“LES VÊPRES SICILIENNES"- 18. Juni 2003

Vor 300 Jahren mußte ein Künstler nach Italien, vor 200 Jahren nach Wien pilgern, und heute muß er nach Hollywood gehen um anerkannt zu werden. Im 19. Jahrhundert war Paris die obligate Pilgerstätte aller Musiker, die internationale Anerkennung suchten, von Lully bis Wagner. Manche sind sogar „hängen geblieben“, wie Cherubini, Rossini, Meyerbeer oder Offenbach. Verdi ließ das Pariser Spießrutenlaufen auch über sich ergehen, obwohl ihm das nicht sonderlich in den Kram paßte. Er kam mit dem berühmtesten Stückeschreiber seiner Zeit, Eugène Scribe, in Kontakt, der das Textbuch für „Les Vêpres Siciliennes“ verbrach – sicher nicht das beste in Verdis Werk. Die Schlußworte Procidas „Frappez toujours! Dieu choisira les siens!“ werden Sylvain de Montfort, bzw. dem Erzbischof von Toulouse während der Albigenserkriege zugeschrieben.

Schon wegen der Thematik, der französischen Besatzung Siziliens, gab es dauernd Streitereien zwischen den beiden. Dem italienischen Patrioten Verdi paßte das nicht unbedingt in seine Ideen, und Verdi fürchtete, daß das französische Publikum das Massaker am Ende der Oper als Provokation ansehen könnte. Da Verdi für Ballett nicht viel übrig hatte, war die Idee des obligaten halbstündigen Balletts (hier - zum Glück - auf das Minimum gekürzt) nicht gerade verlockenswert. Wagner hatte ja 15 Jahre vorher ähnliche Scherereien wegen des Balletts bei „Tannhäuser“.

Die Uraufführung (in französischer Sprache) fand am 13. Juni 1855 in der „Académie Impériale de Musique“ (Vorgängerin der Pariser Oper) statt, gefolgt von 80 Vorstellungen in den folgenden zehn Jahren. Die Oper wurde erst 1974 wieder in Paris (in der kürzeren italienischen Fassung) ein paar Jahre lang im Palais Garnier gespielt. Es war also erst die dritte Inszenierung eines der wichtigsten Werke der Mittelperiode Verdis. Allerdings fragt man sich nach der Notwendigkeit der französischen Fassung.

Die Geschichte des Aufstands der von den französischen Besatzern unterdrückten Sizilianer ist zeitlos und so alt wie die Menschheit selbst. Heute ist das Problem ebenso aktuell wie zu Verdis Zeit, und Beispiele dafür gibt es ja mehr als genug! Dies hat das Szene-Team, Regisseur Andrei SERBAN und Bühnenbildner und Kostümier Richard HUDSON, bewogen, die 1282 spielende historische Handlung in die Jetztzeit zu verlegen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, wurden die mit Maschinengewehren bewaffneten Besatzer in anonyme khakifarbene Uniformen gesteckt, Henri de Montfort trägt eine eher englische Uniform mit Tellermütze, während die Sizilianer alle schwarz gekleidet sind. Der verwundete Freiheitskämpfer Procida trägt seinen Arm in einer Schlinge. Da vor der Hochzeit von Henri und Hélène alle französische Fähnchen schwingen, verließen einige Puristen protestierend den Saal, denn Blau-Weiß-Rot wurde ja erst mit der Revolution die französische Fahne.

Das Bühnenbild war ganz in Weiß gehalten: in einer riesigen, weißen Mauer, eröffnete eine aufgebrochene Bresche den Blick auf das Meer und beherrschte die drei ersten Akte. Je nach Bedarf wurde in den verschiedenen Szenen die Bresche mehr oder weniger weit geöffnet. Im 4. Akt war auch die Bresche weit offen, aber durch eine riesige, weiße Stiege verstellt, die hinten zum Kerker hinauf führte. Im 5. Akt war die Stiege nach vorne gedreht, so daß die Sänger in der Mitte auftreten können. Herumliegende weiße Ziegelsteine zeigten von noch kürzlichen Kämpfen. Andrei Serban führt die Sänger effizient in diesem einfachen Rahmen durch die doch recht komplexe Handlung bis zur Schlußszene des Massakers, in der die Kirche explodiert! Vielleicht doch etwas zu viel. Matthew KRAUSE tauchte die Szene in gleißendem südländischem Licht.

James CONLON und das ORCHESTER DER PARISER OPER schwelgten bereits in der Ouvertüre in italianità. Conlon hielt die Verdische Kantilene den ganzen Abend perfekt durch, trotz der Langatmigkeit der französischen Version. Die CHÖRE unter Peter BURIAN waren viel beschäftigt, gaben ihr Bestes und waren auch darstellerisch immer präsent. Das zusammengestrichene Ballett war von Laurence FANON erfreulich, amüsant und nicht zu klassisch choreographiert worden.

Die große Überraschung des Abends war Sondra RADVANOVSKY. Die kaum bekannte junge Amerikanerin (sie war hier vor drei Jahren nur in einige Male in Gounods „Faust“ zu hören gewesen) konnte durch perfekte Stimmführung völlig überzeugen. Die gut tragende spinto Stimme ist bis in die extremen Höhen immer ausgeglichen und sehr ansprechend. Besonders der Bolero im letzten Akt „Merci, jeunes amies“ war sehr schwungvoll gesungen. Sie spielte auch die zwischen Liebe und Patriotismus zerrissene junge Frau sehr glaubhaft.

Weniger überzeugend war ihr Partner Marcello GIORDANI als Henri (Arrigo in der italienischen Fassung). Der sizilianische Tenor besitzt heute eines der schönsten Timbres und hat sich seit einiger Zeit auf französische Opern spezialisiert. Er hat aber seine Stimme derart strapaziert, daß er nur mehr in der Tiefe und unteren Mittellage den italienischen Schmelz zeigt. Nach dem katastrophalen Arnold (in „Guillaume Tell“) vor drei Monaten, kann man die selben Schäden an der Stimme feststellen: Distonieren und Quetschen in der Höhe und Unfähigkeit mezzavoce in der Mittellage zu singen. Sehr schade für die schöne Stimme! Da Giordani zwischen Wien und San Francisco so gut wie überall singt, kann man ihm ein rasches Ende seiner Karriere voraussagen, wenn er nicht baldigst seine Auftritte einschränkt.

Samuel Ramey hatte einen Monat vor der Premiere die Rolle des Procida zurück gelegt. Der „Ersatz“, der junge ukrainische Baß Vitalij KOWALJOW stellte einen prachtvollen Procida auf die Bühne, eine weitere dieser hinreißenden Stimmen aus dem Osten. Er wurde bereits nach „Et toi, Palerme“ im 2. Akt mit stürmischem Beifall gefeiert. Antony MICHAELS-MOORE ist am Höhepunkt seiner Kunst. Mit prachtvoller warmer Stimme sang er den Guy de Montfort mit durchdachter Intelligenz und differenzierter Ausdruckskraft. „Au sein de la puissance“, der großer Monolog im 3. Akt, war ein ganz großer Augenblick.

Louise CALLINAN (Ninetta), Luca LOMBARDO (Danieli), Jean-Luc MAURETTE (Mainfroid), Christopher FEL (Robert), Josep Miquel RIBOT (Béthune), Nicholas COURJAL (Vaudemont) und Mihajio ARSENSKI (Thibault) vervollständigten die Besetzung vorteilhaft.

Großer Beifall für Sänger und Dirigenten, Buh-Rufe für das Szene-Team. wig.