaen angibt, ein riesiges Kreuz zu projizieren, von dem
fünf rote Blitze den hl. Franziskus an den Händen Füßen und der Seite
treffen (wo anders als in der Bastille-Oper wäre das eine Kleinigkeit?),
werden die Scheiben der Glaswand von hinten von zwei Männern mit großen
Bürsten (die man sieht!!) feuerrot angemalt. Die Schlußszene ist von erschütternder
Banalität: Saint François stirbt und erreicht „das neue Leben“, begleitet
vom Engel, dem Aussätzigen und den Brüdern, indem er sich nach hinten
auf ein Tor mit Butzenscheiben, grell von hinten beleuchtet, begibt.
Das
schwierige Werk hat Sylvain CAMBRELING – ein sehr engagierter Spezialist
für Messiaen - sichtlich sehr geprobt und dem CHOR (Einstudierung Peter
BURIAN), dem ORCHESTER und den zahlreichen zusätzlichen Musikern das Letzte
abgefordert. Eine titanische Leistung!
José
VAN DAM war wieder Saint François. Man kann ihm nur ungeteilten Beifall
spenden, dem Märtyrer, der stundenlang in schwindelnder Höhe unbeweglich
seine Gebete singt und mit Gott, dem Engel, den Brüdern und Vögeln dialogiert.
21 Jahre nach der Uraufführung ist er noch mehr in diese Rolle hinein
gewachsen und identifiziert sich völlig mit der Heiligenfigur. Christine
SCHÄFER war als Engel perfekt, leichtfüßig tanzte sie herein und sang
mit glockenhellem Sopran die schwierige Partie. Christ MERRITT in weißem
Anzug und mit völlig bandagiertem Kopf und Händen spielte sehr ergreifend
den durch den Kuß François‘ geheilten Aussätzigen. Die Projektion der
Genesung und seine Überraschung darüber, war der Lichtblick der verpatzten
Inszenierung.
Unter
den sechs Brüdern stach Charles WORKMAN als Frère Massée hervor, der mit
jugendlicher Naivität den bäuerlichen Jünger charakterisierte. Christoph
HORNBERGER war ein polternder Frère Elie, der sich seiner Wichtigkeit
als Leiter der Gemeinde voll bewußt war, Roland BRACHT als frommer Frère
Bernard war viel zurückhaltender und passend. Frère Léon hat immer Angst
vor der Zukunft, was Bret POLEGATO treffend darstellte. Guillaume ANTOINE/Frère
Sylvestre (der einzige Franzose der Besetzung) und David BIZIC/Frère Ruffin
vervollständigten passend die Brüderschar.
Trotz
vieler Prominenz und Jetset, war die Premiere mit Gymnasialklassen „ausgestopft“
worden, die übrigens sehr ruhig und aufmerksam waren. Doch der Saal der
Bastille-Oper war trotzdem nicht voll. Das nach sechs Stunden ziemlich
erschöpfte Publikum (4 1/2 Std. Musik plus zwei 45-Minuten-Pausen!) feierte
Sänger und Dirigenten kurz, aber herzlich, während das Szene-Team Buh-Rufe
einheimste. wig.
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