Operndirektor
Hugues Gall setzt seine Politik der Uraufführungen von Auftragswerken
neuer Opern fort. Nach „Salambò“ von Philippe Fénélon (1999), „K…“ von
Philippe Manoury (2001, wird Ende April wieder aufgenommen) und „Medea“
von Rolf Liebermann (2002), wurde das jüngste Werk des franz. Komponisten
Pascal Dusapin uraufgeführt. Es ist seine 4. Oper und beruht auf dem in
Italien sehr bekannten und immer wieder aufgelegten Roman „Il Codice di
Perelà“ (1911) des Futuristen Aldo Palazzeschi (1885-1974). Eine kurze
Biographie der beiden Künstler ist am Ende des Artikels.
Aus
den sechzehn Kapiteln der sehr komplexen Handlung des Romans hat Dusapin
selbst (auf Italienisch) zehn Kapitel für das Libretto extrahiert. Perelà,
der Rauch-Mann, hat drei Mütter (Pere, Rete und Lama) und erscheint plötzlich
und verschwindet zum Schluß ebenso spurlos in einer Art „Himmelfahrt“.
Kuriose Außenseiter und Einzelgänger sind nicht nur in der Literatur,
sondern auch in der Musik des 20. Jahrhunderts weit verbreitet, man denke
an Bergs „Wozzeck“, Hindemiths „Cardillac“ oder Martinùs kürzlich in Paris
aufgeführte „Juliette“. Jacques Tati hat mit Monsieur Hulot eine solche
Figur auf die Leinwand gebracht. Ein „reiner Tor“, ein Parsifal unserer
Zeit. Perelà hat aber auch Züge, die an Christus erinnern. Er fällt durch
seine Güte auf und sagt nicht sehr viel („Io sono leggero!“ ist alles
was er bei seinem „Prozeß“ vorbringt). Auch die gesamte Handlung des Werks
zeigt Ähnlichkeit mit einer messianischen Figur, sein Alter (33 Jahre),
der Enthusiasmus des Volks für ihn, das ihm zum Verfasser des neuen „Codice“
ernennt, ihn aber nachher ebenso verdammt. Die zweite Hauptfigur, die
Marquise Oliva di Bellonda, eine Figur einer Büßerin, erinnert natürlich
an Maria Magdalena. Palazzeschi hat aber immer irgendwelche religiöse
Intentionen abgewiesen (er bekehrte sich erst mit 80 Jahren zum Katholizismus).
Die
Musik des ausgesprochen packenden Werks ist wahrlich nicht einfach. Sie
ist niemals exzessiv, durchaus „tonal“ (man denkt oft an Bartok, aber
auch an Berg), von der lyrischen Cello-Begleitung für die madrigalistische
Chor-Einleitung zu Beginn der Oper bis zur apokalyptischen Prozeß-Szene
im 9. Kapitel, die dann in Perelàs „Himmelfahrt“, eine zwei Minuten lange,
abgeklärte Schluß-Szene, ausklingt. Dusapin verwendet mehrmals sehr geschickt
Schlagzeug (was sehr an Varese erinnert) und eine Blaskapelle auf der
Bühne spielt einen Gassenhauer, wenn immer der (winzige und stumme) König
auftritt. Die Musik spiegelt oft die absurde Handlung wieder; so ist der
hysterische Erzbischof ein Countertenor, während der „gute“ Alloro, der
Perelà folgt und nicht versteht, wie dieser handelt und Selbstmord begeht
(Mit „Come à potuto fare?“ schließt sein letzter Auftritt), ein lyrischer,
tiefer Baß ist. Eine Flötistin in engem Trikot spielt eine traurige, träumerische
Melodie an wichtigen Szenen-Enden. Mit seinen ständigen Takt-Änderungen,
ist das Werk rhythmisch äußerst komplex (auch das erinnert an Bartok,
vor allem den „Wunderbaren Mandarin“). Man muß eine solch schwierige Oper
mehrmals hören, das ist klar.
Die
Bastille-Oper ließ sich die Aufführung was kosten, denn sie wartete mit
einer phantastischen Produktion auf. Schon daß Hausherr James CONLON sich
mit sichtlicher Begeisterung dieser schweren Partitur angenommen hat,
ist bemerkenswert, und es ist natürlich in erster Linie ihm zu danken,
daß die Premiere ein Bombenerfolg wurde. Er hat mit dem Orchester hörbar
bestens geprobt. Ganz besonders wichtig war auch die Teilnahme des CHŒUR
ACCENTUS. Dieses Ensemble besteht aus 32 Sängersolisten und wird seit
seinem Anfang vor zehn Jahren von Laurence EQUILBEY mit großem Erfolg
geleitet. Die Homogenität des Ensembles ist bestechend, und viele der
jungen Sänger spielten Solistenrollen.
John
GRAHAM-HALL spielte sehr abgeklärt die Titelrolle im Trenchcoat, mit einen
verbeulten Hut und sitzt meistens auf einem Koffer. Er sieht aus wie Tatis
M. Hulot (es fehlte nur der Schirm), was für den mysteriösen, vom Himmel
gefallenen Rauchmann sehr paßt. Sein kultivierter hoher, sehr englischer
Tenor paßte perfekt für den durch die Handlung nachtwandelnden Rauch-Mann.
Nora GUBISCH gestaltete die Marquise Oliva di Bellonda stimmlich und darstellerisch
hinreißend. Die junge Mezzosopranistin, Spezialistin für moderne Opern
(sie war in zwei der drei genannten Uraufführungen in Hauptrollen zu sehen),
führt die Gesangslinie dieser besonders schwierigen Rolle prachtvoll.
Absolut perfekt!
Youngok
SHIN war eine majestätische Königin, begleitet von ihrem Papagei Daniel
GUNDLACH, der immer „Dieu“ kräht. Von den Nebenrollen stachen Chantal
PERRAUD als Alloros Tochter, Dominique VISSE als hysterischer Erzbischof,
Scott WILDE als Alloro und Ankläger hervor. Die anderen Rollen waren völlig
rollendeckend besetzt: Martine MAHÉ, Isabelle PIERRE, Gregory REINHART,
Jaco HUIPEN, Nicolas COURJAL und zahlreiche Mitglieder des CHŒUR ACCENTUS.
Die
Inszenierung war Peter MUSSBACH anvertraut. Sein Kollege Erich WONDER
baute eine ganz einfache Einheitskulisse: ein Hügel, dessen abfallende
Seiten teilweise aufgeklappt werden oder aufbrechen können. Ein paar glitzernde
Stores, Versatzstücke und Projektionen genügen um abwechselnd eine träumerische
oder gefahrvolle Stimmung hervorzurufen. Andrea SCHMIDT-FUTTERER zeichnete
für die phantasievollen Kostüme. Wie bereits erwähnt, sieht Perelà wie
M. Hulot aus. Marquise Oliva trägt ein hautenges weißes Kleid, mit bizarren
Auswüchsen an den Hüften. Die Königin trägt ein Kleid mit mehreren Reihen
goldener Rüschen, sehr beeindruckend, besonders wenn sie bei ihrem ersten
Auftritt auf Koturnen steht. Die zahlreichen kleinen Rollen (mehrere Sänger
singen zwei oder drei Rollen) tragen Masken, die zwischen feenhaft und
erschreckend sind. Die Hofschranzen und das Volk in grotesken schwarzen
Lederkleidungen kriechen wie Käfer über die Bühne. Alexander KOPPELMANN
unterstrich mit sehr passender Beleuchtung diese ungewöhnliche, oft beklemmende
Atmosphäre. Peter Mussbach nützte diese mysteriöse Ausstattung und leitete
die Sänger sehr gewollt mit fester Hand durch die einigermaßen chaotische
Handlung.
Ein
sehr faszinierendes Werk, das man unbedingt wieder hören muß. Bis Mitte
März noch in der Bastille, wird die Aufführung im Mai mehrmals in Montpellier
(dank einer Koproduktion) zu hören sein. Das rammelvolle Haus – sehr viel
Prominenz bei der Premiere – spendete stürmischen Beifall. wig.
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