Vor
300 Jahren mußte ein Künstler nach Italien, vor 200 Jahren nach Wien pilgern,
und heute muß er nach Hollywood gehen um anerkannt zu werden. Im 19. Jahrhundert
war Paris die obligate Pilgerstätte aller Musiker, die internationale
Anerkennung suchten, von Lully bis Wagner. Manche sind sogar „hängen geblieben“,
wie Cherubini, Rossini, Meyerbeer oder Offenbach. Verdi ließ das Pariser
Spießrutenlaufen auch über sich ergehen, obwohl ihm das nicht sonderlich
in den Kram paßte. Er kam mit dem berühmtesten Stückeschreiber seiner
Zeit, Eugène Scribe, in Kontakt, der das Textbuch für „Les Vêpres Siciliennes“
verbrach – sicher nicht das beste in Verdis Werk. Die Schlußworte Procidas
„Frappez toujours! Dieu choisira les siens!“ werden Sylvain de Montfort,
bzw. dem Erzbischof von Toulouse während der Albigenserkriege zugeschrieben.
Schon
wegen der Thematik, der französischen Besatzung Siziliens, gab es dauernd
Streitereien zwischen den beiden. Dem italienischen Patrioten Verdi paßte
das nicht unbedingt in seine Ideen, und Verdi fürchtete, daß das französische
Publikum das Massaker am Ende der Oper als Provokation ansehen könnte.
Da Verdi für Ballett nicht viel übrig hatte, war die Idee des obligaten
halbstündigen Balletts (hier - zum Glück - auf das Minimum gekürzt) nicht
gerade verlockenswert. Wagner hatte ja 15 Jahre vorher ähnliche Scherereien
wegen des Balletts bei „Tannhäuser“.
Die
Uraufführung (in französischer Sprache) fand am 13. Juni 1855 in der „Académie
Impériale de Musique“ (Vorgängerin der Pariser Oper) statt, gefolgt von
80 Vorstellungen in den folgenden zehn Jahren. Die Oper wurde erst 1974
wieder in Paris (in der kürzeren italienischen Fassung) ein paar Jahre
lang im Palais Garnier gespielt. Es war also erst die dritte Inszenierung
eines der wichtigsten Werke der Mittelperiode Verdis. Allerdings fragt
man sich nach der Notwendigkeit der französischen Fassung.
Die
Geschichte des Aufstands der von den französischen Besatzern unterdrückten
Sizilianer ist zeitlos und so alt wie die Menschheit selbst. Heute ist
das Problem ebenso aktuell wie zu Verdis Zeit, und Beispiele dafür gibt
es ja mehr als genug! Dies hat das Szene-Team, Regisseur Andrei SERBAN
und Bühnenbildner und Kostümier Richard HUDSON, bewogen, die 1282 spielende
historische Handlung in die Jetztzeit zu verlegen. Um Mißverständnisse
zu vermeiden, wurden die mit Maschinengewehren bewaffneten Besatzer in
anonyme khakifarbene Uniformen gesteckt, Henri de Montfort trägt eine
eher englische Uniform mit Tellermütze, während die Sizilianer alle schwarz
gekleidet sind. Der verwundete Freiheitskämpfer Procida trägt seinen Arm
in einer Schlinge. Da vor der Hochzeit von Henri und Hélène alle französische
Fähnchen schwingen, verließen einige Puristen protestierend den Saal,
denn Blau-Weiß-Rot wurde ja erst mit der Revolution die französische Fahne.
Das
Bühnenbild war ganz in Weiß gehalten: in einer riesigen, weißen Mauer,
eröffnete eine aufgebrochene Bresche den Blick auf das Meer und beherrschte
die drei ersten Akte. Je nach Bedarf wurde in den verschiedenen Szenen
die Bresche mehr oder weniger weit geöffnet. Im 4. Akt war auch die Bresche
weit offen, aber durch eine riesige, weiße Stiege verstellt, die hinten
zum Kerker hinauf führte. Im 5. Akt war die Stiege nach vorne gedreht,
so daß die Sänger in der Mitte auftreten können. Herumliegende weiße Ziegelsteine
zeigten von noch kürzlichen Kämpfen. Andrei Serban führt die Sänger effizient
in diesem einfachen Rahmen durch die doch recht komplexe Handlung bis
zur Schlußszene des Massakers, in der die Kirche explodiert! Vielleicht
doch etwas zu viel. Matthew KRAUSE tauchte die Szene in gleißendem südländischem
Licht.
James
CONLON und das ORCHESTER DER PARISER OPER schwelgten bereits in der Ouvertüre
in italianità. Conlon hielt die Verdische Kantilene den ganzen Abend perfekt
durch, trotz der Langatmigkeit der französischen Version. Die CHÖRE unter
Peter BURIAN waren viel beschäftigt, gaben ihr Bestes und waren auch darstellerisch
immer präsent. Das zusammengestrichene Ballett war von Laurence FANON
erfreulich, amüsant und nicht zu klassisch choreographiert worden.
Die
große Überraschung des Abends war Sondra RADVANOVSKY. Die kaum bekannte
junge Amerikanerin (sie war hier vor drei Jahren nur in einige Male in
Gounods „Faust“ zu hören gewesen) konnte durch perfekte Stimmführung völlig
überzeugen. Die gut tragende spinto Stimme ist bis in die extremen Höhen
immer ausgeglichen und sehr ansprechend. Besonders der Bolero im letzten
Akt „Merci, jeunes amies“ war sehr schwungvoll gesungen. Sie spielte auch
die zwischen Liebe und Patriotismus zerrissene junge Frau sehr glaubhaft.
Weniger
überzeugend war ihr Partner Marcello GIORDANI als Henri (Arrigo in der
italienischen Fassung). Der sizilianische Tenor besitzt heute eines der
schönsten Timbres und hat sich seit einiger Zeit auf französische Opern
spezialisiert. Er hat aber seine Stimme derart strapaziert, daß er nur
mehr in der Tiefe und unteren Mittellage den italienischen Schmelz zeigt.
Nach dem katastrophalen Arnold (in „Guillaume Tell“) vor drei Monaten,
kann man die selben Schäden an der Stimme feststellen: Distonieren und
Quetschen in der Höhe und Unfähigkeit mezzavoce in der Mittellage zu singen.
Sehr schade für die schöne Stimme! Da Giordani zwischen Wien und San Francisco
so gut wie überall singt, kann man ihm ein rasches Ende seiner Karriere
voraussagen, wenn er nicht baldigst seine Auftritte einschränkt.
Samuel
Ramey hatte einen Monat vor der Premiere die Rolle des Procida zurück
gelegt. Der „Ersatz“, der junge ukrainische Baß Vitalij KOWALJOW stellte
einen prachtvollen Procida auf die Bühne, eine weitere dieser hinreißenden
Stimmen aus dem Osten. Er wurde bereits nach „Et toi, Palerme“ im 2. Akt
mit stürmischem Beifall gefeiert. Antony MICHAELS-MOORE ist am Höhepunkt
seiner Kunst. Mit prachtvoller warmer Stimme sang er den Guy de Montfort
mit durchdachter Intelligenz und differenzierter Ausdruckskraft. „Au sein
de la puissance“, der großer Monolog im 3. Akt, war ein ganz großer Augenblick.
Louise
CALLINAN (Ninetta), Luca LOMBARDO (Danieli), Jean-Luc MAURETTE (Mainfroid),
Christopher FEL (Robert), Josep Miquel RIBOT (Béthune), Nicholas COURJAL
(Vaudemont) und Mihajio ARSENSKI (Thibault) vervollständigten die Besetzung
vorteilhaft.
Großer
Beifall für Sänger und Dirigenten, Buh-Rufe für das Szene-Team. wig.
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