Was?
Sie kennen nicht Florian Leopold Gassmann? Bis heute habe ich ihn auch
nicht gekannt. Er war immerhin ein sehr erfolgreicher Komponist von etwa
20 Opern und viel anderer Musik. Als Nachfolger Glucks als Hofkapellmeister
in Wien schätzte ihn Mozart für seine Kirchenmusik. Aus Böhmen stammend,
komponierte Gassmann (1729-1774) Opern auf Libretti des Metastasio, lernte
Gluck kennen und dessen Librettisten Calzabigi („Orfeo ed Euridice“ und
„Alceste“). Gassmann fand – wie Gluck – die damaligen Sänger eher mühsam
(hat sich das sehr geändert?). Schon 1720 gab der berühmte Komponist Benedetto
Marcello in seinem Pamphlet „Il Teatro alla moda“ „Ratschläge“ an Sänger
und Theaterdirektoren, in dem er die ganze Theaterwelt von damals verunglimpfte.
Vor allem die Sänger (Kastraten) werden darin sehr hergenommen (das TCE
hatte die ausgezeichnete Idee, große Auszüge im Programmheft abzudrucken).
Das im 18. Jahrhundert recht weit verbreitete Genre des „Metamelodramma“
(vor allem auf Texte von Goldoni, mit Musik von Galuppi, Scarlatti, Pergolesi,
Cimarosa u.v.a.) parodierte die italienische Opera seria. Gassmann schrieb
„L‘Opera seria“ 1769 mit Calzabigi für das Wiener Burgtheater. Man muß
oft an Mozarts „Schauspieldirektor“ oder Gazzanigas „Don Giovanni“ denken.
Und natürlich auch an Strauss‘ „Capriccio“. Auch Nestroy ist nicht weit
(„Judith und Holofernes“ oder „Häuptling Abendwind“).
Der
Impressario Fallito bereitet die Premiere der Oper „Oranzeb“ des Poeten
Delirio und des Komponisten Sospiro vor (Aurangzeb, 1658-1707, 3. Sohn
des Erbauers des Taj Mahal, Shah Jahan, letzter, sehr fanatischer und
grausamer Mongolenkaiser Indiens). Natürlich paßt dem Primo uomo Ritornello
die Arie nicht, die unausstehlichen Sängerinnen Stonatrilla, Smorfiosa
und Porporina (und ihre Mütter, Befana, Caverna und Bragherona, alle von
Männern gesungen!) streiten sich dauernd. Es geht drunter und drüber.
Im 2. Akt wird geprobt; Fallitos und Delirios Versuche so etwas wie Regie
zu führen sind mit sehr beschränktem Erfolg gekrönt. Der Tanzmeister Passagallo
drängt Fallito vier Tänzer auf. Bühnenarbeiter schleppen Kulissen über
die Bühne. Das Chaos steigt. Im 3. Akt wird die Oper in einer indischen
Tempelallee mit Bergkulisse gespielt. Ritornello singt seine große Siegesarie,
Smorfiosa, seine Gefangene, will ihn becircen und führt zu ihrer Arie
einen Schleiertanz auf. Stonatrilla sieht die Konkurrentin und will sich
den Tod geben – doch dazu kommt es nicht, denn das „Publikum“ beginnt
zu pfeifen und der Vorhang fällt. Nachdem Fallito mit der Kassa verschwunden
ist, lassen die Mütter und die Künstler im Nachspiel ihren Zorn über die
Impressarii und den Opernbetrieb aus und schwören den Theaterdirektoren
ewigen Haß.
Musikalisch
ist das Werk nicht übermäßig anspruchsvoll. Vor allem der 3. Akt ufert
etwas in Klamauk aus. Da es eine Parodie ist, werden alle Gemeinplätze
der Opera seria bis zur Schmerzgrenze ausgenützt. Den Fortgang der Handlung
rettet die Situationskomik der Opera buffa. Gassmann hat in der Begleitung
der Sänger alle Instrumente solistisch eingesetzt, vor allem die Holzbläser.
Stonatrillas Arie mit obligatem Fagott (!) ist ein Koloratur-Feuerwerk
mit idiotischem Text. Porporinas Ozean Arie mit Thunfischen und Delfinen
im Text wird eine Schäferarie mit obligater Oboe, da die Kastraten willkürlich
die Texte auf Musik adaptierten, die sie konnten. Hinreißend! Umwerfend!
Die
Produktion von 1994 stammt eigentlich aus Schwetzingen und war bereits
an der Staatsoper Berlin und bei den „Innsbrucker Wochen für alte Musik“
zu sehen. Wie für den sehr erfolgreichen „Figaro“ vor zwei Jahren hat
René JACOBS sich für die Inszenierung auch hier mit Jean-Louis MARTINOTY
und Hans SCHAVERNOCH zusammen getan. Wie immer hat René JACOBS sein CONCERTO
KÖLN völlig in der Hand. Selbst im größten Drunter und Drüber, geht alles
wie am Schnürchen. Die „Probe“, von dem Cembalisten Stefano Maria DEMICHELI
begleitet, voll falscher Noten und dem entsprechenden Krach, ist zum Schreien.
Martinoty
hat die ganze Sache als riesigen Scherz aufgezogen, und das ist ihm bestens
gelungen. Es ist unmöglich, auch nur einen Teil der zahllosen Einfälle
aufzuzählen. Ritornello kommt mit seinem Seidenpintscher, der mehrmals
gähnt (das Publikum röhrt), auf die Probe; primo und secondo uomo streiten
sich, wer den höheren Kopfputz kriegt und messen das aus; die hypochondrische
Smorfiosa hat Schmerzen am linken Bein, worauf ihre Mutter sie massiert
(während die singt!), und der Tenor löst sie dann ab; Stonatrilla muß
sich bei der Todesszene in der Probe mit einem Tintenfaß begnügen (weil
keine Giftschale da ist), worauf Delirio ihr anrät, sich nicht mit Tinte
anzuschütten; usw.
Die
Bühnenbilder von SCHAVERNOCH sind blendend, Daniel OGIER zeichnete für
die bildschönen Kostüme und Jean KALMAN für die passende Beleuchtung.
Das Chaos der Hinterbühne in den beiden ersten Akten (mit Aussicht auf
den Zuschauerraum, der das Théâtre des Champs Elysées darstellt) wird
durch zahlreiche Utensilien bereichert. Die Tempelstraße im 3. Akt ist
sehr gut imitiert, alles Pappendeckel, mit einer eher dem Matterhorn als
dem Himalaya ähnlichen Bergkulisse im Hintergrund; Hindumengen und riesige
Elefanten aus Pappe werden aus den Kulissen gezogen, die vier Fahnenträger
ziehen mehrmals über die Bühne, einer fällt natürlich hin, der andere
hält die Fahne so, daß das Gesicht des Tenors verdeckt wird. Totales Chaos,
bis das strategisch im Zuschauerraum verteilte „Publikum“ das Ende der
Oper herbeipfeift. Jedenfalls ist es das ausgefallenste, verrückteste
und amüsanteste Spektakel seit vielen Jahren.
Alle
Sänger waren absolut perfekt. Allen voran der primo uomo Ritornello, dem
Mario ZEFFIRI seinen gepflegten und angenehmen Tenor lieh, hinreißend
in seiner großen Szene als Mongolengeneral. Er spielt den eitlen, aber
ungebildeten Star-Tenor (natürlich mit Seidentüchlein) mit seinem Seidenpintscher
absolut umwerfend. Janet WILLIAMS als secondo uomo Porporina spielte den
farbigen General Grenu mit Schwung und sehr viel Temperament, stimmlich
perfekt, vor allem wenn sie die Wellen, Thunfische usw. in der Ozeanarie
imitierte. Alexandrina PENDATCHANSKA hat die richtige Stimme für die kapriziöse
unausstehliche Stonatrilla, einschließlich Zornausbrüchen und schmachtender
Arie.
Die
entzückende Miah PERSSON als hypochondrische Smorfiosa fiel passend in
Ohnmacht und absolvierte die nötigen Kapricen, und ihre schöne Stimme
war perfekt für die Sklavenarie des 3. Akts, wo sie außerdem einen sehenswerten
Schleiertanz aufführte. Paolo SPAGNOLI gab dem Fallito die nötige Geriebenheit
und lieh seinen warmen Bariton der Rolle des depressiven Impressario.
Jeremy OVENDEN zeigte seinen schönen Tenor als eingebildeter und verrückter
Komponist Sospiro, und Klaus HÄGER als ebenso eingebildeter, aber mehr
realistischer Poet Delirio schusselte dauernd auf der Bühne herum.
Riccardo
NOVARO war ein intriganter Tanzmeister Passagallo, der Fallito seine zusammengewürfelte
Tanztruppe (eine Tänzerin ist sehr klein, die andere sehr groß) andreht.
Obwohl sie nur ganz am Schluß singen, sind die drei dauernd strickenden
„Mütter“ immer auf der Bühne und tragen zum allgemeinen Gelächter bei.
Umwerfend Dominique VISSE als Befana mit winziger Brille, der an einem
Fünf-Meter-Schal strickte; als Stonatrillas Mutter Caverna, röhrte Stephen
WALLACE bisweilen lachend mitten in die Arie der Konkurrentin Smorfiosa;
schließlich der hünenhafte Curtis RAYAM als die pechschwarze Mama Bragherona
der zierlichen Janet Williams.
Das
Publikum lachte aus vollem Hals und genoß den prachtvollen Abend. Zahlreiche
Vorhänge. Ein Triumph! wig.
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